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Hermann Mensing

Die erste große Rechnung seit Elvis Presley

Frau Meier hatte Kaffee gekocht. Ein Lehrling aus dem dritten hatte seine Prüfung bestanden und gab einen aus. Hinkelmann war nicht da. Nach dem Schützenfest der Brüderschaft Sankt Augustin hatte er seinen Wagen volltrunken in eine Böschung gebohrt. Er war mit einer leichten Gehirnerschütterung davongekommen. Aber das Beste an diesem Morgen war: der Prokurist Matz war auch außer Haus. Blieben nur wir Lehrlinge und die Sekretärinnen.

Ich war gerade vom Zoll zurückgekommen.
Sehr erfolgreich war ich nicht gewesen. Es ging um Ersatzteile für tschechische Autos, Schraube für Schraube musste identifiziert und einem Paragraphen in den umfangreichen Regelwerken des Zolls zugeordnet werden.
Ich warf zwei Stückchen Zucker in meinen Kaffee und rührte um.
Der Lehrling erzählte aufgeregt, wie der Prüfer versucht hatte, ihn reinzulegen. Es war Herr König. Ich kannte ihn von der Berufsschule. Er war streng, aber korrekt, und ich glaubte nicht, dass er es darauf anlegte, jemanden reinzulegen, deshalb schenkte ich dem Bericht keine Aufmerksamkeit.

Mein Blick fiel auf das Feuilleton einer Zeitung.
Beatles kommen zu einer Blitz Tournee! stand da.
Ich erstarrte, trank ich einen Schluck Kaffee, bekleckerte die Verzollungspapiere, fluchte, zog das Telefon zu mir und wählte die Nummer des Reisebüros und der Lotto-Annahmestelle Gärtner. Herr Gärtner war ein krummbeiniger Mann. In jungen Jahren hatte er mit meinem Vater Fußball gespielt. Als ich ihn fragte, ob ich bei ihm eine Karte für die Beatles bestellen können, fragte er, ob sich das bei dem Preis denn wohl lohne.
Wie sollte ich ihm das erklären?
Es gab Dinge, die verstand man nur, wenn man im richtigen Alter war.
Zwei Tage später hielt ich die Karte in Händen.
Bravo Beatles Blitz Tournee
stand darauf.

Im Büro lachte man über mich.
"Mensing!" sagten sie. "Du bist doch verrückt."
"Natürlich." antwortete ich. Mehr als ein halbes Monatsgehalt war für die Karte inklusive Reise nach Essen draufgegangen, aber das war es mir wert. Ich hätte auch mehr bezahlt.
Noch zwei Wochen. Noch eine Woche. Noch einen Tag.
Der Sonderzug kam aus dem Norden und war randvoll mit Gleichgesinnten. Alle waren aufgekratzt. Eine Touropa Hostesse drückte mir ein Fresspaket in die Hand und wünschte mir eine angenehme Reise.
"Danke!" sagte ich und suchte mir einen Platz. Das also sind meine Leute, dachte ich. Einer kaute eine pappige Frikadelle, einer zerrte am sehnigen Fleisch seines Koteletts, Cola-Dosen zischten.
Der Zug setzte sich in Bewegung. Als ich die Augen schloss, konnte ich nicht mehr mit Sicherheit sagen, in welcher Gesellschaft ich mich befand. Es hätten genauso Kegelbrüder sein können. Oder Speditionskaufleute auf Betriebsfahrt.

In Gedanken war ich längst in der Halle.
Ich war ist eingekreist von der Zukunft der Chimäre Deutschland, die an diesem Abend nur eins im Kopf hatte. Niemand dachte an die Zukunft.
Im Büro nannte man mich Mensing. Bei einigen klang das freundlich, bei anderen nicht. Ich empfand es als Auszeichnung. Für mich war Mensing ein geschützter Markenartikel, das Synonym für verzweifelte Suche, die Gleichung für Flucht.
Mensing würde heute die Beatles sehen.
Hermann Mensing: Ururenkel eines aus dem thüringischen stammenden Kirchenmusikers und einer Gastwirtstochter aus der Grafschaft. Urenkel eines preußischen Staatsdieners und seiner Frau. Ich hatte ihre Herkunft vergessen. Sowieso waren mir Verwandtschaftsverhältnisse ein Rätsel. Enkel einer aus dem niederländischen Friesland stammenden Frau und eines Kötter-Sohnes. Sohn eines Fußballers und einer feinen Bürgertochter.
Was sonst könnte ich mir auf die Fahne schreiben?
Ah, jetzt fällt es mir ein: Erbe des Holocaust.

