Januar 2004                                               www.hermann-mensing.de                               

mensing literatur

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Do 1.01.2004 14:52

Drei Jungen gehen vorüber. Einer trägt eine Plastiktüte. Darin stecken Reste von in den Himmel gejagten Raketen. "Da, mit Zündschnüre!" ruft einer aufgeregt und alle hoffen, dass das ein Blindgänger ist, der sich nachträglich zünden lässt. Bei Regen und Schnee bin ich früher mit unseren Söhnen losgezogen, um Beute zu machen. Sie lagerte dann eine Weile auf unserem Schrank, eh wir sie in den Müll werfen konnten.
Die Straßen sind übersät. Der Himmel ist grau. Temperaturen um den Gefrierpunkt.

Heute Nacht hing ein halber Mond, den gelben Bauch träg zur Erde gewandt, am Himmel, dass ich zunächst erschrak und befürchtete, da sei etwas verkehrt, denn ich konnte mich nicht erinnern, einen Mond je so gesehen zu haben.

Wir kamen aus der Stadt. Hatten in der Apostelkirche ein Orgelkonzert gehört, Bach, einen englischen Komponisten, dessen Namen ich vergessen habe (Pachelbel??) und noch einmal Bach.
Ich hatte vorher noch nie ein Orgelkonzert gehört. Orgeln sind träge Instrumente. Die harmonische Grundierung dröhnt wie ein brüllender Flugzeugmotor, und darüber die Variationen verschiedener Themen.
Mir hat das nicht gefallen, und als ich in einem Stück klar und deutlich das Thema von "Alle meine Entchen" hörte, war es mit meiner Fassung vorbei.

Ich fühlte mich plötzlich wie ein Pubertierender, hatte Lachschübe, C., die neben mir saß, konnte auch kaum noch an sich halten, und ich schwöre, wäre das Thema, das nun schon zum dritten oder vierten Male unsere Fassung erschütterte, noch ein einziges Mal erklungen, man hätte uns abgeführt, schreiend vor Lachen hätten wir die bis zum letzten Platz gefüllte Kirche unter tötenden Blicken verlassen müssen, aber wir hatten Glück, der Organist hatte ein Einsehen.

Eine gute Stunde saßen wir so und hörten zu, aber nichts hat uns ergriffen, weder hatten wir das Gefühl, dass es swingt, so wie jede Musik swingen kann, atmen, noch gefiel uns der Sound dieser Orgel, die in den hohen Registern eher quäkend klang. Wenn es dann aber scholl und dröhnte, tat mir der Organist Leid.

Wir verließen die Kirche gegen 23 Uhr und durchquerten die Stadt.
Überall Menschen, junge vor allem, auf dem Weg zum Domplatz.
Seit ein paar Jahren ist es Tradition, dass sie sich dort treffen, um gemeinsam das neue Jahr zu feiern.
Vorsicht! Kracher an jeder Ecke.

In einem chinesischen Imbiss am Ludgeri-Platz saß eine fern-östliche Gesellschaft beisammen. Ein ernster Asiat um die vierzig stand mit einem Mikrofon in der Hand und sang Karaoke.
Junge Türken in weißen Anzügen, weißen Schuhen und Muscle-Shirts aus Silberlamé mit blonden Freundinnen im Café Extrablatt. Einsame Roma vor Cocktails.

Am Aasee setzten wir uns auf eine Bank, tranken schluckweise den in einem silbernen Flachmann mitgebrachten schottischen Whisky, schauten uns das Feuerwerk über der Stadt an und gingen dann langsam nach Hause. Der Himmel riss auf, ich dachte an meinen Vater, meine Mutter, meine Tante, wir dachten an alle Toten der letzten Jahre, wir prosteten ihnen zu, wir liefen, tranken einen Schluck, im Wald hinterm Zoo kreischten die Fischreiher, aus den Bäumen am Weg flogen von uns aus dem Schlaf geschreckte Tauben auf, wir spürten die Müdigkeit herauf kriechen, den letzten Schluck Whisky nahmen wir auf der Autobahnbrücke, schauten hinab auf die verwaisten Trasse, weit und breit kein Auto in dieser Nacht.

Nun ist mausgrauer Tag, das neue Jahr mag kommen, wir sind bereit.

 

17:01

Der ein oder andere wird mein besinnliches Gedicht zum Jahresende gelesen haben.
Hier sein Pendant zum Jahresbeginn, gestiftet von Malte Bremer.

Das besinnliche Gedicht zum Jahresanfang

Meister M. liegt duhn im Bette,
Krankenschwestern um ihn her
sorgen, dass vor allem hätte
er viel Ruhe. Um so mehr

ärgert ihn, dass immer wieder
der Verband gewechselt wird,
und gesalbt, gepudert; nicht mehr
pralles Leben ihn verwirrt.

Nicht mal Speisen wern kredenzet,
denn der Ausgang ist versperrt.
Diese Lust, nach der er lechzet,
ist fürs ganze Jahr verwehrt.

Und so hängt er trist am Tropfe,
dümpelt mürrisch vor sich hin.
Hoffnung war in seinem Kopfe -
jetzt ist alles ohne Sinn.

 

Fr 2.01.04 12:44

So saß man und vertrödelte die Feiertage.
So saß man und verdaute still.
So etwas ist nicht leicht, kann aber schön sein.


 

Sa 3.01.04 11:12

Oft kommt er um diese Zeit. Fährt mit seinem großen Auto vor, steigt aus, seine neue Frau ebenfalls, dann gehen sie die Einfahrt hoch zur Haustür und klingeln. Die Tür wird geöffnet. Seine Ex-Frau lebt hier, die Ex und die gemeinsamen Töchter. Die wollen sie abholen. Für das Wochenende zu Viert.
Die Ex hat diese Abholzeremonie so organisiert, dass weder Ex-Mann noch neue Frau ihre Türschwelle übertreten dürfen. Sie stehen dort also ganz gleich bei welchem Wetter und müssen warten, bis die Töchter ihre Siebensachen beisammen haben. Dann treten die beiden Mädchen über die Schwelle und werden von der neuen Frau überschwänglich begrüßt.
Es ist nicht ganz klar, ob die Mädchen das gut finden oder nicht, aus der Entfernung hat es eher etwas von An-Sich-Reißen, eine Demonstration des guten Willens. Seltsam aufgetakelt ist diese neue Frau, hochbraun wie weiland ein Wienerwald-Hendl, steht da und versucht Glück zu demonstrieren, während er die Sachen der Kinder ins Auto packt.

Seine erste Frau ist bei dieser Transaktion nie zu sehen, sie hält sich zurück.
Ganz gleich, wie groß die zu verladenen Gepäckstücke sind, nie haben ihr Ex und dessen Neue je die Türschwelle übertreten. Das gleiche Spiel achtundvierzig Stunden später, wenn der Ex und die Neue die Kinder zurückbringen. Entspannte Fröhlichkeit demonstrierend. Die Neue legt immer ein Pfund zu viel auf, scheint immer ein wenig vorlaut, ist sowieso Hassobjekt und wird von uns, die wir diesen Vorgang regelmäßig beobachten und beurteilen dürfen, in einer möglichen Skala von eins bis sechs auf dem hintersten der hinteren Plätze angesiedelt.

Nach Weihnachten schien die Lage plötzlich umzukippen.
Gerade noch hatten wir uns gefreut, sie wieder vor der Türschwelle wie angewurzelt warten zu sehen, als sie mit einem Riesenkarton, in dem sich vielleicht ein Fernseher befand, tatsächlich die Türschwelle überschritten. Schon wollten wir eingreifen, wollten fluchtend herüber rufen, das gehe aber nicht, sie hätten kein Recht etc. p.p., als sie auch schon wieder auf dem Treppenabsatz erschienen.

Aufatmend registrierten wir die Rückkehr zum Status Quo, nahmen die Neue unter Feuer, versicherten der Ex unsere Anteilnahme und tasteten den Mann auf Anzeichen nervöser Zuckungen ab, die doch in so einem Falle früher oder später sein Nervenkostüm zerrütten müssten.

Sollte sich Neues ergeben, werden wir sofort Meldung erstatten.

16:45

Zum Orgelkonzert am Silversterabend noch folgender Nachtrag: zu Anfang hörten wir Choräle von Pachelbel. Dem folgte weihnachtliches Liedgut von Louis-Claude Daquin. (Alle meine Entchen???). Zum Abschluss spielte der Kantor das Präludium und die Fuge Es-Dur von Johann Sebastian Bach.

