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Sa 1.07.23 10:51 bewölkt, frisch

Zu Monatsanfang muss immer ein Satz her, nichts Besonderes, nur ein Satz mit vier Kommata, damit jeder weiß, hier geht es gleich weiter.

So 2.07.23 12:58 wechselnd bewölkt, sehr windig

Es geht weiter.
Statusmeldung FB
Schickt mir zwei Worte, ich mache ein Gedicht draus.
Vierzeiler. ABBA ABAB AABB.
Hier die Ergebnisse.

Dr. Ring Ding Bereuen. Oktopus: wie bereut der oktopus, dass er ständig pissen muss, ist die prostata defekt, oder hat sie sich versteckt. Mechthild Petersen Landregen, berühren: der landregen legt sich auf jedes grün, und dunstet vor sich hin, noch lieber würde er frau'n berühren, doch das würde zu ärger führen. Ursula Achternkamp Bärenklau, Schwebebahn: ein bärenklau fuhrt einst nach barmen, er wollte seine frau umarmen, die schwebebahn fiel in den fluss, danach war leider schluss. Rainer Kühn sieben, acht: sieben hatte nachgezählt, einer fehlte, das war klar, als die acht sich viel zu spät aus einer u-bahn quälte, war die neun längst da. Barbara Müller Birnenkompott, Reisegepäck: ach hätte sie doch bloß daran gedacht, dass birnenkompott blind macht, dann hätte sie ihr reis'gepäck erst gar nicht mitgebracht. Simone Van de Paß linker Schuh: mein linker schuh bog plötzlich rechts ab, was zu verwirrung führte,ich spürte eine leichte unruh, die alle frauen sofort rührte. Brit Maria Krostewitz Motte, Dichter:kreist die motte um das licht, summt sie häufig ein gedicht, eins vom dichter ganz privat denn sie findet dichter meist apart. Josef Adick Kallemann, Cola: kallemann fährt eine große wohnung, hintendran ein cabrio, nach eintausend kilometer kriegt er die belohnung, ein cola, die macht alle kalles froh. Annette Paulsen Schmetterlingskokon, Weizenbier: der schmetterlingskokon fiel in ein weizenbier, das höchst erschrocken ausrief: was willst du denn hier? Cor Ella Breakdance Flocke: breakdance löchert jede socke, in new York, london, berlin, ella die latina flocke, will mehr wissen und fährt nach stettin. Stefanie Golka Wüste, Vollmond: vollmond, die vampire schärften ihr gebiss, merkten aber ziemlich schnell, dass in der wüste nichts zu beißen is. Uschi Herzog Maulbeeren, Blutrot: eine maulbeere fiel einst vom strauch, und sortierte ihre knochen, blutrot war ihr dauerlauf, so, als hätte sie den sturz gerochen. Anne Müller Gedanken, Axolotl: in gedanken geht das axolotl um, es zermartert sich das hirn, ich bin klug, nein, oder dumm, himmel arsch und zwirn. Marijke Stein-Pen lief zijn: lief zijn, wooopie, valt best mee, boos is niet so fijn, o jeee. David Najdkowski Salsa Beach: der salsa hat am beach die frauen wie perlen aufgereiht, die herr'n versuchen diese zu versauen, die wenigsten sind da jedoch bereit.


Mo 2.07.23 12:12 bewölkt, frisch

Das Droste Festival im Rüschhaus stand unter dem Motto: Wo ist Allmende. Allmende waren gemeinschaftlich genutzte Wald- und Wiesenflächen. Dort weidete man sein Vieh, man schlug Holz. Mit Aufkommen der industriellen Revolution verschwand dieses Recht. Alles wurde privat und die Nutzung verboten. In England wurde vieles umzäunt. Das Rüschhaus und der Garten wurden mit unterschiedlichsten Aktionen bespielt. Ich sprach mit Amanda Lee Koe gesprochen, eine Schriftstellerin aus Singapore, die ein Likörglas mit blutroter Flüssigkeit in der Hand hielt und fragte, was das sei. Rote Beete. Köstlich. An einem Stand bot Julius Metzger "Heilsame Drinks" an, die er auf Basis von Milchsäurekristallen herstellt. Ich probierte auch die Mispel, allerdings die südeuropäische Variante der Frucht, die wir im letzten Herbst geerntet hatten. Wir hatten sie zu Marmelade verarbeitet, die nicht schmeckte. Das sei dann wohl die japanische Variante gewesen, meinte Julius. Bei Mimis Altwaren fand ich schwarze Lackschuhe. Bezahlen musste ich mit dem Anhören ihrer Geschichte. Meine Lackschuhe haben ein langes Leben an den Füßen eines Orchestermusikers im Orchestergraben der Semperoper gelebt. Die leicht abgestoßenen Spitzen sind Folge des Taktschlagens. Ab sofort werden sie Tango tanzen. Am Abend des ersten Tages trat Hans Unstern auf. Viel Elektronik, eine selbstgebaute E-Harfe, quäkendend vorgetragene, unverschämte Poesie der Erfahrungsräume unangepasster Körper, so formulierte es das CFL Programm. Eine interessante Performance. Beide Musiker wussten, was sie taten, es gab berührende Momente, aber im Großen und Ganzen gefiel es mir nicht. Vielleicht rebellierte auch nur der CIS Mann in mir, der durch Hans Unsterns exzentrisches Auftreten verunsichert nicht recht wusste, was er davon halten sollte. Ist Unstern ein verkleideter Mann, eine Frau oder weiß er einfach nicht, was er ist? Mir gruselte bei der Vorstellung, in einem unangepassten Körper zu leben. Begonnen hatte der Tag hatte mit einem Gespräch über Streitkultur: Wie wir zusammenkommen. Wie in jeder Gesprächsrunde redete man viel und erklärte nicht wirklich. Großartig dagegen am Tag darauf die Performance Forever Allmende von Costa Compagnie, die alles aufs Tapet brachte, was man über Allmende wissen sollte. Am Abend des zweiten Tages stürzte ich beim Betreten der Diele vom Hellen und Halbdunkle kommend über einen Hocker. Ich fiel vornüber, meine Elektrozigarette, die ich in der linken Hand hielt, drückte sich beim Aufprall auf einen zweiten Hocker in den rechten Augenwinkel meines linkes Auge. Alle waren erschrocken, ich auch. Eine junge Frau sagte, schauen Sie mich mal an. Sie studierte mein Auge und sagte, gerissen ist nichts. Heut ist es schon fast wieder gut.


