Traumcreme

Während ich auf den Bus wartete, der mich aus Brighton bringen sollte, hatte ich einen Traum. Meine Mutter stand vorm Küchentisch und quirlte einen Berg Traumcreme. Ausnahmsweise nahm sie den Drei-Mix, den ich ihr zu Weihnachten geschenkt hatte.
"Soviel kann man nicht mit der Hand rühren", sagte sie.
"Ist es meine Lieblingssorte?" fragte ich.
"Natürlich. Du musst stark sein in London."
"Schütt ein bißchen Sahne dazu", sagte ich.
"Quatsch!" sagte sie. "Ist doch alles drin."
Mein Bus hielt. Ich stieg ein.
"Komm Junge. Iss, eh es schlecht wird!" sagte meine Mutter.
Ich nahm einen großen Löffel. Mayala Caramel war der Himmel auf Erden. Wie gut sie hinter die gerafften Stores dieser englischen Häuser paßte. Sie quoll aus allen Türen und überflutete den weiten englischen Rasen. Alles war voll von naturidentischen Aromastoffen. Sie hatten abenteuerliche Namen. Einer hieß E 104. Ein anderer E 110.
"Modifizierte Stärke!" sagte meine Mutter stolz. "Das ist genau das, was du brauchst. Ich meine, in deinem Alter muss man schon was verdrücken."
Als ich meinen Rucksack aus dem Bus hievte, spürte ich, daß die Creme meine Muskeln schwellen ließ. Meine Mutter winkte.
"War doch ne gute Idee mit dem Drei-Mix!" rief sie.
"Hab ich ja immer gesagt", sagte ich.
Da vorn war eine gute Stelle zum Trampen. Ich hatte mittlerweile ein Auge für so etwas. Kaum hatte ich den Arm ausgestreckt, hielt ein Morris. Genau so einer, wie der von Siv. Die Fahrerin hielt mir die Tür auf. Ich bückte mich.
"Wo soll's denn hingehn?" fragte sie. Ich wischte mir die letzten Reste Creme von den Lippen und sagte: "London."
"Crawley." antwortete sie.
"Ist auf dem halben Weg, oder?"
Sie nickte. Eine Stunde später saß ich in einem LKW, der nach London fuhr. Der Fahrer hatte behaarte Unterarme: rötliches, krauses Haar. Auf jeden Fingerrücken seiner linken Hand war ein Buchstabe tätowiert.
E.L.V.I.S.
Das erinnerte mich an die Zeit, als ich klein war. Während der LKW über die Straße rumpelte, sah ich eine Kirmes Bude. Sie stand vor dem Garten der Heißmangel. Eine Frau mit langem Rock schlug eine Trommel. Der stärkste Mann der Welt zeigte seine Muskeln. Ein Hypnotiseur versprach, jeden in ein Schwein zu verwandeln. Ein Ansager fragte, ob jemand auf die Bühne kommen wolle. Elvis kam rauf, der mit dem Blutschwamm. Seine Tolle war gut geölt, seine Koteletten reichten bis zur Kinnlade. Er grinste breit.
"Wenn du unserem Publikum etwas vortanzt, kriegst du freien Eintritt", sagte der Ansager.
Elvis nickte. Der Ansager ging zum Kassenhäuschen und sprach mit einer Blondine. Sie legte "Let's dance" von Chris Montez auf. Elvis beugte sich vornüber, ging ein wenig in die Knie, winkelte die Arme, und begann in den Hüften zu schwingen. Seine Knie flatterten, seine Arme ruderten, er sah aus wie ein angeschossener Vogel. Das Publikum pfiff. Elvis Tolle verrutschte. Er hörte mitten im Tanz auf, zog einen Stilkamm und kämmte sich.
Der LKW-Fahrer trommelte aufs Lenkrad.
"Aus Deutschland kommst du? - Hm. Siehst hungrig aus. Gibts da nicht genug zu essen?" Dann lachte er und kramte ein Butterbrot aus einer Dose. "Eat that! It's good for you."
Auf der Waterloo Bridge stieg ich aus. Mein Rucksack drückte, es war warm, aber ich war glücklich. London war laut, roch nach Abgasen und Fluß. Ab und an fragte ich nach dem Weg. Jeder antwortete höflich. Ein Mann in dunklem Anzug mit Schirm und Melone überquerte die Straße. Hier muss es sein! dachte ich. Hier irgendwo muss Fleetstreet sein. Der Mann winkte ein Taxi heran, stieg ein und fuhr davon.
Er sah aus, wie die Männer in meinen Englischbüchern.
Ich schüttelte mich. "Du bist in London!" sagte ich. "London, Mann! Dies ist London. Die Fleet Street. Und hinter irgendeinem dieser Fenster sitzt Linda."
Jetzt musste ich sie nur noch anrufen, dann hatte ich ein Bett und konnte so tun, als hätte ich schon immer in London gelebt.

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