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Gent

Am Morgen des 3. August 1967 (es war viertel vor eins) stand ich mutterseelenallein an einer Autobahnauffahrt. Ich fürchtete mich ein wenig. Heinz war Soldat, also war ich auf eigene Faust allein losgetrampt.Ich stellte meinen Rucksack hinter die Leitplanke und kramte ein Butterbrot aus der Seitentasche. Gent lag hinter mir: Lichter in ein paar mittelalterlich anmutenden Straßen und Leuchtreklamen, auf denen Stella Artois stand. Die Nacht war kühl und ein wenig feucht. Bis Ostende war es nicht mehr weit, aber es war wenig Verkehr. Während ich mein Brot aß, überlegte ich, ob ich unter einen Busch kriechen sollte, um den Morgen abzuwarten.

Nein. Ich durfte jetzt nicht den Mut verlieren. Die Reise hatte ja gerade erst begonnen. Ich stopfte meine Pfeife, zündete sie an, paffte dicken Rauch in die Nacht und starrte in die Richtung, aus der die Autos kommen mussten, die mich nach Ostende bringen sollten. Ich hatte schon oft an Straßen gestanden, auch nachts, aber das hier war etwas anderes. Das hier war Belgien und ich wusste nicht einmal, was Stella Artois bedeutet. Belgien hatte einen König. Er hieß Baudoin und seine Frau hieß Fabiola, das wusste ich. In den Illustrierten, die meine Mutter las, stand viel über die beiden. Man sagte, sie wären ein glückliches Paar.

Die Peitschenleuchten entlang der Autobahn verbreiteten orangefarbenes Licht. Es war ein bisschen unheimlich, vor allem, weil weit und breit kein Auto zu sehen war. Um mich abzulenken, zog ich mein Tagebuch hervor (mein erstes Tagebuch) und überlegte, wie ich anfangen sollte. Sicher war der erste Satz wichtig. Vielleicht würde ich später einmal darüber lachen, aber hier, mitten zwischen Wiesen und der im Dunkel versinkenden Stadt, würde der erste Satz mich beruhigen, davon war ich überzeugt. Es sollte kein gewöhnlicher Satz sein. Es sollte so etwas sein wie das Programm dieses Sommers. Ein Satz, der jedem klar machte, dass hier einer unterwegs war, der sich etwas vorgenommen hatte.
I' coming! dachte ich.
Es kam mir vor wie ein ein Zauberspruch, der die bösen Mächte davon überzeugte, dassich mich nicht überrumpeln lassen würde, ganz gleich, was kam.
I'm coming.
Eigentlich zeichnete ich diesen Satz. Seit Rubber Soul hatte sich eine Schrift eingebürgert, die aus jedem Buchstaben ein aufgeblasenes kleines Kunstwerk machte.

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