18:20

ich verplempere den tag
wie ich eben plempern kann
schreibt mir einer einen plan
fang ich gar nicht an
ich verplempere pleplem
komme aus dem staunen nie heraus
bin ein walross dichter hans im glück
wind und hund und plempere am stück
mir gehör'n schlaraffenland und hölle
himmel lachen das gewölle
aller schwarzhaarigen frauen
und das beste ist
ich kann gar nichts versauen


Do 6.07.23 00:25 hat geregnet

Das mit dem 49Euro Ticket sagt sich so leicht, man setzt sich in den Zug, zack, ist man da. Wenn man aussteigt und laufen muss, schränkt das den Erkundungsradius ein. Außerdem ist es vielleicht heiß, dann sucht man ununterbrochen Schatten, schwitzt und stellt sich die unnützesten Fragen. Deshalb hatte ich auf den letzten beiden Reisen mein Rad dabei. Ein E-Bike, das ich noch vor nicht allzulanger Zeit für zumindenst meinen Anteil an der Genesung der Welt hielt. Jetzt weiß ich es besser. Es ist aber leider geil. Hundert Meter vom Bahnhofseingang Emden steht das erste Hinweisschild für meine Tour. Was heißt Tour? Auf der groben Radfahrerkarte vom Touristen-Info stehen Namen, die ich noch nie gehört hatte, Pewsum, Pilsum; Visguard, Freepsum, Canum, dabei will ich nach Greetsiel, das, soviel kann ich vorweg nehmen, totgeliebt wird. Aber wie bei allen großen Lieben achten die wenigsten auf das Drumherum, und das ist großartig. Kaum zwei Kilometer gefahren sagt ein Hinweis, dass die Route nach Hinte gesperrt sei. Umleitung. Ich teffe zwei Männer auf Rädern ohne Unterstützung. Wir besprechen schulterzuckend die neue Lage. Die Männer diskutieren weiter, ich fahre los, fahre 500 Meter zwischen den Säulen unter der Autobahn, erreiche eine Hauptstaße ohne Hinweise und denke, linksab. Ich treffe sie noch dreimal. Jedesmal diskutieren wir, denn auch sie scheinen all diese Namen nicht zu kennen, die auf den Hinweisschildern auftauchen und ständig wechseln, wo es doch das einfachste wäre, zu sagen, die Route heißt so und so, fertig. Sie heißt auch so und so fertig, verliert sich aber auf meiner Tour mehr als fünfmal, was immerhin dazu führte, dass ich auf den tiefsten Punkt Deutschlands (bis man einen noch tieferen fand) im Freepsumer Meer stoße. Auf dem Weg dorthin, eine Sackgasse, die an einem der viele Kanäle endet, sehe ich einen bussardgroßen Vogel mit Schleierschwanz. Der Mann vom Nabu in Greetsiel hatte von sowas noch nie gehört. Ich habe ihn heute gegoogelt und auch nicht gefunden. Aber ich hab ihn gesehen. Ich kehre also um, bin in diesem Warftdorf Freepsum und wieder verliert sich die Spur, bis nach Kilometern Pewsum auftaucht, gerade richtig, denn ein Gewitter ist aufgezogen. Es kracht, es gießt, aber ich sitze in einer Eisdiele. Ende. Aufbruch. Der nächste Wegweiser führt in eine Himmelsrichtung, die mir wiederstrebt. Ich folge dem Weg dennoch, werde nach zwei Kilometern unruhig, ringsum Windräder, überall Windräder und herzzerreißende Wolkenformationen, dann schließlich doch ein Hinweis auf Greetsil. Links am Horizont der mächtige Kirchturm von Pilsum. An der ersten Fischbude in Greetsiel, eine schmuddelige Angelegenheit, esse ich einen Matjes. Ich esse ihn op de staart, fass ihn also am Schwanz und hänge ihn mir in den Rachen. Das freut eine Touristin neben mir, so wie das muss, sagt sie lachend. Ich kann nichts sagen, ich kaue. Das Dorf ist wunderhübsch, aber ich sehe zu, dass ich an die Ley komme, ein Fluss, wenn ich das recht verstanden habe, eine Landschaft die Leyhorn heißt, eine Bucht, genauer gesagt, Naturschutzgebiet, weidenden Schafe, Deiche und weite, windgefurchte Flächen. Ich will das Meer sehen, ich hatte gedacht, Greetsiel läge am Meer, aber ich muss noch mindestens vier Kilometer vor, auf, und hinter dem Deich durch die Marschen, eh ich an der Leyhornbucht das Meer sehe, ein bräunliches Meer, nicht sehr einladend, ich jedenfalls würde dort nicht schwimmen, aber vorm letzten Deich und zwischen den Dünen ist ein großer Parkplatz mit Zahlschranke. Und nicht weit ist der Leuchtturm von Pilsum. Zurück im Dorf mache ich ein paar Fotos, was nicht einfach ist bei den vielen Menschen dort und treffe die beiden Männer ein drittes Mal. Sie fragen mich, ob ich ein Lehrer sei, sie hätte über mich geredet und spekuliert. Nein, Schriftsteller, sage ich. Ah, Intellektueller. Nein. Alter Schriftsteller auf dem Rad. Wir lachen. Ich Touristenbüro erkundige mich, ob Busse nach Emden fahren und Räder mitnähmen. Das hinge vom Busfahrer ab, sagt man. Er führe in einer halben Stunde. Ich überlege. Bis Norden sind es 16 Kilometer. Die mache ich in einer dreiviertel Stunde und nehme in Norden den Zug, also los. Die meiste Zeit unter einem Binnendeich der Ley folgend mit ordentlichem Rückenwind, müheloses Fliegen bis auf drei, vier Kilometer mit kräftigem Gegenwind. Norden ist ganz hübsch, aber nicht so hübsch, wie ich gedacht hatte, außerdem will ich heim, ich werde müde, ich bin seit halb acht unterwegs, habe 60 Kilometer gestrampelt, also trinke ich in einer sehr gediegen eingerichteten Privatrösterei einen Kaffee, nutze deren blitzsaubere Toilette für das Geschäft, das seit der Abfahrt Münster auf Erledigung wartet, steige in den Zug, warte in Emden eine halbe Stunde auf den Anschluss, der mir wegen eines vorausfahrenden langsamen Güterzuges den Anschluss in Münster versaut, sodass ich die Heimfahrt mit dem Rad erledige.