Die Grugahalle vibrierte.
Jeder der Anwesenden glaubte, dass sich die Welt zum Besseren wendet.
Jeder hatte hochgeschraubte Erwartungen.
Jeder würde später einmal vor den kühlen Fassaden der Postmoderne (was war das eigentlich?) stehen und sich fragen, wieso alles Geschäft ist, eiskaltes Geschäft.
Da bin ich wieder: Meister der Binsenweisheiten.
Gleich werden die Beatles über mich hereinbrechen.
Schenkt man John Lennon Glauben, war es mit ihnen vorbei, seit Brian Epstein sie in Anzüge steckte und Pilzköpfe aus ihnen machte. Die Beatles waren die erste große Rechnung seit Elvis Presley. Sie machte Paul McCartney zum Millionär und John Lennon zur Leiche.
Die Beatles. Drei Herren mit Leiche.

Ich verlor zunehmend Kontur.
Die Masse saugte mich auf, verschmolz mich und die anderen in einen Gedanken. Möglich, dass es ein Fieber war. Möglich, dass ein kühler Kopf jetzt noch den Überblick hielt, aber mein Kopf war nicht kühl. Mein Kopf war westfälisch. Mein Vater sagte oft, dass man mir meinen Dickkopf eigentlich aus dem Leib prügeln müsste. Aber er wusste, dass das bei mir nichts nutzt.
Das Licht verlosch.
Die Fiebernden halluzinierten.
Sie glaubten, dass niemand sie je wieder trennt. Niemals.
Meine Damen und Herren: Die Beatles!
Ich war nicht mehr bei mir. Ich starrte auf die Vorhänge hinter der Bühne. Mit jedem Luftzug, der sie bewegte, ging ein Raunen los.
Die Beatles? - Nein. Die Rattles.
Die Beatles? - Nein. Cliff Bennet & the Rebel Rousers.
Die Beatles? - Nein. Peter & Gordon. Aber immerhin. Sie sangen einen McCartney Song. Er hieß Woman und war wunderschön.
Woman, do you love me...
Ich dachte an Ineke, Yoke und all die andern. Woman, do you need me ...
Das Lied war so schön, daß mir Tränen in die Augen stiegen.
Aber dann. Ein Schrei. Ein ohrenbetäubendes Kreischen, genau das, was man von Beatles Konzerten gewohnt war. Die Zukunft der Republik, die nicht ahnte, dass sie gemolken wurde, kreischte wie am Spieß. Die Beatles verbeugten sich: vier adrett aussehende junge Männer, die gar nicht verstehen konnten, dass man soviel Aufhebens um sie macht. Aber sie hatten sich abgefunden. Seit Jahren schon waren sie es gewöhnt, gegen das Geschrei ihrer Fans anzuspielen.

Leibhaftige Beatles standen da oben.
Rock n Roll Music war ihr erstes Lied.
Im Grunde war es unwichtig, was da gesungen wurde.
Hauptsache, einer sang. Hauptsache, einer, der so berühmt war, sang vor.
Die Masse war reif, geknetet zu werden.
Lennon knetete für die Revolution, McCartney für den Glauben an das Liebenswerte im Mann, Starr für die zu kurz Gekommenen, Halbblinden, Lahmen und Krummbeinigen, Harrison war sehr entrückt und sehr schüchtern, noch nicht Fisch, noch nicht Fleisch, doch man ahnte, dass er fürs Nirvana die Saiten wrang.
Es ging über die Stuhlreihen nach vorn, aber die Welle hatte nicht den Druck, den man aus England gewohnt war. Halbherziger war das. Die Rock 'n Roller, die für Bill Haley Säle in Trümmer legten, hatten nur Verachtung für dieses Spielart des Rock 'n Roll übrig. Er war ihnen zu fein. Nichts für die Arbeiterklasse. Mehr was für die Mittelschichtkinder der Republik. Ich war atemlos. Ich hatte die erste Welle davonziehen lassen, hockte auf der Stuhllehne und sang jeden Ton mit. Ich kannte meine Lieder. Ohne diese Lieder hätte ich nie so gut Englisch gelernt. Ohne diese Lieder gäbe es mich vielleicht gar nicht. Ohne diese Lieder sähe die Welt anders aus.

