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Hermann Mensing

Kropotkin hat Recht

 

16.10.2004  

11:45
Nicht ganz selbstverständlich, jetzt hier zu sitzen, auf das sich wegdrehende Friesland zu schauen, grau sich im Nichts verlierend, während Silbermöwen das Heck der Fähre umkreisen oder schreiend über ihm schweben, wissend, dass immer jemand ein Stück Brot wirft, um zu sehen, wie geschickt sie es fangen, wie sie's wegschnappen, wie sie ihm nachstürzen bis aufs Meer, kreischend, sich streitend.
Nicht selbstverständlich deshalb, weil sich etwa 20 Kilometer vor Leeuwarden der fünfte Gang meines Autos plötzlich auskuppelte. Als nicht weiter beachtenswert anfangs schulterzuckend berichtigt, beim zweiten Mal jedoch schon mit aufsteigender Sorge registriert.
Danach wiederholte sich dieses Auskuppeln.
Äußerlich ruhig, innerlich aber das Schlimmste befürchtend, hoffte ich, das Auto wenigsten bis zur Fähre zu bringen, was gelang. Fahren im vierten Gang war möglich, Schalten kein Problem. Lediglich der 5 Gang machte nicht mit. Ich versuchte eine Weile, ihn mit der Hand auf dem Schalthebel zu arretieren, aber das kostete Kraft.
Mittlerweile war ich mir sicher, dass da ein Problem war. Vielleicht könnte ein Inselmechaniker es richten. Ein neues Getriebe oder nur eine Frage der Justierung?

14:00
Es ist mild, aus dem armlangen Schornstein der Nachbarin quillt Rauch, Räder stehen vorm Haus, die Betten sind bezogen, wir haben eingekauft und Herr Visser, einer der Inselkönige, der neben den Fabers über ein weit verzweigtes Netz verschiedener Handwerkbetriebe gebietet, sagte, als ich wie jedes Jahr Räder bei ihm mietete, sein Sohn, der eine Autowerkstatt betreibt, könne mir bei meinem Getriebeproblem sicher helfen.
Ich werde sehen.
Eine SMS an den heute umziehenden Sohn ist abgesetzt, ein braunweißes Pony, ein Tinkerhorse, grast auf der Wiese hinterm Haus, Zeitungen sind da, Tee wurde gekocht, kleine Marzipan-Mandel-Kuchen gibt es dazu, die Knie zittern nicht mehr, wir sind angekommen. Und so der Herr will, dass ich morgen um 9:30 wach bin, werde ich seinem Gottesdienst in der Nederlandse Hervormde Kerk gleich um die Ecke besuchen. Amen.