13:56

der rosafarbene bolero
mit fransen, minirock und heels
noch höher als burj khalifa
ist kaffeebraun und weich
fehlt noch dass ich vor lust
vom roller stürze ihr zu füßen
sie bitte mir doch diese stunde zu versüßen
mit ihren pheromonen aus dem siedendheißen afrika
würd mich durch ihren kraushaarteppich schleichen
die glocken läuten und nicht eher weichen
bis sie den laut ausstieße ich wär' da
die ampel springt auf grün
ich mache ein gedicht draus wunderbar
mein großes glück fortune fortune


Fr 7.07.23 15:33 sommerlich

ich werd ins wasser gehen
fische seh'n und ozeanriesen entern
an einer langen theke stehen
und saufen bis die sterne kentern


17:23

ich gebe keine letzte warnung
ich bin ein mann der nicht bereut
das freundliche an mir ist tarnung
es ist das böse das sich freut


22.34

hänschen klein, diese sau
macht die erde put au au
wann besinnt sich das kind
macht sie heil geschwind

22:45

nach der blauen stunde leg ich mich ins grab
das ich morgen früh vielleicht verlass
säg da unten alle bäume ab
dass ich was zu schnarchen hab.


Sa 8.07.23 12:48 hochsommerlich

Die Hoffnungsmaschine trinkt zum Abend gern Rotwein. Wir kaufen ihn beim Portugiesen auf der Wolbecker Straße für 12.50 in 5 Liter Kartons. Manchmal fragt sie, ob ein Karton pro Woche schon Alkoholismus sei. Wir zucken die Achseln. Fühlt sich nicht so an, sagen wir. Dann wird das wohl stimmen, sagt sie. Gestern abend war der Karton leer. Vorhin setzte ich mich auf die Aprilia und fuhr in die Stadt. Viele Straßen Münsters haben Spurrillen, Löcher im Asphalt, Gullideckel liegen ein paar Zentimeter unterm Niveau des Straßenbelages, Gullideckel sowieso, gebrochene Fahrbahnen, handbreite Risse. Ein übersehenes Schlagloch schlägt vom Steiß bis ins Hirn. In der Stadt ist es viel heißer als hier. Es riecht auch nicht gut. Beim Portugiesen auf der Wolbecker geht es, da stehen ein paar Linden. Die Portugiesin, eine kräftige, grauhaarige kleine Frau, fragt immer, wie es der Liebsten geht, ob ihr Garten gedeihe, und war wir so machen. Heute Abend tanze ich Tango am Kanal, sagte ich, und demonstrierte ihr ein paar Schritte in Tanzhaltung. Das gefiel ihr. Hätte sie's gekannt, sie hätte Potztausend gesagt, so sagte sie Ola. Dass jemand der Frau sagt, wo's lang geht, hat sie beeindruckt. Ich sitze im kühlen Zimmer, alle Einkäufe sind getätigt. Ich schleife an meiner Kernkompetenz, dem Nichtstun, das irgendwann in Glück münden wird, falls es das nicht längst ist, und ich es nicht merke, weil ich zu dumm bin. Also Üben und sich freuen, wenn wieder eine unrunde Stelle geschliffen ist. Dabei allerdings ständig mit dem Fluchtimpuls kämpfen. ADHS gehört auch zum Glück. Eine Tätigkeit abbrechen, weil einem etwas einfällt. Bei mir ist es oft das Klavier. Oder das Schlagzeug. Oder eine Statusmeldung. Ein Text. Irgendetwas, das ich aus der Küche holen will, wo ich dann feststelle, dass ich vergessen habe, was? Nachgeben. Nicht in Panik geraten. Ihm alles verzeihen. Ach, Wasser, stimmt. Das 120 cm lange Seitenschläferkissen in die Sofaecke knicken, reinlegen und die Augen zumachen. Der Magen knurrt. Es ist still. Dreißig Grad wird es haben da draußen. Zum Tanzen werde ich Schwimmzeug mitnehmen. Die Hoffnungsmaschine vibriert freudig.

15:01

geduscht gelagert
kühles wasser gras
dordogne tourteams durchgekadert
geerntete getreidefelder
der himmel blau und blass


So 9.07.23 10:42 es wird heiß

Es sind die Tomaten, die meiner Liebsten die größten Sorgen bereiten. Sie müssen gegossen werden, der Garten ist etwa 8 Kilometer entfernt und heute ist sie dran mit Gießen. Gegen acht fuhr ich sie auf der Aprilia hin. Ich war noch nicht in der Welt und ein bisschen verunsichert wegen des Fahrens zu zweit, denn das ist ganz anders, als allein unterwegs zu sein. Kurven, Bremsen, Anfahren, Ausweichen. Alles wird anders berechnet. Jede Bodenwelle, jedes Schlagloch schlägt doppelt duch. Du Luft fließt, noch ist es frisch, hier und da süßer Lindengeruch. Die Schatten auf der Fahrbahn machen Verwerfungen erst spät erkennbar. Nach halber Strecke fühl ich mich wieder sicher. Jetzt fahre die Aprilia fast so, als wäre ich allein unterwegs. Ihr Garten wirkt wie aus der Welt gefallen, so ruhig. Ich setze mich auf die Bank vorm Haus, sie schleppt Wasser. Ich könnte das auch, aber ich bin nur Gast. Ich konnte es ihr nicht mal beim Unkrautjäten recht machen, seitdem rühre ich im Garten keinen Finger mehr. Zuhause frühstücken wir. Die Jalousien sind herabgelassen, 30 Grad, Hände hoch, keine Bewegung. Heute Nachmittag Tour de France.

Di 11.07.23 17:05 heiß

Ich schleiche im Schlüpper somnabul durch meine schattige Villa, die ich seit fast einem halben Jahrhundert bewohne. An den Wänden Erinnerungen an meine größten Erfolge. Der rote Teppich in Everswinkel. Die Nobelpreisverleihung in Bad Oeynhausen. Platz 1500 in den Verkaufsrängen von Amazon. All das tröstet mich über die siechenden Ehen der Nachbarschaft, die halbnackten Frauen, die Straßen und Busse bevölkern, die Streubomben, die tödliche Gier des Kapitals und die ausbleibende Revolution. Ich fülle Kühlflüssigkeit nach und erörtere den Einsatz Synapsen befeuernden Drogen. Gesellschaftlich eher unten als oben kann ich entspannt abledern über das Grauen der Gegenwart, das das Grauen der Vergangenheit, das Grauen der Menschen seit ihrem Erscheinen auf diesem Planeten ist. Ich trinke einen Eiskaffee. Der Tag ist noch lang nicht vorbei. Ich werde mit hoher Wahrscheinlich überleben. Viele andere nicht. Es ist 32 Grad.


