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Hermann Mensing

Winterreise

28.12.04  15:30 Café Il Lido, Egmond

Die Sonne scheint, vom Schnee ist nur eine kleine Erinnerung an weißes Holland und vorsichtiges Fahren geblieben. Je weiter wir westwärts kamen, desto flüchtiger wurde er. In Bergen aan Zee fiel dichter, dunkler Regen. Vom Balkon unseres Zimmers geht der Blick nach Süden über das Dünenreservat und das Meer, die Zee: graue Nordsee, Mordsee.
Wir setzen SMS ab, ziehen uns um und gehen hinunter zum Strand.
Nordwestlicher Wind mit Zugabe aus Regen und Hagel poliert Gesichter blau, aber wir laufen ja südwärts.
Ich werfe kreisenden Möwen Brot zu, sie fangen geschickt. Eine begleitet uns, für uns rückwärts fliegend, tatsächlich aber liegt sie nur auf dem von vorn kommenden Wind und beobachtet jede unserer Bewegungen. Sie bleibt so lange, dass wir schon glauben, sie will sich uns anschließen. Dann aber ist das Brot aufgebraucht und sie fliegt davon.

Über See tanzen mausgraue Regenvorhänge, auf feuchtem Sand wandern Luftblasen, die erst beim zweiten Hinsehen die Behauptung, schnell fliehendes Getier zu sein, aufgeben.
Das auflaufende Wasser zieht Spiegel übern Strand, Tableaus für den Himmel, kopfüber, berauschend. Bald ein erster Riss in den Wolken, und jetzt, hier im Lido, einem Cafe mit Stühlen und Tischen aus Pinienholz, großen Kronleuchtern und einem Boden aus Eiche, an einem Tisch unterm Fenster bei Kaffee und Kakao, schauen wir aufs wilde Meer und die tiefer sinkende Sonne.
Haben die Reise hinter uns und den Weg zurück zum Hotel noch vor uns.

PS. Im Gepäck zwei Flaschen Rotwein, ein wenig von Huberts liebevoll gezogenem Hanf, Bob Dylan: Chronicles, Peter Rühmkorf: Tabu II und Jonathan Franzen: Die 27te Stadt.

18:00

Tiefes Dunkel, alles Land und Meer fort, nicht einmal mehr Himmel, hier und da nur ein Licht in den Dünen, der Rest ist Geräusch: wütender Wind und aufschäumende Wellen. Müde nach der Fahrt durch ostwärts ziehenden Winter. Die Veluwe, ein Naturschutzgebiet, Kiefern und Heide, von Ost nach West zwanzig Kilometer tief, im Süden bis Arnheim, im Nordosten bis Nijverdaal reichend, weiß verzaubert. Nicht das Holland, das jeder sich denkt.

29.12.04  10:05

Aßen gestern im Restaurant Meyer. Innendekorateure hatten Tage gebraucht, jeden Winkel mit Lametta, Girlanden, Weihnachtsmännern, Sternen und Glocken zu verschönen. Auch draußen lichterte es weihnachtlich. Die Kroketten waren hervorragend, der Rest leidlich.
Duckten durch die schwarze Nacht zurück zum Hotel. Der Mond illuminierte eine Weihnachtsmannwolke, trat dann verschmitzt lächelnd hervor und grüßte. Wir grüßten zurück, setzten uns auf unseren Hotelbalkon, tranken Wein und hängten uns auf die Hanfleine. War aber von den Bildern des Tages zu voll, um noch transzendieren zu können.

Der gestrige Heimweg von Egmond nach Bergen aan Zee wurde durch eine hoch auflaufende Flut erschwert. Mussten hier und da in die Dünen ausweichen, um nicht nasse Füsse zu bekommen. Eine Welle erwischte mich dennoch. Dachte da an die Katastrophe und überlegte, ob ich etwas tun könnte. C. verlor ihre Handschuhe. Nicht viel und leicht zu verschmerzen. Wir leben im Glück.