 

So 4.01.04 13:30

Einer der Männer stand bei der Gärtnerei. Er trug schwarze Jeans, einen schwarzen Rollkragenpullover, eine schwarze Wollmütze und eine schwarze Lederjacke mit einem Aufnäher. Wir konnten nicht erkennen, was darauf abgebildet war. Der Mann sprach in ein Funkgerät. Terroristenabwehr! dachten wir, GSG 9, so etwas.
Aber wieso gerade an dieser Ecke, an der außer einer Gärtnerei, dem Hof eines Puffs, eines Gebrauchtwagenhändlers und dem Kotten eines Psychiaters nichts weiter ist? -

Der nächste Mann stand keine fünfhundert Meter weiter. Auf der anderen Seite der Autobahn. Direkt an der Zufahrt zur Raststätte. Er war genauso gekleidet wie der erste.
Martialisch! dachten wir. Oder einfach nur einer der Ledermänner, die sich manchmal im Wald hinter der Raststätte treffen, um sich zum Unmut der Bürger Roxels in den Arsch zu ficken? -

Keine zweihundert Meter weiter, da, wo der Rohrbusch auf den Nottulner Landweg trifft, stand schließlich ein dritter Mann. Bei ihm konnten wir erkennen, dass auf dem Aufnäher etwas stand, irgendein Spruch (weiß auf schwarz), den wir beim Vorüberfahren jedoch nicht entziffern konnten.

Ich war ganz sicher, dass es zwischen den drei Männer eine Verbindung gab.
Dass sie mit offiziellen Organen etwas zu tun hatten, schloss ich mittlerweile jedoch aus. Eher hätte ich sie einem privaten Security-Unternehmen zugeordnet.
Halb-legale Gewaltbereite.
Aber wen schützten sie oder sollten sie schützen?
Hatten Sie einen Auftrag? Wenn ja, welchen?
Sollte ich die Polizei anrufen? Sollte ihr von meiner Beoachtung berichten?

Ich erinnerte mich daran, dass wir vor vielleicht einem Jahr einmal abends nach Hause kamen und auf dem Garagenhof stand ein Mann, der sich höchst merkwürdig verhielt. Ich fragte ihn, was er auf unserem Hof zu suchen habe und er sagte, er sei Polizist. Er beobachte jemanden. Man fahnde.
Ich ließ mir seinen Ausweis zeigen. Er war tatsächlich Polizist.
Da wurde mir klar, dass in meinem Kaff mehr los ist, als man tagsüber glaubt.
Sollte ich also besser anrufen? -
Ich tat es nicht. Aber wir rätselten noch eine Weile darüber, was es mit den schwarzen Männern auf sich hatte?

 

Mo 5.01.04 11:00

Wartete vor der Ampel zur Blauen Taverne Richtung Ortsausgang, als Roger auftauchte. Hupte, öffnete die Tür, rief ihm ein frohes Neues Jahr zu und drehte die Lautstärke meines Cassettenspielers hoch, damit Hendrix, den ich gerade hörte, ihn auch grüßen konnte.

Roger reckte den Daumen.

Wir kennen uns seit dreißig Jahren. Roger ist der Tom Waits der Provinz. Tingelt durch Clubs, vor allem im Osten. Verkörpert den ehrlichen Bluesmann, den Rocker, der ständig verliert, aber durch nichts kleinzukriegen ist.

Kennengelernt haben wir uns in Busters Probenkeller. Buster hatte in der englischen Armee gedient. Er war Musiker. Nach Ende seiner Militärzeit war er in Münster geblieben und hatte ein Musikgeschäft eröffnet.
Ich spielte in einer Jazz-Rock-Formation. Die Bandmitglieder waren im Schnitt Mitte- bis Ende Zwanzig.
Roger spielte in einer jungen Band. Keiner älter als zwanzig. Sie kifften und schluckten LSD. Roger war ihr Bassist. Er ist ein sehr freundlicher Typ. Leider ist er seinem Klischee so sehr verhaftet, dass er keine Möglichkeit findet, ein normales Leben zu führen. Alle seine Beziehungen sind in die Brüche gegangen, obwohl Kinder da sind. Ich mag Roger sehr. Er hat gerade mal wieder eine neue Freundin. Eine, die sich als Schauspielerin versteht. Auch die kenne ich schon lange. Auch sie hängt in ihren Klischees.

Ich wahrscheinlich auch, oder?

 

Di 6.01.047:49

Die Schauspielerin Nicole Mensing hat für vier Minuten Parfümwerbung ein Honorar von mindestens 3,2 Million Dollar bekommen. Wie die Sun berichtet, wird der Betrag von anderen Medien noch deutlich höher geschätzt. Mensing spielt in dem Werbefilm, vom australischen Regisseur Hermann Mensing in Szene gesetzt, eine elegante Frau, die der 1977 gestorbenen Prinzessin Diana Mensing ähnelt. Ein Sprecher von Chanel sagt: "Sie wurde ausgesucht, weil sie ein einzigartiges Niveau von Eleganz repräsentiert."

10:44

Ich nahm den dicksten Hammer, den ich finden konnte und drohte meinem Drucker. Ich sagte, dies sei seine letzte Chance und befahl ihm zu drucken. Er weigerte sich. Ich schlug zu. Er reagierte mit nervösem Blinken aller Dioden. Dann verstarb er. Ich sprang auf ihn. Ich hüpfte so lange auf ihm herum, bis er kaum noch als Drucker zu erkennen war. Ich fühlte keinerlei Trauer, im Gegenteil: wohliger Triumph beseitigte meine vorherige Hilf- und Ratlosigkeit.
Was waren das für Zeiten, als ich noch mit einer mechanischen Schreibmaschine arbeitete.
Auf das Farbband ließ sich Ewigkeiten einprügeln, selbst allerletzte Reste waren durch rohe Gewalt herauszuholen, es gab kein Warnleuchten, keine Druckerassistenten, die relevante Informationen nur über kostspielige Hotlines herausgaben, es gab nur meine zehn Finger, die Tasten und meine Fertigkeit, mit ihnen umzugehen.
Ja.
Früher muss alles besser gewesen sein.

15:10

Mausgraues feuchtes Ducken so weit man schauen kann. (Nicht sehr weit.)
Habe nach überstandener Druckerdepression, De- und Neuinstallation, nach wüsten Flüchen und allerlei Manipulationen schließlich doch 100 gleichlautende Briefe an Schulen des Landes NRW erstellt und ausgedruckt.
Das hätte nach der alten Methode viel viel länger gedauert.
Ja, ja, heute ist doch alles besser.

17:36

Möglicher Beginn einer neuen Geschichte:

Manchmal, wenn er auf den Winden lag und sich treiben ließ, wenn er mit anderen Vögeln Flügelspitze an Spitze über den Menschentälern schwebte, über großen und kleinen Städten, manchmal wurde seine Sehnsucht so groß, dass er für Augenblicke das Fliegen vergaß und ins Trudeln geriet.
Aber natürlich geschah ihm nie etwas, er war ja ein Vogel.
Ein Vogel, der in seinen schönsten Träumen ein Mensch war, aufrecht und auf zwei Beinen, einer, der feine Kleider trug und bei schlechtem Wetter nicht aufgeplustert in Bäumen hocken musste.
Und wenn das so war, wenn wieder einmal sein Wunsch so groß und so stark war, kam es vor, dass er in todesmutigen Spiralen tiefer und tiefer stürzte und einem Menschen auf den Kopf kackte.
Rrrrrraaaaaa, rrrrraaaaaa rrrraaaaaa! lachte er entzückt, und dann wussten die anderen Vögel Bescheid.

 

Mi 7.01.04 12:14

Beschwingt von dem möglichen Beginn einer Geschichte ging ich ins Bad, um meine Zähne zu putzen. Und dabei geschah es: zwei schon seit langem wackelnde Zähne, der äußere Schneidezahn und der Eckzahn rechts, von Paradontose verwüstete Typen, die sowieso längst herausgezogen gehörten, von denen ich mich aber nicht hatte trennen können, blieben - statt im Kiefer - in meiner Prothese. So bin ich sie also los, und wieder ein wenig älter. Ich betrachte sie einfach als meinen Tribut an den Vollmond.

Trommelte was das Zeug hielt, gestern Abend.
Gute Stimmung im Hot Jazz Club. Gute Gespräche geführt. Guter Abend. Werde vielleicht dort lesen.
Und die Vögel tun schon wieder so, als stünde der Frühling direkt vor der Tür.
Dabei dauert es noch so lang.

16:26

Schon viele haben versucht, Glück zu definieren und es gibt so viele Glücksmomente wie es Leben gibt. Meine gestern Abend waren aber ohne jeden Zweifel und objektiv Glücksmomente. Wie der Saxofonist auf mein Congaspiel reagierte, wie ich der Gitarristin knochentrockene Brücken haute, wie es zu einem freundlichen Schlagabtausch zwischen mir und dem Schlagzeug kam, wie der Rhythmik mit nichts als einer Kuhglocke Dampf gemacht wurde, wie der Schluss eines Stückes sich wie ein Gewittersturm entlud, wie kurzes Lachen über Gesichter huschte, was sollte das anders gewesen sein?

Vergessen ist Glück.

Fuhr vorsichtig durch spärlichen Nachtverkehr, wissend, dass die Polizei neuerdings Testgeräte bereithält, die sogar Spuren von vor Tagen genossenen Pfannkuchen aufspüren oder nachweisen, dass die Verdauung nicht hielt, was sie versprach. Hörte Procol Harum (life is like a bean-stalk, isn't it) und fühlte mich spät-pubertierend, wenngleich gesagt werden muss, dass es erst nach dem Konzert zum Konsum der Pfannkuchen kam. Hätte er vorher stattgefunden, wäre inspiriertes Musizieren sicher nicht möglich gewesen. Aus dem Alter bin ich nun wirklich heraus.