15:25
Damit klar ist: ein Hering wurde bereits verzehrt, zart und mild, wie es ihn in Deutschland nirgendwo gibt. Und als ich noch darüber nachdachte, einen zweiten zu essen, brach Insellicht durch die Wolken, ich stand in der Sonne und begann freier zu atmen. Das Lauschen nach ungewohnten Geräuschen im Motor, die Furcht, jeden Augenblick könne das Auto stehenbleiben, uns den Dienst verweigern & wir stünden dann da im fremden Friesland, diese Furcht hatte meinen Adrenalinspiegel hochgepeitscht.
Jetzt aber, den Geschmack des niederländischen Sushi noch auf der Zunge, begann der Pegel zu sinken.
Ich beschloss also, es bei einem zu belassen, ich könnte ja morgen wieder und übermorgen und überübermorgen.
Stattdessen begann ich, unsere Rettung vorzubereiten. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, am nördlichen Rand des Dorfes, befindet sich die Werkstatt des Sohnes Visser. Zu dem also ging ich, bestellte Grüße des Vaters und schilderte mein Problem.
Man hörte mir aufmerksam zu und dann geschah, was eher selten geschieht. Ich hatte meine Sorge offenbar glaubhaft geschildert, denn mein Zuhörer, ein junger blonder Mann, lachte beruhigend und sagte, ich solle mich nicht sorgen, er werden sich des Problems annehmen, mein Ziel hätte ich ja nun erreicht, ich sei auf der Insel, und wenn ich das Auto am Montag brächte, müsste ich mir um die Rückreise keine Sorgen mehr machen.
So getröstet mit dem heiligen Segen eines Mechanikers, der offenbar wusste, wovon er sprach, entspannte ich. Ob er mich nach Hause fahren solle, fragte er noch. Ich bedankte mich, sagte, nein, das sei nicht nötig, ich sei mit der Fiets da.
Tot maandag, sagte er, tot ziens, sagte ich & dann fuhr ich davon, kaufte Max eine Fricandel Speciaal, eine Wurst, über deren fleischliche Zusammensetzung ich lieber nicht nachdenken will, wurde auch dort zuvorkommend und schnell bedient, fuhr nach Hause und erstattete Bericht, denn auch C. hatte die letzten Kilometer gelitten, wahrscheinlich mehr als ich, da sie von Autos noch weniger versteht.
Nun aber sitze ich im neuen Strandcafé.
Das alte, eher improvisiert und bei Sturmfluten leicht abzubauen, ist fort. Das neue steht ca. 100 Meter weiter südwestwärts - ein McDonalds ähnlicher Bau. Der Fortschritt scheint unaufhaltsam. Mir hat das alte Café besser gefallen, aber ich gehöre nicht zu denen, die das neue Ambiente animieren soll, Geld auszugeben. Ich nehme an, man hat beim Sunset Café eher an die immer häufiger auch hier auftauchenden Golfer gedacht.
Nun ja....
Ich war jedenfalls froh, dass ich im letzten Jahr noch im alten Café gefragt hatte, ob ich nicht zwei dieser äußerst formschönen Kaffeetassen kaufen könne und den Zuschlag erhalten hatte. Hier, am fortschrittlichen Ort in Nachmittagssonne und Inselwind, hätte ich mich vielleicht gar nicht getraut, und wenn, hätte der Computer des neuen Cafés sicher keinen Weg aufgezeigt, dem Inventar zwei Tassen zu einem annehmbaren Preis abzuzweigen.
Lenkdrachen knattern. Ich grüße die streikenden Opel Arbeiter, ich wünsche Glück und bete, dass dieser Streik Funke für weitere ist, möglichst europaweit.

15:55
Auf der Insel wird die Welt nachweisbar wieder rund. Das besänftigt.
Ein blonder 12jähriger Junge verlässt laut singend das Strandcafé.
Er singt die Hookline eines James Brown Klassikers:
I feel good ... dängedängedängedäng ... I feel good ... dängedängedängedäng ... so good ... boom boom ... so good ......

 

