Hermann Mensing

Pop Life im Finanzzentrum


Mit der Schockstarre, die wechselweise tiefe Angst, Hoffnungslosigkeit und wieder unbändige Zuversicht generiert, fuhr ich mit einem Freund von Münster nach Gronau. Er wollte die Nebenstraßen und Wege kennenlernen, das kaum beschreibbare der münsterländischen Landschaft, das sanfte Grün, mein Westfalendschungel, das gewellte Land, die kleinen Buchenwälder, den blühenden Raps, die auf großen Strecken fast vollständige Abwesenheit unruhigen Verkehrs, das Leuchten des Löwenzahns auf Kuhweiden, die Ruhe, das Gleiten über schmale, oft kurvige Landwirtschaftswege, das Passieren der Dörfer und Bauernschaften, der Höfe, der schlaunschen Adelssitze, das alles kannte mein Freund nicht, obwohl er doch mittendrin geboren ist.

Das Überlandfahren dauert kaum 10 Minuten länger als der Weg über die unfallträchtige und hektische B54a.

Ich wurde erwartet. Vor der Sparkasse stand Frau M. Sie führte mich in ein Seitengebäude. Dort, im ersten Stock, war ein Sitzungssaal für die Lesung vorbereitet. Klassisches Interieur. Schwarze Ledersessel, gebürsteter Stahl, ein schwarzer Tisch, darauf Getränke für den Autor, sein Lesesessel. Zwölf Karten habe man im Vorfeld verkauft, sagte Frau M. ein wenig klamm, als sei sie Schuld daran, man wisse also nicht, wie viele Menschen tatsächlich kämen.

Ein schöner Frühlingsabend, der Mittwoch in Gronau, wer da zu einer Lesung in der Sparkasse geht, will es wissen. Die übrigen sitzen im Café schräg gegenüber. Bekannte Gesichter. Ja, die werden kommen, und als es auf 20:00 Uhr geht, ist der Sitzungssaal voll, dreißig, vierzig Menschen, vielleicht fünfzig, ich habe nicht durchgezählt, aber es müssen noch Extrastühle geholt werden.

Die Gäste werden bewirtet, es gibt Wasser, Orangensaft, kleine Süßigkeiten.

Ich sehe ein paar Gesichter meiner Vergangenheit. Mir fallen sogar deren Namen ein. Die frühe Freundin aus Holland mit meinem damals ärgsten Konkurrenten, dem Sohn des Pächters der FINA Tankstelle gleich hinter der Grenze, mit dem sie heute verheiratet ist. Die Nachbarin, die noch den kleinen Hermann kennt. H., der schon ganz gebeugt geht, obwohl er doch gerade so alt ist wie ich, der Buchhändler, der vor 28 Jahren meinen ersten, auf eigene Kosten gedruckten und gebundenen Gedichtband in Kommission nahm, der Stadtarchivar, der als Pensionist Lindenberg-Führungen durch Gronau anbietet, die und noch viele mehr sitzen da und sind gespannt. Gespannt bin ich auch.

Der Sparkassenchef begrüßt die Gäste, dann ist Showtime.

Ich eröffne mit einem Gedicht.

Als es endet, sage ich, dass man durchaus klatschen dürfe. Man klatscht. Offenbar ist man erfreut, dass es nicht bierernst wird und man Angst haben muss, Falsches zu sagen oder zu tun.

Meinen Plan, den Roman (wie in Wien) in geraffter Form vorzulesen, von hier nach dort und wieder zurück zu springen, einen Überblick zu bieten, lasse ich im Verlauf des ersten Kapitels fallen.
Ich nehme mir vor, so lange zu lesen, bis die ersten ermüdet vom Stuhl fallen.

Eine Stunde maximal, denke ich.

Hier und da verlasse ich den Text, erzähle Episoden, etwa, dass es mich freut, hier und da in meinen Romanen aufzutauchen, als Onkel Hermann etwa, ein Onkel des Protagonisten Paul, der in den Outbacks Australiens eine obskure Bar betreibt, man solle jedoch nicht glauben, dass ich das sei, das sei nur Finte, ähnlich wie in den Filmen von Alfred Hitchcock, in denen der Regisseur auch immer mal wieder durchs Bild huscht.

Erheiterung.
Ich lese ich weiter.
Einmal bitte ich wegen des fahlen Lichts um mehr Beleuchtung und bin schließlich gegen 21:00 Uhr bis zum Ende des 8. Kapitels gekommen.

Nicht schlecht, denke ich, das mache ich jetzt immer so.
Ich beende die Lesung, wie ich sie begonnen habe: mit einem Gedicht.
Allerdings ohne die Loops, die Sie hörten, falls Sie die Gedichte angeklickt haben.

Die Stimmung ist gut, erfreulich gut, bei den Vorbehalten, die ich gegen Erwachsene hege.
Grauwacke nannte Peter Rühmkorf sein Publikum einmal. Das Gefühl, dass Pop Life, erhielte er nur genügend Aufmerksamkeit in den Medien, erfolgreich sein könnte, bestätigt sich.

Viele sind begeistert. Aber noch ist keine Rezension in einer überregionalen Tageszeitung erschienen, wenngleich natürlich der WDR5 mit Autorengespräch und Kurzfassung des Romans schon etwas her macht.

Dennoch.
Die Printmedien müssen schreiben.

Es wird Zeit. Bald schon ist wieder Herbst, obwohl ja noch nicht einmal Sommer ist, aber das Literaturkarussell dreht wie entfesselt, und jeder, der nicht sofort wahrgenommen wird, läuft Gefahr, rauszufliegen.

Es werden sogar Fragen gestellt. Vernünftige Fragen.
Fragen zum Konstruktionsprinzip, Fragen zur Autobiografie (alles Lüge, sage ich, nur wer knüppeldick lügt, hat die Chance, der Wahrheit, falls es denn eine gibt, näher zu kommen), Fragen zur Mühe, die es macht, einen Roman zu schreiben und natürlich die Frage, wieso man überhaupt darauf kommt, Romane schreiben und woher man seine Ideen nimmt. Ein Held in Daniel Kehlmanns Episodenroman Ruhm beantwortet solche Fragen stoisch. In der Badewanne, sagte er. Auch auf dem Klo, denke ich.

Man muss, sage ich, vor Hoffnung verrückt sein.
Ich glaube, dass ist der Titel eines Liedes aus den 70ern, ich erinnere mich aber nicht mehr, wer es gesungen hat. - Hermann van Veen? - Nein, Wolf Biermann war's, ausgerechnet der, denn den mag ich nicht, aber der Titel ist gut, der sagt alles, denn das bin ich immer noch, gerade in diesen Tagen, die einen Menschen, hat er die Hoffnung nicht, leicht unterpflügen könnten, aber mich kriegen sie nicht.

Ich kämpfe, wir kämpfen, wir wissen, wofür wir kämpfen.

Als ich das Finanzzentrum verlasse, bin ich in der Gegenwart.
In der Gegenwart ist der Mensch glücklich. Aber dieses Glück dauert nicht lange.
Aber auch das ist nicht ungewöhnlich. Glück ist kein Dauerzustand.
Romane aber, Pop Life zum Beispiel, haben die Chance, ewig zu werden.
Zumindest als Belegexemplar in der Deutschen National Bibliothek.

Das stimmt froh.


home