Do 13.07.23 10:10 sonnig und angenehm

gedicht vom dorfschreiber m. für walter gödden

der mütterliche benz ist strahlend weiß,
herr g. steigt aus und lächelt schüchtern,
er ist auf hausbesuch beim dichter m. und weiß
er ist im dienst, und dabei bleibt er nüchtern
man sitzt bei kaffee, kuchen, m. raucht kraut
herr g. setzt sich ans keyboard, eine katz miaut,
herr g. träumt einen lebensabend mit musik
die katz kommt rein, und registriert ein kleines glück,
der eine mag den anderen und umgekehrt,
und beide haben sich von literatur ernährt,
der dorfschreiber schiebt g. noch ein gedicht unter die haut,
dann muss g. fort, er hat termine, doch am himmel baut
sich unausweichlich schon ein and'res leben auf,
eines mit muße, kunst, kultur und rock'n roll,
hach, das wird toll.


19:50

Seit gestern ist Atmen wieder eine Freude, die Temperatur ein angenehmer Freund und so sitzt Herr M. im Marktcafé, die Hoffnungsmaschine steht unterm Tisch. Er hat ihn für sich. Der Markt ist fast so lebendig, als wäre hier Süden. Der Cappuccino könnte deutlich besser sein, aber der Platz ist gut. Eine Kladde liegt auf dem Tisch, daneben Brille, Stabilo Pointer und E-Zigarette. Ein großer Mann, lichtes Haar, blaues T-Shirt und Dreiviertelkargohose fragt, ob er sich dazusetzen dürfe. Natürlich, sage ich, und knipse die Maschine an. Sind Sie nicht der Dichter aus Roxel? sagt der Mann. Ich lache laut. Der war gut, sage ich prustend. Scheint so, sagt er und steckt sich eine Lucky an. Kann ich auch eine? Natürlich. Er sitzt hier, weil seine Frau einkaufen ist. Zwischendurch ruft sie zweimal an und macht Meldung. Ihn interessiert meine Arbeit. Ich erkläre ihm, dass ich im Grunde nichts weiter tue, als auf den richtigen Moment zu warten. Und wie lange brauchen Sie für ein Gedicht. Manchmal keine Minute, manchmal Tage. Er kommt aus bescheidenen Verhältnissen. Geld immer ein Problem. Das wollte er ändern. Ich war Chef der WL Bank, sagt er. Dabei kann ich gar nicht mit Zahlen. Ich kann gut mit Leuten. Und wie ist er dahingekommen? Ich hab angefangen, BWL zu studieren. Meine Helden waren Brandt und Schmidt. Ich war auf jeder Demo. Einmal hat mich jemand auf eine Jura Vorlesung mitgenommen. Der Professor zog einen Zettel aus seiner Jacke. Sie käme frisch aus der Reinigung, nahm den Kasselzettel, und erklärte in anderthalb Stunden die rechtlichen Verpflichtungen, die Reinigung und Kunde bei so einem Vertrag eingingen so klar und eindeutig, dass ich mich sofort für Jura eingeschrieben habe. BWL hatte mir sowieso nicht gefallen. Er ist 81. So viel älter ist das auch nicht, sage ich. Ach, sagt er, achtzig ist nochmal wieder was anderes. Das Telefon. Jetzt muss er los. Ich gehe einen Matjes essen.


Sa 15.07.23 12:35

ein mann
häkelt sich einen heil'genschein
sein kopf tobt vor begeisterung
sein lebenslanger freifahrtschein
ist plötzlich wieder jung

13:54

Strugatzki: Der ferne Regenbogen

Und ihre Welt des Hastens, der ausgeklügelten Streitgespräche, der ewigen Unzufriedenheit und Besorgnis, diese gefühlstote Welt, in der das Klare verachtet wurde, in der man nur am Unverständlichen Gefallen fand, wo die Menschen vergaßen, daß sie Männer und Frauen waren - das alles befand sich weit weg.


