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Wien

"Rund um die Burg" - Literaturfestival

19:55 regen fällt auf die festgesellschaft, die im schatten der votivkirche unter bäumen feiert, lautstark und lachend. blitzlichter zucken, unterwasserfotos werden gemacht, blitzlichter, während ich auf der fensterbank lehnend hinausschaue und höre, wie die tropfen auf dem verbleiten sims wienerisch schlagen. so fängt das an. müde bin ich, sehr müde. werde paradeisersalat mit mozarella und basilikum essen im café roth, werde bandnudeln verspeisen und ein achtel weißen dazu trinken und dann, später noch, werde ich sehen, ob auch ich dem wiener platzregen trotzen kann. 

20:35 es ist so, wie ich dachte. tony blair sagt, die engländer stünden zu ihrem wort, ohne wenn und aber. man sieht förmlich, wie sie sich darauf freuen, munition in die röhren ihrer mordmaschinen zu schieben. als hätten sie je damit aufgehört! sie fliegen doch ständig mit dem großen bruder nächtliche angriffe auf den irak. politikpolitikpolitik. 

20:43 in wien sein. auf den rooseveltplatz blicken. allein sein. in wien sein, wo der regen dick ist und ich ohne schirm bin. wenn ich nur erst zuende gegessen habe, wird es aufgehört haben und ich gehe ins jazzland. 

20:50 natürlich gibt es genug zu sehen und zu beschreiben. etwa diesen radfahrer, der die währinger  richtung schottentor jagt. sein orangefarbener regenumhang bläht sich wie ein fallschirm, aber will ich das wissen? 

20:55 ich lebe nur einmal, insofern werde ich zahlen, was immer es kostet. aufschrift auf einer straßenbahn: planlos? wir holen dich da raus.  www. falter. at.

21:50 im lesezelt neben dem burgtheater: was von leichen wird gelesen. ein zelt, durch das feuchte luft zieht und gemurmel. schaue mich nach gesichtern um, kenne keines. komm setz dich her, da ist dein platz. junges volk in dieser regennacht. immerhin: unter menschen. *** im zug bistro setzte ich mich neben diesen ungeschlachten mann. noch jung war er, knappe dreißig, aber schon grau, die augen hinter dioptrenstarken gläsern. da sitzt mein freund, sagt er. meint er den polizist, der gerade vorher aufgestanden war und mir den platz angeboten hatte?  ja, ja, sage ich, wenn er dann wiederkommt, steh ich schon auf. das hört er nicht mehr, denn er starrt vor sich her, starrt auf das land, das vorbeifliegt und verwischt und stößt plötzlich worte aus: braun braun braun etwa, oder wolken wolken wolken. explodiert fast dabei. später seh ich ihn nochmal. wieder dieses wort-stammeln: lok lok lok. *** wolfgang bauer liest derbes. *** franzobel liest noch derberes.  ***  anne bennent liest und otto lechner spielt akkordeon dazu. frau bennent lebt ihren text nicht. otto lechner wirkt todwund wie er da sitzt, blind, die augen hinter einer sonnenbrille, den 3/4 kahlen schädel, das strähnige lange blondhaar hinten, sein instrument nach gutdünken bearbeitend.  *** nasse füße auf dem heimweg. 

15.09.01

8:45 beim frühstück im café roth. so ein androgyner 16 jähriger serviert. unvergleichlich lässig wie er daher läuft, den linken arm angewinkelt, die finger der hand bis auf daumen, zeige- und mittelfinger gewinkelt,  erstere seltsam gespreizt nach vorn weisend. mittelblond, der kragen seines weißen hemdes zu weit, die schwarze fliege sitzt ungeschickt. eine rothaarige sehr hübsche auch. mein personal sozusagen im **** hotel, das ein sehr schönes bad hat, lachsfarben, beige, grün und silbrig die streichholzschachtelgroßen mosaiksteine. *** bin ich gespannt auf mein publikum? ja, bin ich. sehr. sah gestern kein zweites lesezelt.  *** und wieder gilt: jeder ist seine eigene karikatur. *** portugiesen, alles voll mit portugiesen. *** im literaturzelt. rilke wird gelesen, rilke und die briefe einer erika mitterer an ihn, den verehrten. *** streife ein wenig herum durch das samstägliche wien, das sich gerade aufmacht, zu erwachen. sah einen schlawiner auf dem kutschbock eines fiakker. (?) strizzi nennt man den schlawiner in wien.  *** 