Die Beatles spielten She's a woman.
Ich sah, wie die Ordner versuchten, Ordnung zu schaffen, aber sie schafften es nicht. Ihre Ordnerbinden verrutschten. Jeder dieser Verrückten wollte an ihre Ehre. Aber ganz so schlimm, wie es die Ordner sahen, war es nicht. Die Kinder legten ja nichts in Stücke. Sie, die Avantgarde der käuflichen Revolution, waren nur ein wenig aus der Fasson geratene Konsumenten. Die Marktbeobachter wussten, dass die Welle ihrer Begeisterung, die um die Welt schwappte, eine Geldwelle war. Prächtiges Geld. Haufenweise Geld. Der Traum von der Revolution, Lennons Revolution, war längst verkauft. Die Revolutionäre, denen das Haar über den Kragen quoll und die alles taten, Väter und Mütter zu ängstigen, hatten keine Chance.
Links vor der Bühne ( ich wollte das zuerst gar nicht glauben) hatte sich ein freier Platz aufgetan. Außer mir schien es niemand zu sehen. Links vor der Bühne stand ein kastenähnliches Etwas, vielleicht eine Lautsprecherbox (vergessen, ich habe vergessen, du hast vergessen etc. wie man alles vergisst) und niemand saß drauf. Alles knäulte vor der Bühne. Die Ordnungskräfte hatten sich dort zusammengezogen. Ihr Auftrag: rettet den Saal und die Beatles.

Ich sprang vom Stuhl und hastete aus der 27ten Reihe nach vorn. Die Beatles spielten Baby's in Black. Bei Reihe 14 stellte sich mir ein Ordner in der Weg. Ich rannte Zickzack, doch das war nicht mehr nötig. Reihe 13 rüstete zum Sturm. Der Ordner wendete sich ab, ich erreichte den Kasten und kletterte hinauf. Jetzt konnte ich George in die Augen sehen und mit Ringo Breaks trommeln. Paul lächelte sein Schweinchen-Schlau-Lächeln und John, außen rechts, winkte mir zu. "Mensch, Hermann, schön dich zu sehn. Komm nachher hinter die Bühne. Ich hab' da ein Lied und wüsste gern, ob's dir gefällt."
Ich nickte. Während um mich der Sturm tobte (I feel fine), war ich der Fels. Ich konnte gar nicht anders. Ab und an riss ich die Arme hoch, ein Ertrinkender, der in Gitarrenakkorden ersäuft. Und dann, eh ich begriff, dass ich im Himmel war und da nie wieder weg wollte, war alles vorbei. Die Vier schwenkten die Arme. Sie verbeugten sich höflich. Weg waren sie.

Ich saß da und heulte. Nur zögernd ließ ich mich von den aus der Halle strömenden Menschen mitziehen, ich dachte nicht, im Himmel denkt niemand, vielleicht ahnte ich, dass der Himmel Nichtdenken bedeutet, der Himmel ist frei von diesem Übel und die Hölle ist da, wo das Denken anfängt.
Auf dem Vorplatz der Halle atmete ich auf. Hatte ich die Beatles gesehen? Ja. Kein Zweifel. Ich hatte sie gesehen. Sie hatten nur für mich gespielt. Jeder Akkord galt mir.
"The next song is for our friend from Westfalia, Herman Mensing."
Ich blickte zu den verhängten Fenstern der Fassade. Hinter den Fenstern waren Garderoben. Da waren die Beatles. Sie tranken Champagner und die hübschesten Mädchen warteten schon. Da sollte ich sein. John hatte doch gesagt, dass er mir was vorspielen wolle.
"Ich muss zu John Lennon", sagte ich zu einem Ordner am Eingang.
"Das will jeder", antwortete er lachend. Dann sah er mein verheultes Gesicht, schüttelte den Kopf, als sei ich sein Sohn, klopfte mir auf die Schulter und sagte: "Nimms nicht so tragisch Junge, einmal isses nu mal vorbei."
"Das sagt jeder", sagte ich.
Der Ordner sah mich ratlos an. "Geh man." sagte er. "Geh man nach Hause."


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