17.10.2004  

13:30
Das Kind schaut fern. Nicht, dass es etwas Spezielles sähe oder sehen wollte, es schaut einfach fern wie der Jäger durchs Glas schaut, hoffend, dass aus all dem Einerlei, das er wie seine Westentasche kennt, etwas tritt, das sich anzuschauen lohnt, schießen wird er es nicht.
Der Vater sitzt abseits und isst Käsetoast. Vor ihm hockt eine rote Katze und schaut ihn erwartungsvoll an. Rote Katzen sind männlich, weibliche Rote kämen nicht vor, sagt die Mutter, was der Vater bezweifelt. Zeigt der Vater dem Kater ein Stück Käse, steigt dessen Erregung. Hält er es ihm halbhoch hin, steigt der Kater auf die Hinterbeine und schlägt mit den Vorderpfoten danach. Dabei benimmt er sich unzivilisiert, und so kommt es, dass seine nadelspitzen Krallen sich im Ringfinger der linken Hand des Vaters verhaken. Der Vater flucht. Ein Tropfen Blut tritt aus.
Der Vater beschließt, seinen Elfriede Jelinek Gedächtnis Text bald zu beenden und sich auf die Bank vorm Haus zu setzen. Es ist nämlich ein ungewöhnlich milder Tag und Rotkehlchen singen variantenreich Lieder. So ein zierlicher Vogel. Schön ist das anzuschauen und anzuhören. Dazu scheint die Sonne und es summt, als wären noch Bienen unterwegs.
Der Vater war in der Kirche heute früh.
Schon immer hatte er das einmal tun wollen, noch nie hatte er es getan.
Sein Vater hatte auf Familienfeiern manchmal einen niederländischen Pastor persifliert. Dominee, sagt man hier. Der Vater des Vaters konnte das sehr gut, wie er auch Adolf Hitler überzeugend und zur Freude aller durch den Kakao ziehen konnte. Seither hatte also der Sohn die Sätze dieses Pastors im Ohr - Geef den Heere de Eere Zijns Naams.
Heute wollte er das live erleben.
Die Nederlandse Hervormde Kerk, die - glaube ich - mildeste Form des niederländischen Protestantismus, befindet sich keine hundert Meter von meinem Feriendomizil. C. also (jetzt nicht mehr: Die Mutter, Der Vater, Der Sohn ((der der Präzision halber der jüngste Sohn heißen müsste, denn der älteste, der auch liebend gern mitgekommen wäre, aber wegen seines Umzuges an diesem Wochenende nicht konnte)) ), sagte, sie wolle nicht mitkommen, sie würde sich zu sehr als Voyeur fühlen, schließlich wären weder sie noch ich Kirchgänger.
Auch ich hatte anfangs Skrupel, die sich aber schon beim Gang zur Kirche (Gänse rufen, wilde Canada Gänse, glaube ich, die auf den Wiesen vorm Deich weiden) als unbegründet erwiesen, denn die Kirchgänger waren nicht vereinzelte, ältere Menschen, protestantisch strenge, friesische Insulaner, sondern zahlreich und bunt gemischt, junge und alte.
Der Pastor war eine Pastorin.
Die Kirche ein Backsteinbau, vielleicht zweihundert Jahre alt in seiner jetzigen Form: ein klassisches Kirchenschiff mit ebenso geformten, hohen Fenstern, einem Dach aus taubenblauem Holz, einer Kanzel. Die Kirche steht leicht erhöht, wie of auf Inseln. Ringsum Grabsteine, meist halbrund geschnittene Granit- oder Marmortafeln.
Die Kirche war fast bis auf den letzten Platz gefüllt.
Und dann die Eröffnung. Die Gemeinde hatte bereits drei Lieder gesungen, als die Pastorin plötzlich im hinteren Mittelgang auftauchte, die Deichsel eines kleinen Wagens in der Hand, darauf graue Kartons mit der Aufschrift: Kinder. Eltern. Großeltern. Freunde etc. Die Pastorin versuchte, den Wagen zu ziehen, aber es gelang ihr nicht. Alter Trick, denn nun ruft sie Groß und Klein, Jung und Alt, ihr zu helfen, bis schließlich alle den Wagen bis vor den Altar bringen.
Dann das Übliche: Anrufungen, Bitten, die Einsicht, dass trotz aller Leiden jemand da ist, der zu uns hält.
Es gibt auf der neuen Björk CD ein Lied, das hierher gepasst hätte: Who is ist, who never lets me down...
Gegen halb elf ist der Gottesdienst vorüber.
Ich könnte jetzt noch eine Tasse Kaffee mit der Gemeinde trinken, aber so nah will ich nicht heran.
Morgenruhe überm Dorf, als ich die Kirche verlasse. Verhangen. Dunstig.
C. und ich machen einen Spaziergang und sehen zum ersten Mal, seit wir diese Insel zu unserer temporären Heimat gemacht haben, Seehunde in der Nähe des Strandes.