11:50 ueberreuter hat einen stand vorm zelt, muß mich also nicht mehr mit frau k. vorm burgtheater treffen. im kinderzelt das theater heuschreck. was die mit bunten kostümen, langen nasen, gitarren und trommeln machen, schaffe ich nur mit text. gleich. wir werden ja sehn. *** sah colin powell auf cnn. er sagte sinngemäß, man habe alle operativen optionen, aber denkbar sei natürlich, dass man zunächst die diplomatischen kanäle nutze. *** 

12:30

In der Seitengängen des Lesezeltes steht die Firma. Vier Frauen, abgeordnet oder gekommen, weil Interesse besteht? M. weiß nicht, es ist ihm fast unheimlich. Die Damen beobachten ihn. Wird M. seinen Kopf aus der Schlinge ziehen? Wird er beweisen können, dass ihr Vertrauen in ihn gerechtfertigt ist? - M. wird sich Mühe geben. Die Bedingungen sind allerdings denkbar ungünstig. Das Zelt ist zugig, es herrscht ein Kommen und Gehen, die Zuhörer sind da, weil Samstag ist und die Langeweile vertrieben werden soll, es sind Mütter und ein paar Väter mit Kindern zwischen zwei und zwölf Jahren. Noch während Frau H. den Schriftsteller M. vorstellt, ihn als halben Holländer anpreist und als Percussionisten, schaut M. in die Runde. Er ist eintausend Kilometer gereist, um an dieser Veranstaltung teilzunehmen, er hat gut geschlafen, die Aufregung hat genügend Adrenalin freigesetzt, um Zweifel verstummen zu lassen, er ist bereit. Gleich gilt nur noch das gesprochene Wort. Er wird mit dem Mikrofon kämpfen, das ihn in seinen Bewegungen einschränkt, er wird Partner suchen, Blickkontakte: das Mädchen mit den schwarzen Haaren in der zweiten Reihe, der Junge vorn links, der Vater in der vorletzten Reihe, die beiden Jungen in der ersten Reihe außen rechts. Jeden einzelnen wird er ansprechen, und er wird in ihren Augen lesen können, dass auch bei dieser Unruhe ein Feuer entflammbar ist. Darauf setzt er, als man ihm das Wort gibt. Er hört noch, dass er sagt, er sei aufgeregt wie ein Sack Flöhe, er hört, wie er den ganz Kleinen rät, sich auf den Schoß ihrer Eltern zu setzen, man könne nie wissen, dann geht es los. "Ein seltsames Haus war das ...." Nur M. und die Worte. Ohne Pappnase, ohne Trommel, ohne Saxofon. Mit einfachen Sätzen gegen den Samstagmorgen, weit fort von zu Hause, von allen beobachtet. Nachher werden sie über ihn sprechen. Sie werden sagen, M. hat... - M. hat ... - M. wird.... - M. wird nichts von diesen Sätzen erfahren. M. hat eigene Sätze. Mehr hat er nicht. Die Aufregung legt sich. M. wird sicherer. In den Augen der Kinder steht, dass er Recht hat. Also hat sich die Reise gelohnt.

16:47 sitze auf einer bank auf dem leopoldsberg, schau auf die donau, die weinberge um grinzing und die diesige stadt, ein brunnen plätschert, ein kühler wind weht, kann, glaub ich, sogar den prater sehen. mit dem nächsten bus geht es zurück in die stadt. grinzing schenke ich mir und fahr stattdessen zum café landmann, esse eine kleinigkeit und sehe dann zu, dass ich karten für den nestroy bekommen. *** 