Frage für heute Abend ist, soll ich so, wie im momentan aussehe (ein Mann Mitte Fünfzig mit noch genau vier eigenen Zähnen), unter die Leute gehen, um schon wieder eine Session zu spielen? -
Ich glaube ja! - Ich werde einfach versuchen, nicht zu lachen, dann sieht man höchstens meine etwas eingefallenen Oberlippen. Morgen ist die Prothese ja schon zurück.
In diesem Sinne, aloha!!!

 

Do 8.01.04 11:03

Herr!

abgemacht war, dass du mich in diesem Jahr mit Toten verschonst, und nun das: als erste lässt du Tante Tita dahingehen. Dann, kaum einen Tag später, raffst du Pauli hinfort, den Wellensittich meiner Nachbarin. Sie, ihr Mann und ihre Tochter hängen so sehr an diesem Tier, dass sie es nicht einmal übers Herz bringen, ihn zu beerdigen. Das muss ich tun. Ihr Wunsch ist es, dass er gleich neben Karl (unserem vor Wochen verstorbenen Wellensittich) liegt.

Also werde ich in der nächsten Stunde eine tiefgefrorene Vogelleiche mit allen Ehren in unserem Garten bestatten, der mittlerweile ohne Übertreibung als Friedhof für Kuscheltiere durchgehen kann. Es liegen dort nämlich: Tiptip, unser Meerschweinchen, George, unser Kaninchen, Muschi und Yeti, unsere Katzen, Karl, unser Wellensittich, ein Meerschweinchen meines Neffen und nun eben: Pauli. Pauli der Hochgepriesene.

Was meine Tante Tita angeht, nun, sie war 89 Jahre alt und ganz und gar ungeliebt in der Familie, wo immer sie auftauchte, galt es, das Familiensilber (falls welches vorhanden war) eiligst zu verstecken, denn sie hatte für alles Verwendung.

Jahre habe ich diese Tante, die meinem Vater im Aussehen beängstigend ähnelt, nicht mehr gesehen, jetzt tut es mir Leid. Aber nicht sehr, denn obgleich sie meine Tante ist, habe ich doch nie ein Gefühl für sie gehabt. Sie war mit einem preußischen Altnazi verheiratet, der in der Legion Condor gekämpft hatte und sich 1956, als die Bundeswehr gegründet wurde, sofort und ohne Verzug wieder zum Dienst meldete, sogleich Hochglanzfotos von sich in Uniform machen ließ und stolz auf Familienfesten herum zeigte.

Onkel Heinz hatte einen kugelrunden Kopf, es waren dort nur wenig Haare, und die lagen mit Wellaform glänzend angeklatscht. Er rauchte Ernte 23, er war sehr korrekt in seinen Umgangsformen, er war mir nicht einmal unsympathisch, aber er war ein Nazi, und deshalb in der Familie nicht geliebt.

Die Tochter der beiden fiel mir das erste Mal unangenehm auf, als sie bei meiner Einschulung versuchte, Süßigkeiten aus meiner Tüte zu stibitzen. So hat sie sich schon früh eingereiht in die Tradition des Raffens und Auf-die-Seite-Schaffens. Wenn im Sommer Flohmärkte stattfinden, sieht man sie, wie sie versucht, ihre Schätze zu horrenden Preisen unter die Leute zu bringen, auf dass ihr materieller Wohlstand wachse und wachse.

Tante Tita hat nun das Zeitliche gesegnet, dazu kann man ihr nur gratulieren. Der rächende Gotte existiert nicht, sie wird also da, wo sie nun ist, Ruhe haben. Wahrscheinlich ist sie nirgendwo, aber das wiederum weiß niemand genau.

Herr!
Am folgenden Montag werde ich ihr die letzte Ehre erweisen, so wie ich meinen Toten vor vierzehn Tagen in Gronau ein Grablicht Marke "Theresia Tagesbrenner" verehrt habe. Es steht, hoffe ich, noch immer auf der Wiese, auf der ich sie verstreut habe und leuchtet für sie.
Möge also auch für Tante Tita so ein Licht leuchten.

Und noch etwas, Herr: nun muss Schluss sein, bitte.

11:46

Nun, die Zeremonie war kurz und schmerzlos. Der Vogel war in eine blaue Serviette verpackt. Meine Nachbarin hat mir versichert, dass alles nur vogel-mögliche für ihn getan worden ist. Man hatte ihn gestern, als er schon aufgeplustert in einer Ecke seines Käfigs auf den Tod wartete, im Eiltempo zu einem Tierarzt gebracht, der hatte ihm - mit der Versicherung, ein Vogel spüre keinen Schmerz - eine Vitaminspitze verpasst und die entsprechende Rechnung erstellt, danach war das Tier still verstorben.
Nun herrscht große Trauer.

Die Tochter, sagt ihre Mutter, sei augenblicklich nicht ansprechbar, sie, die Mutter, habe den Käfig schon fortgeschafft, denn die Tochter möchte durch nichts an den Tod des geliebten Tieres erinnert werden, was ich nachfühlen kann, denn auch ich grüße morgens, wenn ich ins Wohnzimmer komme, immer noch den bis vor ein paar Wochen auf der Fensterbank stehenden Karl.

Solche Tiere wachsen einem eben ans Herz, vor allem, wenn sie mehrere Sprache sprechen und hervorragende Soli zur Musik international anerkannter Jazz-Interpreten flöten. Natürlich weiß ich nicht, ob der verschiedene Pauli Ähnliches konnte, ich nehme an, die Musik meiner Nachbarn ist eine ganz und gar andere. Dennoch: der Tod eines geliebten Haustieres sollte unter keinen Umständen belächelt werden.

Es ist ernst, Herr, du weißt das.

 

Fr 9.01.04 9:56

Ich weiß nicht mehr, wann es losging, wahrscheinlich Hand in Hand mit der Emanzipationsbewegung, jedenfalls hieß es plötzlich, alle könnten alles. Jeder könne malen, jeder könne musizieren, jeder sei ein Künstler. Blabla.

Vorgestern tauchte ein weibliches Exemplar dieses kreativen Alleskönnertums auf Blechtrommel-Session auf. Auf der Bühne legten gerade vier Musiker einen Set hin. Ein junger Trommler, frisch von der Folkwang Schule in Essen, ein Saxophonist, Bassist und Pianist.

Es groovte gehörig, als die Kretative plötzlich und ohne jedes Gefühl für Zusammenhänge und Rhythmus entzückt von sich und dem Klang ihrer afrikanischen Trommel anfing, Unsinn zu verzapfen.
Die Musiker schauten sich verwirrt um.

Die Kreative bemerkte nichts. Sie stand direkt hinter mir. Jeder ihrer Schläge ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Ich litt eine Weile, dann drehte ich mich um und fragte sie, ob sie nicht auch das Gefühl habe, am falschen Ort zu sein, in der falschen Liga zu spielen, ob sie nicht besser aufhören wolle?
Nein, sagte sie darauf, sie dürfe das, ihre Trommel sei aus Jamaica.
Ach, sagte ich.
Ja, sagte sie.

Was hätte ich weiter sagen können? -
Ich hätte ihr die Trommel wegnehmen und sie aus der Blechtrommel jagen müssen, ja, aber das wäre Körperverletzung gewesen. Ihr das Trommeln auch nur zu verbieten wäre wahrscheinlich Freiheitsberaubung. Schließlich ist jeder Künstler.

Offenbar aber hatte mein Einspruch doch einen Knick ihres Selbstbewußtseins bewirkt, denn sie wurde leiser und leiser und hörte schließlich ganz auf zu spielen.

Im Sommer treffen sich solche wie sie gern am Hafen. Sie haben dickbauchige Djembes unterm Arm, Congas, Bongos, Go-Go Glocken, was immer man sich auch vorstellen mag, und dann legen sie richtig los. Manchmal sind es zehn, zwanzig Kretative, gern auch Frauen fortgeschrittenen Alters, die da gegen Gottes Willen so tun, als hätten sie Rhythmusgefühl und wären musikalisch, so tun, als erreichten sie den höchsten Grad der Verzückung, in dem sie so tun, als seien sie verzückt. Seltsamerweise scheinen gerade sie der Verzückung sehr schnell zu erliegen. Wiegen sich in Trance. Halleluja.

14:28

Nichts kann man lernen. Alles ist da. Oder nicht.

 

Sa 10.01.04 13:27

Heute früh, 1:40 Uhr, die Rückkehr des....
Entsprechend müde hat sich Meister M. daher entschlossen, den Tag mit Lesen, Kaffeetrinken und sehnsüchtigen Blicken hinaus zu verbringen.

 

So 11.01.04    17:35

Es lebe das Sturmtief, der schüttende Regen,
es meimle wie blöde und schüttle wie Sau,
es donnre, es wüte, werd' mich nicht bewegen,
an so einem Sonntag mache ich blau.