17:00
Man müsste, dachte ich, als C. und ich vorhin in mildem Sonnenlicht hinterm Deich am Watt entlang Richtung Ballumer Bucht radelten, die lebhafte Unterhaltung der Gänse, die Rufe der Schnepfen und Schlickläufer dokumentieren, diese beruhigende Weite mit Rufen als Audio-Datei mit nach Hause nehmen ins tiefe Westfalen und dort immer dann spielen, wenn das Fernweh zu groß wird oder der Alltag zu schwer.
Was die Faszination ausmacht, die uns Jahr für Jahr hierher bringt, weiß ich nicht.
Vielleicht reicht es, dass das Festland nur mit dem Schiff zu erreichen ist.
Vielleicht ist es auch der tiefe Schlaf, den man hier schläft, am tiefsten am ersten Tag, dem Tag der Ankunft.
Die Rufe der Gänse im Watt sind mit Hall unterlegt. Auch ein vielfaches Echo ist hörbar. Das eine hat mit der Weite zu tun, das andere mit der Anzahl der Tiere. Sehr fremd und vertraut klingt das, so dass man sitzen möchte und hören, während hinter einem die hässlichen Deichschafe (eine Sorte, die ich noch nirgendwo sonst gesehen habe) grasen und einen blöde beobachten.

18:45
Nach einem milden Tag steigt zur Dämmerung plötzlich Nebel aus den das Dorf umgebenden Wiesen. Wir hören Pferdegalopp und Schnauben, sehen nichts, aber wissen wohl; schauerlich wäre, wir wüssten nichts. Dann Schemen, da, ein Friese, einer dieser weltfremd schönen Schwarzen. Auch Kühe, widerkäuend, kräftig riechend. Das Licht dort im Nebel ist ein bisschen Kirchturm. Das kreisende Licht - natürlich der Leuchtturm.

 

18.10. 2004

Saß heute früh eine Weile am Watt. Ich hatte gehofft, Wildgänse beobachten und ihnen zuhören zu können, aber der große Schwarm, der dort gestern auf Nahrungssuche war, fand sich heute auf den feuchten Wiesen auf der anderen Seite des Deiches. Dort rupften sie Gras und beredeten sich in bewährter Manier.

Sprach mit unserem Vermieter über mein Schaltproblem. Er sagte, da gäbe es eigentlich nur zwei Ursachen. Verstand weder die eine noch die andere in ihrer mechanischen Tragweite, begriff aber, dass es a: ein lösbares Problem und b: ein nicht zu kompliziertes sei.

17:00
Sitze in der Abendsonne vorm Haus und hoffe, dass der Streit, in den der jüngste Sohn M. gestern Abend mit den Töchtern der Familie H. geriet, ein Streit um divergierende politische Ansichten, der ihn in Tränen auflöste und fassungslos sagen ließ: "Da bin ich nun mit denen groß geworden, ich liebe die, und die sind so ahnunslos blöde!", sich heute beigelegt hat.
Es ging um Israel und Palästina.
M., der einige Palästinenser kennt, ist radikal gegen Israel und seine Politik.
Ich bin das auch, man könnte also sagen, dass der Apfel nicht weit vom Stamm gefallen ist.
Die Töchter der Familie H. wollten das alles in etwas milderem Licht sehen. Man müsste doch..., unsere Vergangenheit verpflichte uns... etc. pp.
Nichts muss man.
Ansonsten übe ich die Kunst des Nichtstuns, eine der anspruchsvollsten, höchste Künste überhaupt.
Ein atemberaubender Regenbogen überm Meer vorhin und eine verstörende Denksportaufgabe: erklären Sie Ihrem Kind doch einmal, wieso Sie es gut und richtig finden, dass ein Tier sein Revier mit allen Mitteln verteidigt, jeden Fremden sofort vertreibt, Sie aber finden, dass Menschen, die ähnliches tun, in Ihren Augen faschistoide Idioten sind, eine Meinung, die auch der Autor teilt.

Tiere können nicht denken, führend Sie vielleicht als Erklärung an.
Tiere sind eben Tiere?
Ich fürchte, Sie müssten schon deutlicher werden.
PS.: Auch ich weiß es nicht, bin aber als Hippie entschuldigt, denn was die wollten, weiß schließlich jeder, oder? Richtig. FFE.
PPS.: Sie glauben also tatsächlich, dass das Denken uns von den übrigen Lebewesen unterscheidet? -

Ich schätze, Sie wissen, wozu Denker fähig sind? -

Gut.
Zur Erhellung vielleicht eine Frage, die Kropotkin, ein russischer Revolutionär und Anarchist, einmal stellte. Warum, fragte er, gibt es so wenig Falken und so viele Enten? Schließlich könne der Falke jagen, die Ente hingegen nur schwimmen und herumwatscheln? -
Die Ente, antwortete Kropotkin, habe dem Falken trotz ihrer ärmlichen biologischen Ausstattung etwas voraus, und das sei ihre Fähigkeit zur gegenseitigen Hilfe.
Meine Antwort/ihre/auf obige Denksportaufgabe könnte/sollte also lauten:
Nur der, der gegenseitige Hilfe übt, ist sozio-biologisch betrachtet unschlagbar.