18:15 im café landmann. diesmal allein ohne, frau d., frau h., frau j., frau sch. und  habe eine karte für die burg. war billiger als eine tasse kaffee. 25 schilling für die galerie seite rechts, platz 9. *** in der straßenbahn gerade ein doppelgänger von dave dem saxophonisten. das gleiche gesicht, der gleiche akzent eines deutsch sprechenden engländers, beängstigend fast. war nur ein wenig dicker als dave. *** kellner heißen hier herr .... (vorname) heute mittag bediente uns ein herr rudolf. *** der wein ist zu süß. vorsicht. *** die ideale figur für den österreichischen kellner ist der buckel. dazu passt der schwarze anzug, das weiße hemd, die fliege. wie er da um die ecke schießt, ein tablett auf den fingerspitzen der gespreizten linken hand hoch überm kopf. servil. das ist wien. und schon wieder geistert meister e. fuchs durch das café, dessen bilder ich nicht sehr schätze und dessen funkelnde steine, die er an einem kettchen um den hals trägt, und die sicher echt oder unecht sind, ich äußerst albern finde. chris sagt, seine mützen wären scharf. finde ich auch nicht. muss aber dazu sagen, dass surrealisten mir sowieso ziemlich egal sind. *** herr reinhard bedient mich. auf meine frage, ob ich es noch schaffe könne, eine kleinigkeit zu essen, eh der nestroy begänne, nickt er und bedient mich flott. esse schinkenfleckerl.  *** nestroy: der zerrissene: eine art millowitsch-theater. tricks im bühnenbild, exotisch- bis einheimisch die musik, unterhaltsam, witzig, bissig und manchmal anstrengend, wenn man so in der galerie über der brüstung hängt und versucht zu sehen.  *** 

21:30  wieder im café landmann und die wirklichkeit ist so umfangreich, dass ich's kaum aufschreiben kann. und wenn ich nach plan vorginge?  1. vor der lesung. 1.1 treffe die verlagsfrauen 1.2 die moderatorin wird mir vorgestellt oder umgekehrt, man stellt mich ihr vor. 1.3 ICH LESE  2. nach der lesung 2.1 allein unter frauen im café landmann. 2.2 frau j. zahlt aus dem mensing-fond. 3. theater: mein gespräch über peymann und dessen "nathan der weise" inszenierung, die 30 schauspieler, die er von bochum mitbrachte, die blutige skulptur, die ein drittel des zuschauerraumes einnahm, die unappetitlichen kostüme etc. 3.1 die portrait galerie im foyer, in die nur die besten burgschauspieler aufgenommen werden. steigerung dieser ehre: das ehrengrab. auch das typisch österreich. 

 

18.09.01    9:26

fortsetzung wien: 

22:50 4. nach dem theater. teilte den tisch im landmann mit einem pensionierten juristen der polizei, der wegen der literaturnacht nach wien gekommen war, und festgestellt hatte, dass er einen tag zu spät war. da würde seine frau ihn aber auslachen! wir reden. so nach und nach stellt sich heraus, dass er schreibt. nicht beruflich, nein, nur so, für sich. sein letztes gedicht handelt von clintons beziehung zu monica lewinsky. er versprach, es mir zu schicken. bin gespannt. *** herr anton bedient uns, der bucklige herr anton. mitten in wien. könnte ihn auf der stelle zum helden einer geschichte machen und jeder hätte gelegenheit, sich ihn anzuschauen, wie er da um die ecke schwebt mit leicht vorgereckten kopf, der natürlich doppelt gereckt ausschaut, weil der buckel die perspektive verändert. - ja. könnte ich. lasse es aber. ich bin ja noch nicht einmal mit meinen schullesungen fertig. ***

00:30 jazzland. storyville heißt die band und genauso spielt sie. jammernde klarinette, durchgeschlagener beat der bassdrum, schlagbass und alles übliche. ich kann nicht recht darüber lachen. werde wohl besser gehen, schon wegen der beiden zigarrenraucher links neben mir. *** zurück immer der nase nach, vorbei an schummrigen kneipen. eine heisst hölle. ich zögere, gehe dann aber doch nicht hinein.