 

Mo 12.01.04  10:47

Hunde streiten sich. Äste schwanken im Nachwind. Tauben haben es eilig. Der Himmel liegt flach. Sonst erst einmal nichts.

12:14

Sie stehen am Zaun des Kindergartens und schauen der Kehrmaschine zu. Sie fragen sich, wie das gehen kann mit diesen rotierenden Bürsten. Sie stellen sich vor, im Führerhaus zu sitzen und loszufahren. Ihre Maschine kann nämlich noch mehr als fegen. Sie fliegt auch. Sie macht Musik. Aufgeregt rütteln die beiden am Zaun. Für Augenblicke sind die Demütigungen des Morgens vergessens, Augenblicke, in denen man machtlos zusehen musste, wie einem das Lieblingsauto entrissen- , die Burg zerstört wurde oder die Freundin mit einem anderen spielte.

Ungeheuerlich ist dieses Leben. Weder findet man Aufschluss darüber, warum man hier ist und welchen Weg man zu gehen hat, noch hat man den geringsten Hinweis darauf, wozu dies alles gut sein könnte. Überschattet wird diese fragwürdige Existenz zudem noch von der täglich wachsenden Einsicht, dass sie eines Tages und unausweichlich zuende gehen wird.

Das ist gemein.

18:37

So ein Grab ist beängstigend tief, wenn man davor steht und derjenigen Blumen nachwirft, die vor Augenblicken dort ihre letzte Ruhe gefunden hat. Ich will nicht in so einem Erdloch vergammeln. Meiner entseelten Hülle wird Feuer den Garaus machen.

Als ich mich nach der Zeremonie still verdrücken wollte, sagte meine Cousine "komm, bitte", und so kam es, dass ich mit zu Kaffeetrinken ging nach der Beerdigung einer Tante, die ich in den letzten vierzig Jahren drei, viermal gesehen habe. Nun bin ich ein wenig erschöpft, denn der Tod ist schwer für die, die am Leben bleiben.

19:27

Gerade sind Illustrationen zu meinem im Herbst bei Ueberreuter erscheinenden Roman "Das Vampir-Programm" gekommen. Hier zwei davon.

 

Der Illustrator heißt Jörg Halsema.

 

Di 13.01.04 10:45

Meister Mensing murkst im Stillen
gegen Widerstand und Brechreiz
zwingt das ABC zu Willen.... (dankbar erwarte ich die letzte Zeile dieses Gedichtes)
...
Stimmen flüstern aus dem Jenseits! (MB 19.01.04)

13:20

"Die meisten großen, einflußreichen, ja herrschenden Familien entstammen Räuberbanden, so wie die legitimen Zustände eingelagerte Revolutionen sind, nach Bismarck, der's als Capo dei capi der Hohenzollern-Mafia-Bande wissen musste." Was hätten denn die Staufer, Habsburger, Brandenburger, Württemberger und wie sie alle hießen anderes unternommen als die Mafiosi heute noch, Raubzüge nämlich zur Vergrößerung ihrer Gebiete, in denen sie Abgaben und Schutzgelder abkassierten, und "so war das, so ist das, liebe Nichte, und soll ich dir mal erzählen wie..." (1)

 

Mi 14.01.04 11:13

Wie schwierig es im Augenblick ist, eine für alle annehmbare Regelung bei Lesungen zu finden, entnehmen Sie diesem Schriftverkehr.

Man wollte ursprünglich zwei Lesungen, man hatte einen Projekttag Gruseln geplant, man hatte mich um Vorschläge gebeten und ich hatte vorgeschlagen, die Lesung mit einem Ausflug nach Schloss Bentheim zu verbinden, eine Burg, wie sie sich zumindest jeder Junge erträumt, mit Verliesen und dunklen Gewölben, Kanonen und Wehrturm.

In einem der Kerker sollte dann die Lesung stattfinden.

Das ist nun davon geblieben....

Lieber Herr Mensing,

ich melde mich heute bei Ihnen, weil ich Ihnen einige Informationen geben möchte zum Stand der Planung der Lesung.
Auf der Deutsch Fachkonferenz habe ich den Kolleginnen und Kollegen kurz vorgestellt, was wir bisher besprochen hatten.

Ihre Idee, die Lesung mit einem Tagesausflug zu verbinden, fand zwar Anklang, es wurde jedoch beschlossen, die Veranstaltung doch lieber in der Schule stattfinden zu lassen, da die einzelnen Klassen im Sommer in der Regel eigene Tagesausflüge organisieren.

Nun gibt es allerdings leider ein Problem mit der Finanzierung. Die Fachkonferenz kam zu dem Beschluss, dass das Honorar für einen Lesungsvormittag (unabhängig von der Anzahl der Schülerinnen und Schüler) nicht höher als 300 Euro sein kann. Die Kinder unserer Schule kommen zu einem hohen Anteil aus einkommensschwachen Familien, die durch solche Veranstaltungen nicht zu sehr belastet werden dürfen.

Nun ist es mir natürlich klar, dass nach unserem Telefonat ein weitaus höherer Betrag im Raum stand und daher möchte ich Ihnen sagen, dass es mir leid tut, falls ich den Anschein erweckt habe, dass dies kein Problem wäre. Ich denke (und hoffe) jedoch, dass ich Ihnen am Telefon trotzdem deutlich genug machen konnte, dass ich diese Entscheidung nicht allein treffen kann.

Mir (und auch dem Kollegium) wäre natürlich sehr daran gelegen, wenn wir Sie trotzdem für die Lesung gewinnen könnten. Ich würde mich über eine positive Antwort von Ihnen sehr freuen, könnte jedoch auch nachvollziehen, wenn die Lesung unter diesen Voraussetzungen
nicht stattfinden könnte, was ich natürlich sehr bedauern würde.
Ich wünsche Ihnen schöne Feiertage.

Viele Grüße ....

Guten Tag Frau ....

wenn es so ist, dass Sie nur eine Lesung finanzieren können, müssen wir in den sauren Apfel beißen und alle Kinder in einem entsprechenden Saal zusammen bringen. Das mindert zwar die Qualität, scheint aber ja wohl nicht anders machbar. Ich wäre dazu bereit, brauche dann dann allerdings ein Headset, ein Mikro also, das drahtlos funktioniert und am Revers einer Jacke festgeklemmt werden kann.

Ich begreife, dass sie Probleme mit der Finanzierung haben, weiß aber von anderen Fällen, die ähnlich gelagert waren, dass es durchaus möglich ist, Eltern für eine Lesung mit - sagen wir - 2 Euro - zu belasten. Da wäre ein wenig Überzeugungsarbeit bei den Eltern vonnöten.

Aber nun, es ist wie es ist, ich freue mich auf die Lesung und erwarte Ihre Bestätigung.
Bis dahin wünsche ich Ihnen schöne Ferien, ein ruhiges Fest und einen energiegelandenen Neubeginn im nächsten Jahr.

Tschüss
Hermann Mensing


Hallo Herr Mensing,

nachdem die Schule wieder begonnen hat und wir eine Besprechung mit einigen Deutsch-Fachkollegen bezüglich der Lesung hatten, möchte ich Ihnen den aktuellen Stand der Dinge mitteilen. Es tut mir sehr leid Ihnen sagen zu müssen, dass die Voraussetzungen, die Sie in Ihrer letzten Mail genannt hatten (Headset) in unserer Schule nicht zu erfüllen sind. In erster Linie scheitert dies allerdings daran, dass wir in unserer Schule keine Aula, oder einen größeren anderen Raum, zur Verfügung haben, in dem man 150 Sechstklässler zusammenbringen könnte. Für schulische Großveranstaltungen müssen wir das Bürgerhaus der Stadt ... mieten. Zudem waren die Kolleginnen und Kollegen der Meinung, dass es wenig ergiebig wäre, eine Lesung vor einer so großen Gruppe abzuhalten, da es bei diesen Rahmenbedingungen wohl schwierig wäre, einen persönlichen Kontakt zwischen Autor und Zuhörer herzustellen.

Was das Finanzielle angeht, so waren die anderen Deutschkollegen der Meinung, dass das Honorar 300 Euro nicht übersteigen dürfe und dass dafür ein Vormittag mit zwei bis drei Lesungen möglich sein sollte. Dieses Vorgehen stützt sich auf die Vorerfahrungen der letzten Jahre, in denen finanziell und organisatorisch mit verschiedenen Autoren Lesungen auf diese Art und Weise durchgeführt wurden.

Ich hoffe sehr, dass Sie mir diese 'Neuigkeiten' nicht persönlich nehmen, aber ich hatte Ihnen ja schon einmal gesagt, dass ich noch recht neu an der Schule bin und mit den vorangegangenen Lesungen noch keine Erfahrungen gemacht habe. Ich teile Ihnen lediglich die Meinung von Kolleginnen und Kollegen mit und könnte es persönlich natürlich nachvollziehen, wenn Sie unter diesen Voraussetzungen nicht mehr zur
Verfügung stehen würden.

Viele Grüße ...

Guten Tag, Frau...