 

19.10.2004

0:30
Eine sternklare Nacht, als wir gerade nach Hause gingen. Die Milchstraße in ihrer verwirrenden Vielfalt über uns. Atemberaubend. Wie schnell die Welt ursprünglich wird, wenn man die Festlandzivilisation ein paar Kilometer hinter sich lässt.

10:00
Der Nebel lichtet sich.
Was hier flötet, pfeift, ruft und rumort, habe ich schon tausendmal gesehen, habe es vielleicht sogar dann und wann erkannt, aber danach jedes Mal wieder vergessen. Ich habe wohl kein Talent, über Tiere Auskunft zu geben. Es reicht ja nicht einmal, mich selbst zu erklären.

12:10
Through the window of my mind I can see a rainy day.
Radio. Strandcafé Ballum.
Band: Cuby & the Blizzards. 1968 etwa.
Wir sind auf dem Weg nach Nes. Noch hat die Sonne den Nebel nicht auflösen können.

15:15
Vorhin fielen mir zwei der Lieder ein, die wir Sonntag während des Gottesdienstes sangen.
Das eine hieß: Wat hebben wij geneukt toen wij jong waren, Heer.
Das andere: Heere, geef mij een erektie.

16:25
Een toilet voor iedere mens, is wat ik voor de toekomst wens....
Fromme Wünsche sind das, auf meinem Sonnensitz vorm Haus.

Dass es mit der Klimakatastrophe ernster ist, als allgemein angenommen, mag dieses Beispiel verdeutlichen. Seit Jahrzehnten nehmen wir, wenn wir im Herbst hierher kommen, eine Flasche Rum mit, um nach langen Spaziergängen etwas zu haben, das uns innerlich wärmt. Schon seit Jahren aber nehmen wir eben jene Flasche Rum auch wieder mit nach Hause, weil es einfach nicht kalt genug war, um Rum zu trinken.

21:12
Nach maximal 15 gelaufenen Kilometern durch frühen Nebel & späteren Sonnenschein bleibt zum Abend nichts mehr als über moderne Unterhaltung auf MTV zu staunen. Junge Männer, die sich mit Beuteln voller Mayonnaise bewerfen, Koma-Saufen, sich vollkotzen und ihr Wohnmobil in einen Haufen Scheiße verwandeln. Dabei grölen und schreien sie ihr Motto heraus. Wir tun, was wir wollen, zu jeder Zeit. Damit hat der Sender kein Problem. Sobald aber jemand Fuck sagt, wird das mit einem Piep überblendet.
C. und ich drehen lieber noch eine kleine Runde durch das historische Dorf, dessen ältestes Haus 1616 erbaut wurde. Unseres um 1750. Eine Mondsichel hängt überm Watt, zunehmend, Lichtfinger tasten, die niederländische Luftwaffe übt in großer Höhe am sternenklaren Himmel überfallartigen Krieg.
Ich nehme an, auch hier geht es um die Freiheit. Gegen die - na Sie wissen schon, es sind ja immer dieselben.