Ich löse das Weihnachtsgeschenk meines jüngsten Sohnes, eine Cohiba, in Rauch auf, schaue über Dünen und Meer, das sich über Nacht beruhigt hat, und wünsche mir nichts. Es reicht, hier zu sein, oder? - Nein, vielleicht nicht, denn seit über einer Woche denke ich darüber nach, einen Roman, dessen Titel ich schon vor fünf Jahren notierte, nun auch zu schrieben. Ich schriebe, falls ich begänne, aus der Perspektive eines reinkarnierten Wellensittichs. Ich glaube, dass das kein Roman für Kinder würde. Vielleicht ist meine Zeit als Autor für Kinderbücher abgelaufen.

Der Spülsaum lag voller nicht zu rekonstruierender Geschichten. Jede wäre ein paar Sätze wert. Sah ein Paar intakte Gummistiefel, den linken zuerst, hundert Meter weiter den rechten. Was in Asien liegt, mag ich mir nicht vorstellen.

13:10

Wir sind den Weg durch die Dünen gegangen, hoffend, C.'s Handschuhe wiederzufinden, fanden sie jedoch nicht. Der Strand ist heute Promenade für viele. Mehr Menschen, als an Sommertagen spazieren gehen, was sicher damit zu tun hat, dass sie sich im Sommer lieber sonnen. Der Himmel ist blank gefegt, das Meer nur noch mild bewegt, wir sitzen auf der Sonnenterasse des Lido und genießen staunend diesen 29. Dezember 2004. Nach der Reise durch Schnee und Graupel hätten wir wohl nur davon träumen können. Jetzt aber wärmt uns die Sonne und die Zeit verstreicht still. Wir sagen dem Jahr adé und sind gespannt auf das Neue.

16:10

Knabbere unseren letzten Haferkeks. Übern Himmel zieht sich ein Riss zwischen Wolken. Zum äußersten Südwesten ist er eine helle Schattierung, dann wird daraus ein deutlicherer Lichtdurchlass, schließlich ein Spalt blaues All. So spannt er sich quer übers Land. Ob es sich um Wolkenbänke handelt, die sich schließlich aufeinander schieben, oder um in ihrer Konsistenz nicht wohl gesonnene, die auseinander treiben, weiß ich nicht, aber sie zu sehen ist schön und beruhigend.
Krähen schwärmen , der Meer verliert sich im Horizont, bald geht die Sonne und dieser Tag am Meer ist vorbei. Vielleicht fahren wir morgen nach Amsterdam.

19:45

Bergen binnen, das Dorf hinter den Dünen, liegt in seltsamem Dunkel. Als hätte man die Straßenbeleuchtung gedimt, um dem Weihnachtslicht mehr Geltung zu verschaffen. Wir haben eine Runde gedreht, haben durch Restaurantfenster geschaut und Speisekarten studiert, und dann haben wir uns entschieden.
Wir betreten den Kleinen Prins. Wir sind die ersten Gäste, während andere Restaurants schon berstend voll waren. Bedeutet das, dass der Koch des kleinen Prinz so schlecht ist, oder sind mir eine mutige Minderheit, die nur Bestes will und es nicht bezahlen kann?
Haben Sie reserviert? fragt man, als wir eintreten.
Wir verneinen. Wäre das nötig gewesen?
Der Kellner nickt. Aber für zwei ist noch Platz.
Was soll ich sagen...
Wir dinieren weit über unsere Verhältnisse. Wir essen Dinge, deren Namen ich bislang nicht einmal kannte. Pompoensoep: Kürbissuppe. Waterzoii, was eigentlich Wasserzeug heißt: Meeresfrüchte nach Tagesfang in cremiger, weißer Sauce, ganz leicht und köstlich, dazu geviertelte, ungeschält gebratene Rosmarin-Kartoffeln, Rübchen, Blumenkohl und grüne Bohnen al dente, Hertenmedaillons: Hirsch. Créme Brullee. Tarte Tatin, Birne auf einem untertellergroßen Blätterteigtörtchen, dazu eine Zimtparfait.
Ja, ja.