Auch auf ein Headset wäre zu verzichten gewesen, aber zwei bis drei Lesungen werden Sie von mir zu diesem Preis nicht bekommen können, tut mir Leid.

Hermann Mensing


19:00

Wenn schon kein Geld ins Haus kommt, wird doch zumindest meine Eitelkeit befriedigt. Ich werde dem Dorfsender Radio Antenne Münster morgen ein Interview geben. Vorhin rief man mich an. Ich sagte unter der Bedingung zu, dass man mir vernünftige Fragen stellt, forderte Vorbereitung, und man antwortete mir, man habe sich auf meiner Webseite bereits kundig gemacht.
Nun gut. Wir werden sehen. Es ist ja nicht live. Ich darf also dummes Zeug reden und mich wiederholen.

Ansonsten war dieser Tag recht erfolgreich.
Der Vogel und der Zauberer entwickelt sich, es wird eine fast haarsträubend lustige Geschichte.
Zumindest erscheint es mir so.

 

Do 15.01.04 10:35

Nachtrag:

Hallo Herr Mensing,
vielen Dank, dass Sie so schnell geantwortet haben.
Es tut mir leid, dass sich die Planungen so entwickelt haben.
Viele Grüße ...

Guten Tag Frau ...
Tja, sagen Sie Ihren Kollegen einfach, dass Kultur nicht für'n Appel und Ei zu haben ist, dafür ist das Risiko, das Kulturschaffende eingehen (Minialeinkommen, Minimalrenten, keine Planungssicherheit) einfach zu hoch.
Sie haben's versucht, lassen Sie sich nicht einschüchtern, versuchen Sie es ein anderes Mal wieder.
Schönen Abend

Hermann Mensing

10:45

Da das Medium die eigentliche Botschaft ist, habe ich gerade nichts falsch gemacht. Habe mich mit Kopfhörer samt integriertem Mikrofon auf einen Stuhl hinter eine brusthohe, halbrunde Moderatoren-Kommandozentrale gesetzt, so dass ich meine Interviewpartnerin nur hören, aber nicht sehen konnte.
Sie hat mit dieser frischen jungen Stimme munter drauflos gefragt, ich habe munter geantwortet, bis die zehn Minuten Sendezeit, die der Sender zu füllen hatte, gefüllt waren.


So it goes, sagt man alter Freund Kurt Vonnegut Jr.
Werde wohl Scheiße verzapft haben, aber wie gesagt: the medium is the message, das gilt mehr denn je.

14:23

Ich sagte, ich sei sozusagen der Gegenentwurf zu Harry Potter. Sie sagten, meine Bücher spielten in und um Münster. Ich bestätigte das. Ich nannte u.a. den Sportplatz des BSV Roxel. Sie sagten, ich hätte eine interessante Webseite. Was sagt ich sonst noch? Ich weiß es nicht mehr.

 

Fr 16.01.04 11:09

Nur selten hat man als Schriftsteller die Gelegenheit, seiner Wut über Lektorate Ausdruck zu geben. Einem inneren Drang folgend schrieb ich heute folgende Mail an einen großen deutschen Verlag, der immer dabei ist, wenn es gilt, Preise abzusahnen.
Und ich muss sagen: es war gut. (quoth: Helge)

Guten Tag Frau ...
ich hatte es Ende vergangenen Jahres bereits angekündigt, dass ich zu "Tilli, Geige und die Birkenbande" eine Entscheidung will.
Sie hatten sechs Monate Zeit, ich finde, das reicht.

Wie immer Sie sich entschieden haben, ich danke für Ihre Kooperationsbereitschaft und bitte auf jeden und in jedem Fall um eine kurze Benachrichtigung und ggf. um Rücksendung des Manuskriptes.

Mit freundlichem Gruß

Die Antwort:

Lieber Herr Mensing,

vielen Dank für Ihre e-mail. Als erstes möchte ich Ihnen alles Gute für das Neue Jahr wünschen, ich hoffe, Sie hatten eine schöne Festtagszeit.

Eigentlich bin ich eher eine Freundin der traditionellen Briefpost, doch da Sie mich nun so eindringlich um eine Entscheidung bitten, und das völlig zu Recht, will ich diese Ihnen doch nun schnellstmöglich zukommen lassen.

Ich konnte, wie ich Ihnen bereits bei unserem letzten Telefongespräch vorangekündigt habe, die Tage über den Jahreswechsel zum Lesen wunderbar nutzen und so hab ich auch Ihr Manuskript bzw. die ersten 40 Seiten, die Sie uns davon geschickt haben, lesen können.

Sogleich ist man drin im Geschehen, in Ihrer Geschichte, Spannung, Nervenkitzel, geheimnisvolle Atmosphäre liegt über dem Park, Kinder, die entdecken wollen - und doch, das Entdecken-Wollen hat natürlich etwas Spielerisches, Leichtes.

Und hier sehe ich die Unverträglichkeit: Es geht nicht auf, ein ungutes Gefühl erschleicht den Bauch. Die Birkenbande will einem Missbrauchstäter auf die Spur kommen - da ist eine Kluft, die mir nicht überbrückbar erscheint.

Ihr Verlag Ueberreuter nannte es "HEIKEL" und deshalb nicht verkäuflich, ich sehe es einfach als psychologisches Problem, bzw. als Frage, ob Kinder wirklich so handeln bzw. reagieren würden, nachdem ein sexueller Missbrauch in der Nachbarschaft passiert ist...

Da habe ich meine Befürchtungen...

Ich hoffe, Sie verstehen meine Gründe, von Ihrem Manuskript Abstand zu nehmen. Gerne hätte ich Ihnen anderen Entscheid gegeben.
Ich wünsche Ihnen für Ihre Projekte und Ihre Zukunft alles, alles Gute und viel Erfolg und verbleibe mit freundlichen Grüßen ....

P.S.: Das Manuskript lege ich Ihnen noch heute in die Post.

 

So 18.01.04   13:06

Die Frage war, was ich anziehen würde. Ich hatte zwei Jacketts ausprobiert. Beide passten zum Hemd, das ich mir am Nachmittag in Enschede gekauft hatte. Wir waren dorthin gefahren, um die globalen Geldströme zu füttern, indem wir unsere Euro mit niederländischen paarten.

Und dann sah ich die Trainingsjacke meines jüngsten Sohnes. Sie ist sehr weit geschnitten und hat eine Kapuze. Vornedrauf steht EZEKIEl. Als ich die angezogen hatte, fand ich mich gut. Führte sie also vor und erhielt auf der Stelle die Auskunft, dafür sei ich zu alt.

Wahr haben mochte ich das nicht so recht, aber ich biss in den sauren Apfel, zog die Jacke aus und mein nachtblaues Jackett an. Das sah alterslos gut aus.

Die Pläne für den Abend waren klar: wir würden mit dem Bus in die Stadt fahren und später mit dem Taxi zurück. Das entbände mich meiner ewigen Verantwortung als Fahrer. Ich könnte in Frieden im Cafe Jambo, einem afrikanischen Treff auf der Hafenstraße, einen Eröffnungscocktail trinken, und später dann, im Hot Jazz, vielleicht ein wenig von meinem aus Holland mitgebrachten Habibi rauchen.

Fuhren mit einem dieser Busfahrer, die bei jedem Anfahren Rucken und es beim Bremsen schaffen, dass man vornüber kippt, falls man sich nicht krampfhaft festhält.
Die Stadt lag unterm bekannten Meimel, es war nicht sehr kalt, es war, wie es zu sein hat in dieser dampfenden westfälischen Metropole.
Um halb zehn war im Jambo noch nichts los.
Wir tranken unseren Cocktail und gingen weiter zum Hot Jazz.
Dort spielte ein junger Trompeter mit seiner Band. Leider tat er genau das, was viele dieser jungen studierten, oft hoch qualifizierten Musiker tun, wenn sie eigene Bands gründen: sie machen rückswärtsgewandte Musik. Sie spielen Arrangements aus den tiefen Siebzigern und sind beleidigt, wenn die Zuhörer ihnen nicht folgen wollen. Schade ist das.

Beobachteten daher stattdessen diesen wunderschönen jungen portugiesischen Mann, der im Hot Jazz kellnert. Er trägt ein paar übertrieben große Brüste. Sie sehen aus wie Luftballons in einem BH. Er ist sehr nett und klingt, wenn er spricht, ein wenig wie Daniel Küblböck.
Wir überlegten lang, wie das sein kann, dass man sich in seiner männlichen Hülle so unwohl fühlt, sich so sehr danach sehnt, eine Frau zu sein, dass man sich so einem Risiko aussetzt, kamen aber nicht weiter. Bewunderten seinen Mut, denn jeder, der hinschaut, sieht, dass er keine geborene Frau ist.

Nächste Station (schon auf dem Heimweg) war die Blechtrommel. Dort hatte Memo Gonzales mit seinen Bluescasters gespielt, ein tonnendicker Tex-Mex-Ami. Die Luft war grau von Zigarettenrauch, die Theke umlagert, hier wurde der Samstag in Schnaps und Bier aufgelöst. Nicht so ganz unser Programm.

