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Hermann Mensing

Briefe an Annette von Droste Hülshoff

Brief 62

Liebe Annette,

gestern, der längste Tag des Jahres lag schon wieder vier Tage zurück, war turbulent und heiß wie in der Wüste. Ich hatte vier Gästeführungen in Folge, und bei der dritten wusste ich nicht mehr, ob ich eine der Geschichten, die ich erzähle, schon erzählt hatte, oder nur glaubte, sie erzählt zu haben, weil ich sie in der zweiten Führung erzählt hatte. Habe ich Ihnen schon von Straube und der Droste erzählt, sagte ich, von der Intrige der Haxthausener gegen sie? - Nein? - Dann erzähle ich es Ihnen. Eine Führung dauert zwischen 30 und 60 Minuten. Ich rede also sehr viel, und da ich jede Führung an den Interessen und der Aufgeschlossenheit meiner Gäste ausrichte, werden die Geschichte jedesmal ein klein wenig anders erzählt. Das macht die Sache spannender, und du weißt ja, dass ich das kann, du bist ja mein Schatten, in dessen Name ich als Kollege über deine Literatur sprechen kann, was zu Erkenntnissen führt, zu denen die Literaturwissenschaft nicht gelangt, weil sie von den Abgründen und der Mühsal des Dichtens nur vom Hörensagen, nicht aber von eigenem Erleben weiß. D
u würdest dich wundern, was sie aus deinen Texten schlußfolgert. Unterm Westfälischen Himmel fragte mich ein Gast, ob ich wisse, woher das Sprichwort "eine Nachricht verbreite sich wie ein Lauffeuer" stamme. Ich wusste das nicht. Er hat es mir erklärt. Die Feuer in den Kaminen deiner Zeit, auch der im Rüschhaus, brannten Tag und Nacht. Wenn es dennoch einmal ausging, musste eine Magd los zum Nachbarn, um dort Feuer zu holen. Dabei wurde natürlich getratscht. Ich habe schon eine handvoll solch Annekdorten von meinen Gästen erfahren. Sie geben meiner Erzählung über dich und das Rüschhaus Farbe, machen sie erlebbarer. Ich versuche dich nicht als literarisches Ereignis darzustellen, sondern als dichtenden Mensch. Auf deinem Sekretär im Schneckenhäuschen liegt ein aufgeschlagenes Buch (ich glaube, Gedichte) und ein Gänsekiel. Vor Wochen erklärte mir ein Gast, dass ein Rechtshänder eine Feder des linken Gänseflügels brauche, der Linkshänder eine des rechten. Er nahm die Rechtshänderfeder in die Hand. Sehen Sie, sagte er. Ja, ich sah es, mit dem falschen Gänselkiel störten die Federn beim Schreiben. Wegen der Hitze habe ich mich mit den Gästen gestern immer sofort in die kühle Diele verzogen. Dort kann man am großen Tisch sitzen und in Ruhe erzählen. Im Rüschhaus geht es in diesen Tagen drunter und drüber. Das Droste-Festival "Wo ist Allmende" wird vorbereitet, Führungen finden in dieser Woche nicht statt. Am Abend stellte ich bei der Abrechnung fest, dass zu wenig Geld in meiner Kasse war. Uns Gästführern fehlt das Verständnis für die wirtschaftliche Seite der Droste-Stiftung, ständig gibt es Neuerungen, die schlecht oder gar nicht kommunziert werden. Ich war also ratlos und bin heute morgen zum Rüschhaus gefahren, um meine Abrechnung noch einmal zu prüfen. Eine Angestellte der Droste-Stiftung war vor Ort, die mir erklären konnte, was ich fasch gemacht hatte. Die Welt ist kompliziert, Annette. Laut Umfragen glaubt 62 Prozent der Bevölkerung nicht mehr an das, was unsere Regierenden tun oder sagen. Das beunruhigt mich fast noch mehr, als die Kriege, von denen ich dir erzählte. Mir kommt es vor, als bräuchten wir eine Renaissance der Begriffe, der humanistischen Überzeugungen, ein Umdenken auf allen Ebenen. Die Kirche hat als moralische Instanz längst ausgedient. Gott ist tot. Wie nie zuvor in der Geschichte regiert das neoliberale Kapital und richtet alles nach seinem Hauptinteresse, dem Profit. Wer also könnte das Umdenken für alle glaubhaft initiieren? Wir Dichter mit der Hoffnungsmaschine? Auch da habe ich Zweifel. Heute ist es kühler. Ans Dichten war in den letzten Wochen zu denken. Die Hitze hat jeden Gedanken verschmolzen. Ich schlafe schlecht, weil es kaum abkühlt in der Nacht, deshalb werde ich heute nur liegen und lesen und schlummern und dann und wann einen Kaffee trinken. Ich bin ein alter Dichter, ich darf das. Vielleicht fällt mir ja ein Gedicht ein.

Herzlich

Hermann

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