Mo 16.07.23 2:12

In der Bahn von Roxel starrten die meisten auf ihre Handys. Blonde, braun- und schwarzenhaarige Menschen, jung meist, ich im Umkreis der Älteste. Manchmal flog ein Lächeln über Gesichter, und ich freute mich mit. Ein drei-vierjähriges Mädchen, das alles wissen wollte von der Welt, streckte ihren Arm hoch und winkte mir. Ein milchbärtiger junger Mann neben mir und eine junge Frau gegenüber sprachen übers Kennenlernen. Sie hat rostrotes Haar, lockig bis auf die Schultern, das ihr Gesicht rahmt. Es ist viereckig mit kräftigem Kiefer, einem kleinen, sehr entschlossenen Mund und grünen Augen. Dazu ein hübsches Top, geschnitten wie ein BH in den Fünfzigern. Sie wisse nie, was sie sagen könne oder was überhaupt zu sagen wäre, wenn sie jemanden kennenlerne, sagte sie. Aber du sprichst doch mit mir, sagte er. Ja schon, aber ich weiß nie was. Er darauf: das wird schon. Und dann, fast anklagend: nur wenn ich eines nicht abkann, ist das so eine aufgeladene Stille. Sie schwiegen. In Münster warte ich auf den Anschluss nach Osnabrück. Ich bin ein bisschen aufgeregt, weil ich zum ersten Mal ins Blue Note zum Tango fahre. Ich setze mich auf eine Bank. Tango tanzen wird sich die Frau neben mir kaum vorstellen können. Sie hatte nie eine Chance. Aufgeben wird sie trotzdem nicht, aber was zu tun wäre, weiß sie ums Verrecken nicht, und es gibt niemanden, der ihr helfen könnte. Ihre Tochter schon gar nicht. Sie hat strähniges, dunkelblondes Haar, und sitzt vorübergebeugt in einer Chipstüte wühlend. Sie trägt eine dioptrinlastige, beschlagene Brille. Im Zug gerate ich an einen Vierer. Zwei Plätze sind besetzt, der in Fahrrichtung ist frei, auf den setze ich mich und irgendwie entwickelt sich mit der Frau gegenüber und einem Mann neben mir ein Gespräch. Sie ist sonnengebräunt, naturblond und um die siebzig, er ein trainierter, mittelgroßer Mittdreißiger mit Armschiene links, schwarzen, fingerlosen Handschuhen und Militärcap. Es beginnt mit Spekulationen über Fahrtrichtungen, und geht bis Osnabrück hin und her geht. Wenn ich fragen darf, beginnt der junge Mann häufig, und so kommt zutage, dass sie vierzehn Tage auf Borkum war, wo es gar nicht so voll war, wie sie gedacht hatte. Ist wohl alles teurer geworden und die Leute können sich das nicht mehr leisten. Er hatte seine Mutter in Papenburg besucht. Mama hatte Geburtstag. Ich führe zum Tango nach Osnabrück. Er habe eine Methode entwickelt, mit denen man die Augen trainiere, drei Minuten täglich, das stärke Muskeln und Hirn, dass man keine Brille mehr brauche. Darüber könne er eine Doktorarbeit schreiben. Aber da müsste ich studieren, oder? Ja, das müsste er wohl. Ich helfe der Frau mit dem Koffer die Treppe hinunter in die Vorhalle. Ich schiebe ihn vor mir her, was sie erstaunt. Dann fährt er mir nicht in die Hacken, sage ich und mache mich auf den Weg zum Blue Note. Eine Viertelstunde die große Straße hinab über drei Ampel, gleich hinterm NOZ Gebäude. Unterwegs esse ich Falafel an einem syrischen Imbiss.


Di 17.07.23 12:53 sonnig, angenehm

Ein leichter Wind weht durch die breite Straße. Die Häuser sind vier bis fünfstöckig, die Sonne schneidet Lichtkorridore. Hier mal ein Auto, da ein paar Fußgänger. Der Ticketverkäufer im Cineplex, den ich nach dem Blue Note fragte, weil ich es dort vermutete, sagte, nein, nein, das ist im Arthouse Cinema. An der Kreung rechts, drei Ampeln, dann sind Sie da. Nach der ersten Ampel klicke ich meinen digitalen Lokator an. Der große Bruder identifizierte mich sofort. Er könnte jetzt eine Drohne losschicken. Sirrend wie wütende Hornissen würde sie sich mir von hinten nähern und mich erschießen. Aber Tänzer