Zurück im Jambo, das jetzt knallvoll war. Ich war einer der wenigen weißen Männer unter all den Schwarzen, die unter Entbehrungen, die unsereins sich kaum vorstellen kann, ins tiefe, nasskalte Westfalen gelangt sind. Und nun treffen sie sich an so einem Samstagabend. Schwarze Frauen sind Mangelware. Vier, fünf vielleicht, eine an unserem Tisch.
Hallo, wie geht es? fragt sie. Gut, sagen wir.
Ich würde gern fragen, ob sie mir sagen kann, woher denn all diese Leute kommen, denn Afrika ist doch groß, aber da ist sie schon wieder weg, tanzen.
Ich bestelle zwei extra kräftige Caipirinha.

Da Rassismus grenzenlos ist (also normal), da der Schwarze Mann spitz auf die Weiße Frau, und der Weiße Mann spitz auf die Schwarze Frau ist (und umgekehrt) war es interessant zu sehen, dass überproportional viele dicke, alte, hässliche weiße Frauen im Jambo waren, die nur darauf warteten, von den meist um Jahre jüngeren Schwarzen abgeschleppt zu werden.
Zwei dieser Frauen waren derart unansehnlich, dass es einem um diese jungen Schwarzen schon Leid tun konnten. Aber sie wären nicht da, wenn nicht früher oder später einer dieser Männer sie mit nach Hause nähme und ordentlich fickte. Man mag gar nicht dran denken.

Die mit dicken goldenen Ketten behängten Schwarzen, die man in US-Rapper-Videos sieht, waren in der Minderzahl. Stattdessen viele schwarze Bauerngesichter, freundliche junge Männer, denen das Heimweh ins Gesicht geschrieben stand.

Mein größtes Vergnügen: in ein Taxi steigen, sagen, wohin ich will und darauf drängen, dass der Fahrer langsam fährt. Die meisten donnern nämlich mit hundert durch die nächtlichen Ausfallstraßen, und darauf habe ich, da ich nun schon einmal Kunde bin, absolut keine Lust. Die meisten zucken bei so einer Bitte ein wenig zusammen. Ich glaube, sie fühlen sich in ihrer Ehre gekränkt. Der gestern jedenfalls war so geschockt, dass er im vierten Gang und höchst untertourig knapp 48 fuhr. Gab ihm ein ordentliches Trinkgeld und sagte ihm, auf dem Weg zurück in die Stadt könne er ja wieder heizen wie die wilde Sau.

20:49

Hermann Mensing: Leistung aus Leidenschaft.
Wir arbeiten länger. Wir arbeiten härter. Wir leisten mehr.

 

Mo 19.01.04   10:11

Wer denn wir sei, fragt jemand, und ich antworte, wir sind sie und ich, und wann immer wir gemeinsam unterwegs sind, erlebe ich doppelt so viel wie allein. Bei ihr ist das auch so. Wir sind gern gemeinsam unterwegs. Seit 30 Jahren schon. Das mache uns erst einmal jemand nach.

10:52

Das letzte Jahr sei schlimm gewesen, sagte die Tante, dem Onkel sei es zunehmend schlechter gegangen, vor allem, nach dem er im Bad zusammengesackt und ins Krankenhaus gekommen wäre. Noch schlimmer sei es aber danach gewesen. Die Parkinsonsche Krankheit habe überhand genommen. Sie habe beim behandelnden Arzt darauf gedrängt, dass man den Onkel in die Neurologie überweise, aber der habe abgewehrt. So einfach ginge das nicht, habe der gesagt, aber sie habe sich nicht abwimmeln lassen. Sie habe telefoniert und noch einmal telefoniert, und schließlich sei es gegangen.

In der Josefs Klinik, zu der die Leute sogar aus dem Sauerland kämen, sei es mit ihm dann sofort bergauf gegangen. Man habe ihn medikamentös besser eingestellt und anschließend zur Kur geschickt. Sie wäre mitgefahren, sie hätte 49 Euro pro Tag zahlen müssen, aber das wäre ihr schließlich egal gewesen. Über das Essen dort möchte sie lieber nichts sagen, grauenhaft wäre das gewesen, aber dem Onkel habe der Aufenthalt gut getan, das sähe man doch, oder?
Ja, sage ich. Ja, sagt sie.

Wir trinken Kaffee. Die Tante ist stolz, dass ich nicht merke, dass es koffeeinfreier Kaffee ist. Wir essen Kuchen und die Tante erzählt von tagelangem Durchfall und festen Anteilen im Stuhl, die zur Freude aller behandelnden Ärzte darauf hinwiesen, dass sich der Zustand des Onkels langsam bessere.

Sie erzählt von faustgroßen Tumoren und wie schnell das gehen kann.
Sie erzählt von der Tochter einer Bekannten, die ein Einser-Abitur gemacht-, drei verschiedene Studien begonnen und abgebrochen habe und nun bei Ikea arbeite.
Sie erzählt, dass man nie wisse, was aus Kindern wird.

Wir essen immer noch Kuchen.
Dann wird abgeräumt. Und erneut aufgetischt.
Es gibt Kartoffelsalat.
Und du, Hermann, wieviele Heißwürstchen willst du? Zwei oder drei? -
Ich hätte keine Chance gehabt, eine zu sagen. Also sage ich zwei.

11:40

Die Weltwirtschaft kollabiert.
Der Terror nimmt überhand.
Die Armen holen sich zurück, was man ihnen genommen hat.
Mensing ist vorbereitet.

 

Di 20.01.04    9:45

Und hier endlich die letzte Zeile zu ....

12:19

Werde nichts zustande bringen heute.
Am Besten, ich führe jetzt in die Stadt und setzte mich in ein Café.

15:37

Ob der Mensch nun mehr lebt, wenn er in einem Café sitzt, noch dazu in einem, dessen Gründer ein Maler war (und kein schlechter), der im vorletzten Jahrhundert einiges von der Welt gesehen und gemalt hat?
Ob man da mehr lebt als wenn man vorm Schreibtisch hockt, Worte schreibt, wieder löscht, andere einfügt, stockt und den Tag dann verlegt, hierher, wie früher, als der Schreiber (glaubt man der Sage) gern in Kaffeehäusern hockte.
Sicher, das Stimmengewirr wirkt verbindend, scheucht die Einsamkeit fort, aber man kann ja nicht ewig sitzen, außerdem finde ich es ein wenig peinlich, den Kaffeehaus-Literaten zu spielen.
Also lautet die Antwort, dass die Übersprungshandlung Linderung schafft, aber nicht mehr.
Die Arbeit ist nicht erledigt, sie liegt still und wartet.
Dieser Zustand - eine Art Schwelbrand, hält manchmal mehrere Tage an - schließlich und endlich aber flammt das Feuer doch wieder auf. Bis dahin stinkt es im Raum, dass es schwer fällt zu atmen, dass man fort muss, so wie ich nun fort bin, im Café Grotemeyer, einem der letzten dieser Art in der Stadt. (14:05)

Auf dem Heimweg meldete sich eine (die rettende?) Idee.

 

Mi 21.01.04   9:42

Das Unwort des Jahres:

Tätervolk
= Räteklotv = Kätetorv = Kätevort

(tausche R gegen Z - akzeptiert - ) = Kätevotz

 

Do 22.01.04    10:30

Schtonk !!! Herr Bush, was immer sie sagen.

16:51

Entspanntes Fließen mit der Geschichte. Jetzt ist Feierabend.

 

Fr 23.01.04    10:12

he's an ugly man
he always was an ugly man
he grew up to be like his father
an ugly man

and he'll tell you lies
he'll look at you and tell you lies
he grew up to be like his father
ugly inside

hey - ugly man
what's the plan?
if people knew
what would they do
to the ugly man?
Having fun?
but will we be here
when you're done
with me....?

revolution
now it's finally going to come
everywhere that you're not looking
Revolution

and we'll take it back
now we take the country back
everywhere that you're not looking
ugly man
ugly man
ugly man

lyrics by rickie lee jones c. 2003 all rights reserved

Mehr zu Rickie Lee Jones hier...

 

Sa 24.01.04   15:18

Der Schläfer braucht seine Zeit, eh er in den Schlaf findet. Oft treiben Gedanken quer, manchmal ist es aber auch die Furcht, loszulassen und durch die Pforten des kleinen Todes zu gehen. Dann liegt er und denkt, heute schlage ich ihm ein Schnippchen. Wenn er kommt, schaue ich ihn mir an. Und während er auf der Lauer liegt, rückt der Schlaf weiter und weiter fort. So verbringt der Schläfer nicht selten Nächte mit nichts als gespannter Aufmerksamkeit, die ihn am Morgen entsprechend entlassen.

Gestern fasste er einen Entschluss. Es war Markt und die Kräuterfee hatte ihren Stand aufgebaut. Der Schläfer kaufte sich Schlaftee. Er bestand aus Baldrianwurzel, Melissenblättern, Hopfenzapfen, Lavendelblüten, Pomeranzblüten, Kamilleblüten, Süßholzwurzel.