16.09.01  

9:25 sitze im ice, der erst in knapp einer stunde abfährt, habe einen sicheren platz bis kassel, bin nicht zu weit vom speisewagen und schätze, dass ich plus/minus null aus dieser ganzen sache herauskomme. gelesen, gegessen, gut geschlafen, also ab die post. ein junger mann, der wie ein pakistani aussieht, sagt zu mir, als 'dunkler mann' hätte er es im augenblick nicht so ganz leicht, aber er käme klar. *** wer für sich in anspruch nimmt, zivilisiert zu sein, indem er andere zu barbaren erklärt, kann so zivilisiert nicht sein. ***

11:30 herr reinhard, kellner im landmann, fragte mich gestern abend, als ich das café verlassen wollte, ob es mir im theater gefallen habe. hat also ein gutes auge, der mann. hatte mich ja erst drei stunden vorher zum ersten male gesehen. wünscht mir alles gute, hofft, dass wir uns vielleicht im nächsten jahr wiedersehen. profis, dieses herren reinhard, anton und wie sie alle heißen. ***

12:15 nach linz. vorm bier im zugbistro. warte auf meine kartoffelsuppe. draußen wird land vorbeigejagt. weiß nicht, wo sie all die kulissenschieber herkriegen. *** schön ist das, dieses gleiten durch landschaft, dabei essen, trinken und sich bewußt werden, dass man, was immer man tut und wie immer man auftritt, es nie zu mehr als zur darstellung seiner eigenen karikatur bringt. das erheitert am sonntag danach. ***

13:00  das rennen der regentropfen auf den scheiben setzt wieder ein. manchmal sind es einzelne, die sich zu strömen vereinen, ströme, die in unterschiedlichen geschwindigkeiten über das fenster fließen, mäandern, sich zu einem großen vereinen und am entgegengesetzten ende der scheibe verschwinden. man könnten wetten abschließen, wenn man wettsüchtig wäre. ***

13:35 nach passau. grüß gott. personalwechsel. die fahrscheine bitte. *** ausweiskontrolle, die alle angeht, nur ich werde ausgespart. das sind die vorteile des alters. hatte das auch schon genau anders herum. gehörte lange zu den bevorzugten individuen der fahnder. wie sich die zeiten ändern! dabei ist mein kopf heute radikaler als damals. aber das sehen sie nicht, die herren in grün. ***

15:30 nürnberg. ab regensburg bis hierher saß eine junge frau neben mir, die ein gothic magazin las. kamen ins gespräch. scherzte über weiß geschminkte gesichter, spinnweben im haar und fledermäuse am revers. sie fand das lustig. nannte mir ein paar gruppen, die sie gern hört: das ich - lakrimosa - silke bishop. als sie ausstieg, wünschte ich ihr schöne totengedanktage im november. sie lachte und freute sich. ***

18:10 völlig überfüllter zug richtung hamm. durch kluges stehen und frühen einstieg in den bistrowagen hatte ich mir strategische vorteile erarbeitet, denn ich war schon im wagen, als die nach kassel reisenden noch in schlangen ausstiegen und die ab kassel reisenden noch auf dem bahnsteig warteten. habe also einen sitzplatz. ***

18:30 klares, farbenspendendes licht um warburg. vorhin, gleich nach kassel, machte das bordeaux-farbene erde. drei vier äcker weiter war das schon wieder vorbei. *** mein gegenüber trägt eine schwarze jeans, schwarzes jeans-hemd, schwarze lederweste und ein unterhemd mit schwachen v-ausschnitt und einem bündchen mit feinen ornament-stickereien. sagt man so??? - so eines mit verzierungen??? - liest eric ambler. trägt schwarze camper-boots und kommt aus dresden. *** links neben mir sitzt ein monströs fettes mädchen. ihre knie sind bei all dem fett kaum auszumachen. alles quillt und ist dick wie elefantenbein.  *** habe mich gleich nach lippstadt mit einem bier ins 1. klasse abteil vorm bistro gesetzt und wurde gleich darauf kontrolliert. fürchtete schon, mich rechtfertigen zu müssen, aber der schaffner hatte keine beanstandungen. "halbe stunde noch" sagt ein mann schräg gegenüber zu seiner lesenden frau. die nickt nur. wenn der wüsste. könnte auch "keine sekunde mehr" heißen. 

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