erschießen sie nicht. Tänzer könnten noch gebraucht werden, denn sie wissen, wo ihre Achse ist, halten die Waffe ruhig, zielen konzentriert und könnten Projektilen der Gegenseite mit eleganten Bewegungen ausweichen. Aber zum Glück ist ja kein Krieg. Das Fernsehen ist bunt. Alle sind sediert. Hier bin ich, sagt der blinkende Lokator, und da hinten, der rote Punkt, das ist das Blue Note. Ich betrete das Kino. Die neuesten Fassgungen von Mission Impossible und Indiana Jones werden gezeigt. Indiana Jones habe ich vor dreißig Jahren gesehen und war gut unterhalten. Ich folge einer weit geschwungenen Treppe, durchquere ein Restaurant, einen Dachgarten und bin da. Schön, denke ich, zahle, esse ein Praliné, das auf einer Schale beim Empfang steht und schaue mich um. Noch nicht viel los, aber es hat ja gerade erst angefangen. Da hinten, vier Münsteraner. Derentwegen bin ich nicht hier. Ich bin hier, um neue Tänzerinnen zu entdecken. Eine saß direkt hinter mir. Blumenschmuck im hochgesteckten Haar, dezent geschminkt, dirndlähnliches Oberteil, aber blau-weiß mit freien Schultern, rote BH-Träger, lachsfarbener Plisseerock bis an die Enkel, silberne Highheels. Czardasfürstin, dachte ich und tat eine Weile nichts anderes, als mich umzuschauen, denn eh ich jemanden auffordere, würde ich schon gern wissen, ob es sich lohnt oder nur mühsam wäre. An die Fürstin traute sich keiner ran, bis ein kahlköpfiger, sehniger Mann in Tangohose und T-Shirt auftauchte. Die beiden begrüßten sich herzlich und begannen zu tanzen. Deide fortgeschritten. Nun ist die Sache so, auswärts bin ich oft mutiger als in der engen Szene zuhause, die klatscht und tratscht und um sich kreist wie die Fliegen um Hundekot. Ich hatte mich also entschlossen. Als sie sich wieder setzte, kamen wir über ihre über die Stuhllehne hängende Jacke ins Gespräch. Sie sah aus wie ein prächtiger Kimono, aber, erfuhr ich, das war nur das Innenfutter. Wenig später tanzten wir. Sie war in Sorge, weil ich barfuß tanze, aber ich versicherte ihr, meine Füße seien schnell. Wie meine Zunge, sagte sie, und ich weiß noch immer nicht, was das bedeuten sollte. Die erste Nummer der Tanda tanzten wir in klassischer Kennenlernhaltung, danach tanzten wir eng, und das behielten wir zur beidseitigen Freude bei. Wir tanzten drei Tandas über den Abend verteilt. Das Gerücht, Tango sei ein erotischer Tanz, hatte sich zum ersten Mal seit langem wieder bestätigt. Sie rollte das R, ich dachte, mit der Czardasfürstin läge ich richtig, aber sie stammt aus Russland. Ist in den Achtzigern hergekommen, Russlanddeutsche aus Waldheim, einem 1000 Seelendorf irgendwo in Sibirien. Ist seit zwei Jahren verwitwet, frei, sagte sie, endlich frei, hat eine behinderte Tochter und einen Sohn, der Helmut heißt und elf Kinder hat. Sie schwärmt von Familie. Familie sei ihr ein und alles. Sie feierten nicht nur die kirchlichen Feste, die Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen, nein, sie feierten auch zwischendurch, sie mieteten Säle, weil die Familie so zahlreich sei. Die sportliche Variante des Tango tanzte ich mit einer Frau, die ich 2021 auf einer Corona-Milonga kennengelernt hatte. Testen am Eingang, auf das Ergebnis warten, wissen, dass so ein Test letztlich bedeutungslos ist, trotzdem tanzen. Sie war mir wegen ihrer sehr großen Nase aufgefallen. Ich liebe reaktionsschnelle Frauen, ich führe eher sanft, für manche zu sanft, die kapieren das nicht, aber zu denen gehört sie nicht. Im Gegenteil. Und wenn zwei zur gleichen Zeit in der Zeit (wenn Sie wollen, im Hier und Jetzt) unterwegs sind, sind sie unschlagbar. Am Samstag werde ich in Gütersloh tanzen. Hoch lebe das 49 Euro Ticket.