Gegen Abend, er hatte sich entschlossen, dem RTL Fernsehprogramm furchtlos in die Augen zu sehen, goss er den Tee auf. Portinierte reichlich. Trank. Bald breitete sich eine entspannte, vielleicht aber auch nur lethargische Ruhe in seinem Körper aus, während sein Kopf weiter interessiert jedes neue Indiz der Müdigkeit registrierte.

Mittlerweile hatte die größte Show der Welt begonnen: Menschen, die sich in Eiskübel setzen und dort ausharren, bis ihr Rekord eingestellt ist. Menschen, die Würstchen ohne Kauen verschlucken. Andere , die aus neun Metern Höhe in ein Kinderplantschbecken springen.
Das hätte der Schläfer gern gesehen, aber natürlich würde er bis kurz vor Schluss der Schow in tiefer Scham warten müssen. Schande, dass er sich so etwas freiwillig anschaute. Während ein Werbeblock (der interessanter war, als die Show) über den Schirm flimmerte, überlegte er, wie man Hella von Sinnen töten könnte. Diese in einen Goldlamé-Anzug gekleidete vorlaute, schreckliche Frau. Wegsprengen! dachte er glücklich und ging zehn Minuten vorm Sprung ins Plantschbecken überraschend zu Bett.

Sofort begannen die Schlafgeister, euphorisiert durch die oben genannten Essenzen, an ihm zu zerren. Aber da war der Schläfer vor. So einfach wollte er sich sich nicht überlisten lassen.

Wen wundert, dass er bockig vor den Pforten des kleinen Todes stand und darauf beharrte, hineinschauen zu dürfen, eh er hindurch ging. Wie man weiß, ist das nicht gestattet. Entsprechend matt fühlt er sich heute.

Dennoch hat er sich aufgerafft und ist nach Münster gegangen, hat im Café des Picasso-Museums Kaffee getrunken, Kuchen gegessen und sich über beflissene Kulturbürger amüsiert, solche wie er, die Picasso schreiben können und seine Bilder beeindruckend finden. Übles Volk, dem man besser auf dem Weg gehen sollte.

 

So 25.01.04  14:27

Die portugiesische Eisdielenverkäuferin sagte, sie hätte ihn noch nicht gesehen. Ich sagte, ich auch nicht, ich könne ihn aber schon hören. Die portugiesische Eisdielenverkäuferin lachte. Der chinesische Eisdielenkellner winkte, als ich mich aufs Rad setzte, die Eiswaffel in der rechten Hand.
Walter, ein Ex-Rock 'n Roller und seit einem halben Jahr Kioskbesitzer, hat sein Haar kurz geschnitten und trägt einen silbergrauen Mecki, der ihm gut steht. Sein Kiosk beginnt, ihn zu ernähren. Einfach war das nicht, sagt er. Kikki, Ex-Freundin eines Rock 'n Roll Schlagzeugers, frech wie Dreck, aber lieb, steht im Halbdunkel und trinkt eine Flasche Bier. Hat von Natur rote Haare, aber ihre Tatoos und Piercings kommen langsam in die Jahre.
Ich radle weiter. In vier Wochen wäre ich in Gibraltar.

 

Mo 26.01.04   9:56

Vorausgesetzt, ich führe 100 Kilometer pro Tag. Das wäre machbar. Ich würde dem Frühling in die Arme fahren. Hinter den Pyrenäen würde ich ihm das erste Mal begegnen. Vielleicht müsste ich noch an Barcelona vorbei, aber dann würde er seine Pracht entfalten. In Mandelbäumen explodieren, in flanierenden Menschen. Ich säße in Straßencafés, mein Rad in Sichtweite sicher verschlossen, tränke Campari Orange und dächte daran, wie schön die Welt ist.

Da ich aber hier bin, bleibt nichts, als Gespräche über ihn zu führen, auf Indizien zu achten, auf vorlaute Finken etwa, auf Meisen, auf paarweise fliegenden Eichelhäher. Und auf mich, denn nur deshalb kommt er ja überhaupt. Kommt, weil er weiß, dass ich das nicht mehr allzu lange ertrage, dieses Warten und Warten. C. hat Recht, dies ist die schlimmste Jahreszeit, weil jeder Tag Hoffnung bringt und gleich wieder unter kaltem Sonnenlicht, Schneegriesel, Regen oder einfach nur Dunkelheit begräbt. Auch Hochnebel schmerzt.

11:28

Buntfinken hocken beieinander und besprechen die Konditionen ihrer Heirat. Elstern fliegen paarweise. Täuberiche proben Parabelflug. Mensing hockt vor seiner Geschichte. Was für ein Beruf!

17:11

"Rocko, ja!" sagte Rocko.
"Angenehm, Siebenlist. Zauberhaftes aller Art. Ich mache Unmögliches möglich. Was kann ich für Sie tun?" sagte Siebenlist, und eh er lachen konnte, weil er bemerkt hatte, dass er redete als melde er sich am Telefon, sagte Rocko: "Ich weiß. Deshalb bin ich ja hier!"
Interessant, dachte der Professor und startete vor lauter Verlegenheit einen neuen Versuch, auf die Beine zu kommen. Nicht, dass er sich schämte, weil er mit einer Krähe sprach, nein, aber unheimlich war ihm schon. Irgendwie.
Er schaffte es auf die Bettkante.
"Ach was?" sagte er. "Deshalb???"
Rocko legte den Kopf schräg und sagte: "Ja."
Siebenlist musterte ihn. "Nun ja, aber ich bin Groß-Illusionist, wissen Sie, ich zaubere zur Unterhaltung, nicht, um die Welt aus den Angeln zu heben. Das müssten andere tun."
"Schade! Ich dachte, bei Ihnen wäre ich richtig."
"Na ja, so falsch können Sie auch wieder nicht sein", beschwichtigte Siebenlist, "schließlich reden wir miteinander, dass ist schon ungewöhnlich genug, finden Sie nicht."
"Raaaaaa!" sagte Rocko, der für Augenblicke völlig vergessen, hatte, dass er mit jemandem sprach, der auf zwei Beinen lief und statt Flügeln Arme hatte, mit denen er flattern konnte, soviel er wollte, er würde nie fliegen können.
"Ich schlage vor, wir frühstücken erst einmal und bereden dann alles Weitere", sagte Siebenlist.
"Frühstücken?" Der Begriff Frühstück hatte in Rockos Vokabular noch keinen Platz.
"Sie werden schon sehen", sagte der Professor, der jetzt, nachdem er aus seinem Lieblingstraum so hart gelandet war, wieder zu sich gefunden hatte. Wenngleich er noch immer verwundert darüber war, wie fließend er sich mit einer Krähe unterhielt, die - das hatte sie selbst gesagt - Rocko hieß.
"Sagen Sie, Rocko, sind alle Krähen wie Sie?"
"Wie meinen Sie?" fragte Rocko.
"Na ja, Sie sprechen."
"Hmmm", machte Rocko, nicht sicher, ob er das sagen dürfte, aber dann fiel ihm ein, dass er man ihn heute früh ausgestoßen hatte. "Eigentlich ja."
"Was heißt eigentlich?"
"Sie könnten wenn sie wollten. Aber sie wollen nicht. Sie sagen, das gäbe nur Ärger."
"Aha! - Nun, wollen wir dann?"
"Frühstücken?" fragte Rocko.
"Ganz recht. Wollen Sie hinter mir her fliegen oder lieber auf meiner Schulter sitzen oder wie hatten Sie sich das vorgestellt?"
"Äh - wenn Sie nichts dagegen haben, säße ich schon recht gern auf ihrer Schulter", sagte Rocko.
"Nur zu", sagte Siebenlist.
Rocko hüpfte vom Schrank, breitete die Flügel aus und landete zielgenau auf Siebenlists rechter Schulter. Siebenlist spürte einen leichten Luftzug und roch den Geruch von in Staub gebadetem Gefieder.

 

Di 27.01.04   10:45

Der eine ist unkündbar. Er hat zwar keine Ahnung, wie es weitergeht, wenn die Musikschule geschlossen wird, aber er ist unkündbar. Schöner Zustand. Man kann sich darauf ausruhen wie auf einem Sofa.
Er war gestern Abend der Übungsleiter. Ich war der Aushilfstrommler.
Früher hatte ich einmal die Woche mit ihm und zwei anderen hier Musik gemacht, bis ich es nicht mehr aushielt und ausstieg. Das liegt drei Jahre zurück und ich war gespannt, ob sich etwas verändert hatte. Ob man z.B. gelernt hatte, ein Stück einzuzählen und gleichzeitig zu beginnen. Aber immer noch trödelte sich jeder irgendwie ins Stück. Noch immer herrschte die gleiche Sprachlosigkeit, erdrückend und in jeder Hinsicht unbefriedigend.
Das heißt, doch!
Es hatte sich doch etwas verändert: früher wurde in den Pausen gekifft, gestern nicht.
In der momentanen Besetzung spielen ein Studienrat, ein promovierter Psychologe, ein Computer-Spezialist und eine Hauptschule-Lehrerin. Die reguläre Trommlerin ist Fotografin und macht augenblicklich Urlaub auf den Kanaren. Damals waren es der Unkündbare, der Computer-Spezialist, ein Diplom-Pädagoge (Oberkiffer), die Hauptschul-Lehrerin und ich.