Mittwoch 30.12.04   9:30

Es ist neblig. Wind heult durchs Haus und reibt sich, wo er nur kann. Ich lese Dylan. Je mehr ich von seinem Leben erfahre, je mehr fürchte ich, dass es mir mit ihm letztendlich geht, wie es mir mit Wilhelm Genazino ging, nachdem ich ihn lesen gehört hatte. Der Zauber, das vermeintliche Geheimnis, löst sich in Alltag auf. Zurück bleibt ein Mann mit Frau und fünf Kindern, der eine 20 Meter lange Yacht durch die Karibik steuert, der sich eine Harley kauft, wenn er sie sieht, und fortwährend über die Unwägbarkeiten des Musik-Geschäftes schwadroniert. Nicht, dass das uninteressant wäre, aber ich glaube, "his Bobness" hätte besser daran getan, mir seine ganze Wahrheit zu verschweigen. Künstler sind Projektionsflächen für die Träume anderer. Wahrheit hat jeder selbst.

10:05

Wir haben gefrühstückt, gepackt und machen uns auf den Weg. Zunächst geht es nach Haarlem.

12:15

Als hätte er nur auf C. gewartet, hing ein camelhaar-farbener Wintermantel vor einem Geschäft. Der Preis war unglaublich. Ich ging hinein und fragte, ob es sich vielleicht um einen Irrtum handle. Nein, sagte man. Nein. Das Geschäft wurde von einem Paar unseres Alters geführt, Ex- oder immer noch Hippies, eine bescheidene Existenz, die Art Holländer, die wir immer schon liebten.
C. zog den Mantel an und war hingerissen. Ich auch.
Es ist ein 2nd Hand Mantel eines renommierten Designers, noch nicht einmal die zugenähten Taschen waren geöffnet worden, ein Fehlkauf vielleicht, ein Mantel, von dem C. schon immer geträumt hat, Michelle Pfeiffer trüge so einen in irgendeinem Film, sagte sie, und nun, da wir begonnen haben, über unsere Verhältnisse zu leben, ist er plötzlich da und bezahlbar.
Ist dies also der Höhepunkt unserer Reise? -
Vielleicht. Auf jeden Fall aber addiert sich mit ihm wieder eine Geschichte zu all den ungeklärten anderen.
Woher kommt dieser Mantel?
Wo haben sich die beiden, die das Geschäft führen, kennengelernt?
Woher stammt all das Strandgut?
Wem gehörte unsere Katze, eh sie zu uns kam?
Was kann ich tun, wenn so viele Menschen in so grausame Not geraten?

31.12.04  16:15

Hier die Antwort: Flutlichter

Es trifft immer die anderen. Jeden Tag, irgendwo. Sie schauen zu, setzen Fett an und haben Freizeit. Sie sind entsetzt, aber dann sind Sie auch froh, dass es nicht Sie getroffen hat. Sie hocken da, wo es so gemütlich ist, Sie wissen nicht, was Sie tun könnten, doch dann haben Sie eine Idee.
Sie lassen sich ein Gedicht schreiben.
Sie nennen uns ihren Namen, ihre Adresse, Sie nennen ein Thema und garantieren auf Ehre und Gewissen, dass Sie mindestens 10 Euro für dieses Gedicht zahlen, 10 Euro, eingezahlt auf das Konto Aktion Deutschland hilft.
Wenn Sie uns das garantieren, erhalten Sie ein signiertes Gedicht, nur für Sie.

Diese Aktion wird im Literaturcafé stattfinden.
Schauen Sie morgen oder übermorgen unter http://www.literaturcafe.de nach und beteiligen Sie sich.

PS. Der Titel Flutlichter ist von Ursula Bremer.

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