Mi 18.07.23 14:48 bewölkt, angenehm


wenn wind umgeht
und graue oberbetten
in den osten
weht
will ich mit meiner
langeweile auf
dem sofa liegen
will mehr vom nichts
und nichts vom mehr
auf meiner schaukel
hin und her
den himmel biegen
und die erde finden
verschwinden


Do 19.07.23 21:23 schöner Tag, Wolkenkino

24 Grad, leichter Wind. Die Dinkel fließt träg. Das Freibad ist fast leer. Mein Freibad ist bummsvoll, der Sommer stabil und unendlich. Aber das erzähle ich nicht. Stattdessen rutsche ich auf dem Hintern über die Stufen des Wehrs und treibe die Umflut abwärts. In einem Gehege des Stadtparks stehen die Rehe von damals, knabbern an Ästen und schauen mit großen brauen Augen auf den Zaun, die Unterkunft, den unerreichbaren Himmel und die Menschen, die ihnen altes Brot zustecken. Auf dem Gelände des Clubhauses, in dem ich Kegeljunge war, stehen hochpreisige Eigenheime, die weiß, grau beige und eckig sind, flache Dächer und designte Türen haben und hübsch geboren sind. Am andern Ende der Stadt, rund um die Schieferkuhle, in der Musikantensiedlung, der Hollandsiedlung und an der Vereinstraße wurde man nicht hübsch geboren. Da war der Mann in der Fabrik und wenn er wiederkam, war er fertig. Viel Platz war da nicht. An der Schieferkuhle sind diese kleinen Häuser gestrichen und so hübsch, wie es der Preis hergibt. Die Schieferkuhle ist größer, als ich sie in Erinnerung hatte. Als Kind war ich nicht oft dort. Man erzählte, die Nazis hätten dort Kriegsmaterial versenkt. Man hätte einen Panzer rausgeholt, hieß es. Fakt ist, dass dort zu Anfang des 19. Jahrhunderts der Gronausaurus Wegneri gefunden wurde, ein Plesiosaurier von rund 3 m Länge. Ringsum ein schmaler Weg, Eschen, zum Osten ein Kanal, kühle LED Leuchten und holländisch inspirierter Bebauung. Die Holländer bauen unbeschwerter als wir. Die Bahnhofstraße ist ein Desaster. Als vor zwanzig Jahren alles in türkischer Hand war, war sie eine lebendige Straße. Heute steht vieles leer. Es gibt noch Kebabs und den türkischen Goldschmied, aber die Luft ist raus. Bald wird zu Anfang der Straße das neue Rathaus gebaut. Danach wird sich, da wette ich, in der Bahnhofstraße einiges tun. Die erste Sprache, die ich identifiziere, ist Russisch. Die Türken sprechen alle längst Deutsch. Es gibt eine aramäische Kirche, und auf der Hohen Straße eine Mennonitenkirche auf einem Hügel, von dem niemand weiß, wie er dort hingekommen ist. Haben die Mennoniten ihn angelegt, um auf ihren friesischen Gründer zu verweisen, oder ist das nur ein eiszeitlicher Hügel in einer wohlhabenden Gegend? Das Gymnasium war um die Ecke, in den großbürgerlichen Häusern wohnten die besseren Leute: Juristen, Ärzte, Prokuristen. Die Van Delden Villa stand einen Steinwurf entfernt. Mit ihnen ist die Stadt groß geworden und vor vierzig Jahren kollabiert, daran knackt sie noch immer. Die Steine der geschleiften Fabriken wurden geschreddert und zu einer Pyramide von beträchtlicher Basis und Höhe getürmt. Sie ist Teil des LAGA Geländes, die vor zwanzig Jahren stattgefunden hat. Landesmittel. Geld von der EU. Daraus wurde ein von Kanälen durchzogenes Areal, Inseln, eine weite Fläche, aus der Wasserfontänen