20.10.2004

12:49
Alles mögliche erwartet der Nordseeinselurlauber in der Luft. Er ist keineswegs verstört, wenn er Gänse in Flugformation ziehen sieht oder Schwäne, Möwen, Enten und Fischreiher. Dann aber ist plötzlich ein flatterndes Rauschen über ihm, er schaut auf & schon ist es fort. Er überlegt, was das gewesen sein könnte. Als es wiederkehrt, stellt er überrascht fest, dass Tauben überm Dorf windschnelle Kreise ziehen, eine geräuschvolle Wolke, die scharfe Kurven fliegt und es grundlos eilig hat.
Ein Regentag heute.
Wir sind durch die Wiesen zum Wald spaziert & in mittlerer Runde zurück ins Dorf.
Ein Lesetag in größtmöglicher irdischer Ruhe.
Ich lese: Hans Ulrich Treichel. "Der Verlorene" "Der irdische Armor" und Uwe Timm "Rot"

Die niederländische Küche verfolgt mit minimalem Aufwand maximalen Genuss.
Dass so etwas schief geht, sollte nicht wundern.

17:10
Das Auto hat ein neues Getriebe. Glaube jedenfalls, dass Versnellingsbak Getriebe heißt.
Gelernt habe ich, dass die in aller Munde diskutierten Lohnkosten in Holland deutlich niedriger sind als bei uns.
Zu Hause kostet eine Arbeitsstunde ca. 70 Euro, hier nur 42.



21.10.2004

Gestern Abend gegen Acht plötzlich sich nähernder Trommelschlag. Eine Marching Band in Fantasieuniformen mit Hochhut, Tressen und Aufschlägen auf schwarzem Tuch inklusive Tambourmajor. Die Holländer lieben so etwas, manchmal marschieren sogar bunte Puschel schwingende Mädchen in kurzen Röckchen vorneweg. Das war gestern nicht so, gesternt marschierte hinter der Trommlersektion ein junger Mann, nicht uniformiert, was ihn heraus hob aus der Menge. Er trug eine Stange vor sich her, an der zwei große schwarze Lampen angebracht waren, altmodischen Schreibtischlampen ganz ähnlich. Sie spendeten Licht für die hinter ihm gehende Bläsersektion. Strom für das Licht bekam er aus einer im Handkarren transportierten Batterie.
Hinter der Kapelle zogen Eltern und Kinder mit Lampions durch die Dunkelheit.
Ließen sie passieren & machten unsere kleine nächtliche Runde durch die Wiesen zum Deich, überquerten ihn und wanderten wattseits bis zu den Bänken, saßen dort eine Weile, Wind wehte zügig, zum ersten Mal in dieser Woche, und jetzt, über Nacht, ist ein kräftiger kleiner Sturm daraus geworden, der Himmel ist blank gefegt, wundervoll.

21:50
Waren heute am nördlichen Strand, da, wo wir verstreut werden wollen.
Kräftiger Südwest wehte feinen Sand über die weite Fläche & wir stellten uns vor, mitzuwehen. Beruhigende Vorstellung. Die See schäumte, Kronen stiegen und zerfielen, ein wunderschöner Tag an frischer Luft.
Ich weiß jetzt, was eine Doopsgezinde Kirche ist, die es hier im Dorf neben der Hervormde Kerk und der Gereformerde Kerk gibt.
Mennoniten.
Wir waren in ihrer Kirche vorhin und hörten einem Chor zu. Rührend.
Klare, durchsichtige Fenster hat diese Kirche, keine Kanzel, eher ein erhöhtes Pulb unter der Orgelbühne, die an der Stirnseite ist. Es gibt auch keinen Altar. Freundliche Atmosphäre.
Wir wohnen jetzt zum vierten Mal mitten im Dorf, die Nachbarkatze Kareltje besucht uns jeden Morgen pünktlich halb elf, er ist halbwilder Kater, klein wie die meisten Inselkatzen, von denen es eine ganze Menge hier gibt.

 

22.10.2004

Unser Vermieter hat bestätigt, was ich sowieso glaubte. Der Versnellingsbak = wörtlich Beschleunigungsdose, ist ein Getriebe. Ein gebrauchtes Getriebe mit dreimonatiger Garantie. Ja, es ist ein gebrauchtes Getriebe, denn der Insulaner denkt praktisch: wozu, fragt er sich, braucht ein altes Auto ein nagelneues Getriebe? Ein nagelneues hätte meine noch zu erwartenden Einkünft bis Ende dieses Jahre zur Hälfte vernichtet. Ich habe Glück im Unglück gehabt und sogar noch gespart.
Ich habe 195 Euro für ein gebrauchtes Getriebe gezahlt, das neu ca. 1500 kosten würde. Ich habe für sieben Arbeitsstunden 294 Euro gezahlt, für vier Liter Getriebeöl € 39.20, insgesamt € 528,20.