 

Mi 28.01.04   13:16

Gestern las ich aus Der Vogel und der Zauberer meine neue Geschichte. Ich hatte eine Zuhörerin. Sie saß mir gegenüber auf dem Sofa. Wir tranken Riesling Sekt. Weil sie meine Lieblingszuhörerin ist, war ich aufgeregt. Zum Glück konnte ich sie überzeugen.

13:59

Und was erfahre ich heute?
Nun - der Verlag wisse nicht recht, wer so eine Geschichte lesen solle.  
Sie überfordere das zeitgenössische, in kurzen Schnitten und rasanten Abläufen sozialisierte Kind.
Zudem zwinge die wirtschaftliche Lage zur Vorsicht! -

Der Schreiber M. brauchte einen Moment.
Dann fragte er, ob man sich noch an die Birkenbande erinnere.
Ja, natürlich.
Er hakte nach und bot an, die Birkenbande zu überdenken. Das heikle Thema des von den Kindern entdeckten Exhibitionisten in einen Diebstahl umzuarbeiten. Einen Bankraub. Irgendeinen Kriminalfall.
Und daraus eine Serie zu machen.
Mit maximal drei Romanen. Jeder in sich abgeschlossen.
Wäre es das, wovon der Verlag träumt? Wobei er sich sicher wäre?
Ja.
Ein sofortiges und unmissverständliches Ja.
Nun darf man dreimal raten, was der Autor tun wird...
Natürlich! Er ist ja kein reicher Schnösel. Er hat es nötig. Bitter sogar.

Und schon ist er bei der Arbeit.

Tilli, Geige und die Birkenbande

 

14:21

Und hier der Cover-Entwurf für Das Vampir Programm

 

17:10

The Future lies bright ahead.

 

Do 29.01.04 10:23

Wurde beim Schneeschippen von Badewannen-Jupp mit einem herzlichen "das ist wohl das erste Mal, dass du richtig arbeitest" begrüßt.
"Das siehst du falsch", antwortete ich, hätte aber auch fragen können, wie er sich richtige Arbeit vorstellt und ob er vielleicht meinen nächsten Roman schreiben möchte.

In jedem Fall mag der Leser ermessen, wie tief verwurzelt Vorurteile in den verschiedenen Schichten begraben liegen: Kopfarbeiter, Handarbeiter, Unterleibsarbeiter, Nachtarbeiter, Schlafarbeiter, Traumdeuter: jede Menge Arbeit, die jedoch ganz und gar unterschiedlich bewertet und oft ungerecht bezahlt wird.

Ich stand bei der Eröffnung des Rundganges der Kunstakademie gestern zum Beispiel mit einem Menschen beieinander, der im Jahr 700.000 Euro verdient. Nicht, dass er besonders intelligent gesprochen- , ein goldenes Händchen oder sonst etwas gehabt hätte, nein, er war gut gekleidet, schlank, Anfang Vierzig, war aber der Oberboss einer Landesbank (sagte mein Gewährsmann, ein Oberstaatsanwalt).

Solche Typen wollen in der Hoffnung
auf baldigen Wertzuwachs billig Bilder einkaufen. Solche Typen wie ich werden von den Künstlern als "mein Sammler" vorgestellt. Die Künstler versuchen derweil so brummig und abweisend zu sein, wie nur eben möglich, um sich die bittere Erkenntnis, dass Kunst auch nur eine Ware ist, vom Leibe zu halten.

In der Eröffnungsrede ging es darum, dass die Kunst niemandem diene, nur sich selbst. Da lächelte Herr M. und wandte sich ab. Flanierte. Ging hierhin und dorthin. Vertraute dem ersten Blick. Den richtigen Rundgang wird er am Samstag machen. Da ist jede Menge Zeit für Einzelheiten. Aber er weiß schon, was er sich genauer anschauen wird. Und angenommen, er hätte Geld übrig (was er nicht hat) wüsste er auch schon, was er kaufen möchte. Dumm ist nur, dass an den Wänder seiner Wohnung kein Platz mehr ist. M. müsste auf der Stelle reich werden. Dann könnte er ein Haus bauen, in dem ein Billiardzimmer wäre und eine Bibliothek, und natürlich jede Menge Platz für Bilder.

Weißes Land. Sonne. Ich nehme an, der Winter findet heute statt. Werde also gleich spazieren gehen.

 

Fr 30.01.04   12:05

Dies ist ein worst-case-management, will sagen, ich stelle mir vor, all meine Felle wären davongeschwommen, und mir wäre nichts als die (auch nicht mehr frische) Manneskraft geblieben.
Was könnte ich tun?

Das letzte Mal habe ich mich als Gärtner verdingt. Noch zu DM Zeiten habe ich Hecken getrimmt, Bäume gestutzt, Rasen gemäht, Gärten von Unkraut befreit, Schotter gefahren, gewalzt, Wege gepflastert.
Ob man mich noch näme, wenn ich dieses Jahr wieder fragte? - Zweifel sind angebracht.

Wäre es möglich, meine Lieblingsbeschäftigung zum Beruf zu machen?
Anzeigen zu schalten? Mich als Begleiter anzupreisen. Humorvoll, kunstsachverständig, zu jedem Scheißdreck bereit. So ein Abend mit mir wäre nicht billig. Er müsste schon so viel einbringen wie eine Lesung.
Aber wer will schon mit einem alten Sack wie mir auf die Straße? Zumal ich nur noch vier Zähne habe.

Ich muss also meine Strategie wechseln.
Heißt das, nach fast vierzigjähriger Weigerung doch noch mit dem Lotto-Spielen zu beginnen?
Sich an diese 1:140.000.000 Chance zu klammern wie ein Ertrinkender? -
Hatte ich es je so weit kommen lassen wollen? - Nein, hatte ich nicht!!!

Dies ist ja auch nur ein worst-case-management.
Ich könnte mich mit Hilfe befreundeter Mediziner vielleicht aus dem Verkehr ziehen lassen.

Früh verrentet, spät krepiert, eingesargt und dann kremiert....

Was bliebe sonst?

Ich weiß: die fünfte Jahreszeit.
Dass ich nicht eher drauf gekommen bin.
Natürlich.

Ich werde Büttenredner. (wie mein Vater)

Mein Volk, ihr Narren, die ihr roten Nasen schätzt und
jedes Jahr die gleichen Messer wetzt und
gern vor Freude fremde Münder küsst
wie schön, dass ihr bald sterben müsst.

Beruhigend, liebe Narrhalesen
wie ihr mit Pech und Schwefel in die Grube rauscht
wie innig jeder des Pastoren Büttenrede lauscht
als wären alle froh und ihr nie hier gewesen.

Mit hohlem Rums setzt eure Kiste auf
ein Luftballon fliegt still davon und Blumen sinken nieder
der Pastor legt noch ein paar Schaufeln Kohle auf
wir senken unser Haupt und sehen euch nie wieder.

13:24

Ja, ja, ja, genauso.
Gestern den einen Roman verkauft, heute den andern?
Möglich, Freunde.

 

Sa 31.01.04    12:50

Ich weiß, es wurde in unserem Jahrhundert üblich, Verdrängungen zu diagnostizieren, aufzudecken, ins Bewußtsein zu heben. Sie werden wie Krankheiten angesehen und behandelt. Seitdem weiß man, daß jeder eine verletzte Psyche hat, ein gestörtes Verhältnis zu sich, zu seiner eigenen, kleinen Welt. Und seitdem sind alle irgendwie krank. Eine Mode, die krankheitbringenden Medizin, die tödliche Wissenschaft. Was soll es helfen, Verdrängungen bewusst zu machen. Verdrängungen sind das Ergebnis einer Abwehr, das Sichwehren gegen eine Gefahr. Sie sollen dem Organismus helfen zu existieren. Ein Lebewesen versucht zu überstehen, indem es verschiedene Dinge, die es umbringen könnten, nicht wahrnimmt. Ein heilsamer, natürlicher Mechanismus. Wozu diese Leichen ausgraben, mit denen man ohnehin nicht leben kann. Schließlich, die gesamte Zivilisation ist eine Verdrängung. Das Zusammenleben von Menschen war nur zu erreichen, indem bestimmte Gefühle und Triebe unterdrückt wurden. Erst eine Menschheit, die in ihrer Gesamtheit den Psychiater benötig oder vielmehr: benötigen würde, war fähig, in Gemeinschaft zu leben. Diese Unterdrückung erbrachte das, was wir den zivilisierten Menschen nennen. (2)

17:23

Vorhin in Venedig

 

 

 

___________________________________________________________________________________
1. Franz Josef Degenhardt. Für ewig und drei Tage. Roman Aufbau Verlag 1999 // 2. Christoph Hein. Der Fremde Freund. Novelle. Aufbau Verlag 1995 //

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