Mittag an einem silbergrauen Freitag.
Schon Wehmut über die morgige Heimreise, aber auch Freude.
Müdigkeit.
Aßen gestern Chinesisch gestern.
Nicht einmal die halbwilden Inselkatzen mochten die mitgebrachten Reste der China Ente.

Der über den weiten Strand vorm Wind jagende Sand flattert wie Fahnen, fetzenweis flatternder Fahnensand. Auch möglich, dass es Hatifnatten sind, diese seltsamen Erscheinungen in Tove Janson Büchern.

Auf dem Sofa, lesend, dazu der summende, sich unter Dachpfannen reibende Wind, Stimmen, noch immer der silbergraue Himmel.


23.10.2004

6:35
Wind pfeift.
Das Reisefieber hat mich geweckt.
Sitze eingemummelt auf dem Sofa und lesen die letzten 20 Seiten Uwe Timm "Rot".

10:35
In zwei Stunden schiffen wir uns ein und verlassen die Insel. Haben Heineken Pils für die Söhne gekauft und werden gleich noch eine Runde durch das Dorf Nes laufen, Schafskäse kaufen & ungesalzene Erdnüsse, werden die Zeit vertreiben & mit Gottes Hilfe gegen 17:00 zu Hause sein.

Die Geschichte, die noch erzählt werden muss, ist eine Geschichte von freundlichen, hilfsbereiten Menschen, gestern, als ich nach Zuwasserlassen des Rettungsbootes, eines touristischen Großereignisses jedes Jahr, mein verschlossenes Fahrrad ramponiert vorfand. Jemand hatte sich am Schloss des Rades zu schaffen gemacht, vielleicht war alles aber auch viel harmloser, hatte nichts mit Vorsatz zu tun, sondern war nur ein Missgeschick, viele Räder, nebeneinander stehende Räder auf den Deichwiesen, die vielleicht umgestürzt waren, wobei mein Schloss derart beschädigt wurde, dass ich es nicht mehr aufschließen konnte.
Erst kümmerte sich eine Gruppe mehrerer in der Nähe stehender Frauen und ein Mann um mich.
Man hatte mich fluchend hantieren sehen, man fragte, was los sei, man bedauerte mich, der Mann ging in die Knie und versuchte sein Glück am Schloss, bekam es aber auch nicht auf. Ich hatte Holländisch mit ihnen gesprochen, mich aber mit "Wer sein Fahrrad liebt, der schiebt" von ihnen verabschiedet, was herzliches Gelächter hervorrief.
Nur wenig weiter - ich hatte beschlossen, das Rad den Weg durch die Wiesen nach Hause zu schieben, indem ich es hinten hob, stieß ich auf eine zweite Gruppe. Die hatte selbst ein Problem mit einem Rad und vermutete ähnlich wie ich Fremdeinwirkung.
Auch hier der Versuch, mir zu helfen, auch hier erfolglos.
Ich verabschiedete mich und machte mich auf den Weg. Hundert Meter weiter hielt einer dieser japanischer Offroader, ein junges Ehepaar mit zwei Kindern darin, selbst Urlauber, Niederländer. Die Frau stieg aus und bot mir an, mich und das Rad mitzunehmen.
Kropotkin hat Recht.
War gerührt und glücklich.

12:39
Die Fähre verlässt die Insel. Es ist Ebbe. Ich schaue aufs Watt.

12:51
Das Festland ist zwei Daumen breit grau mit Kirchtürmen, Dächern und Baumkronen. Davor in ganzer Breite die Gegenfähre. Überall fallen Sandbänke trocken. Kleine blonde Jungen mit diesen für Holländer typischen großen Schneidezähnen sausen über die Decks, hoch konzentriert, lärmend.

Ende der Aufzeichnungen.

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