aufsteigen, edle Pflasterung. Für soviel Design fehlt der Stadt die Klientel. Gronau ist nicht Düsseldorf. Das Rock und Pop Museum mit den Silhouetten der großen des Rock 'n Roll und des größten Gronauers Ever dominiert den Platz. Im Schatten der Weißen Dame, eine Werkshalle des Textilbarons Gerrit van Delden, die heute unter Denkmalschutz steht und umgewandelt wird in ein modernes Wohnprojekt, stehen braunrote Arbeiterhäuser. Hintendran waren die "Betölleken", kleine Schuppen zum Garten, in denen man Hühner hielt oder auch mal ein Schwein. Auf dem Gelände der ehemaligen Baumwollspinnerei Deutschland stehen zwei riesige Hallen, blaue, eckige Zweckbauten, die nichts von der Schönheit der Bauten der Textilindustrie haben. Sie sind der Großmarkt eines türkischen Unternehmers, der es in Gronau zu etwas gebracht hat. Die Schillerschule, meine Volksschule, kaum 500 Meter von der Bismarckstraße entfernt, heißt jetzt Lindenschule. Ringsum hat man angebaut, alles ist äußerst fröhlich und kindgerecht, keine Schwingtüren mehr zum Klo, wo man in den Arsch getreten oder angepinkelt wurde, wenn man so war, wie ich
. Den kleinen Laden, wo es Zierfische gab und singende Vögel, gibt es längst nicht mehr, selbst das moderne Haus des Doktors, zu dem meine Eltern, ich und irgendwie alle gingen, steht leer. Gegenüber der katholischen Kirche sitzt ein Bettler. Neben ihm das Bild einer dunkel gekleideten Frau mit zwei Babys. Haar, Stirn, Wangen und Kinn der Frau sind bedeckt. Darunter steht, er brauche Geld um Aptamil-Milch und Windeln zu kaufen. Der Wirt des von einem Türken geführten Cafés, vor dem ich saß, hatte Besuch von der Familie und probierte das elektrisch getriebenes Spielzeug, auf dem man steht und durch Körperbewegungen schneller, langsamer, links und rechts fahren kann. Er fiel immer wieder runter, und die Kinder, ein Mädchen und ein Junge, lachten. Ich fuhr zum Coffee-Shop in Glanerbrug und dann heim. Fünf Tage später sah ich eine Bettlerin in Münster mit genau dem gleichen Schild.


Mo 24.07.23 16:08 bewölkt, immer mal wieder Regen, Gewitter

Lisa saß´auf der Fensterbank zwei Stockwerke über der Haarfabrik, wischte eine Strähne ihres dunkelblonden Haars mit der rechten Hand aus dem Gesicht, geriet ein klein wenig aus dem Lot, erschrak, das Lot beugte sich zur Straße, Lisa dachte noch, Scheiße, und fiel auf den Bürgersteig. Jemand schrie. An der Ecke stand eine Drag-Queen und winkte Lisa mit dem Zeigefinger. Sie hatte rosafarbene, lange künstliche Fingernägel. Auf dem Finger steckte ein blauer Saphir und ein schwarzer Onyx in Form eines Schädels. Ein Rettungswagen kam. Zwei Sanitäter sprangen heraus, rannten zu Lisa und bereiteten die Rettung vor. Lisa neben der Drag-Queen und fragte, was zum Teufel los sei. Wechsel der Zeitebene, sagte die Queen und schob ihren linken Busen, der außer Form geraten war, in Position. Dabei lachte sie wie ein unschuldiges Mädchen, was Lisa gefiel. Wie jetzt? sagte sie. Ach Herzchen, wen interessiert das. Die Queen schüttelte sich vor Lachen, das in einen Hustenanfall mündete, der ihr kunstvolles Make-Up von innen aufglühen ließ, so dass Lisa fürchtete, es würde abplatzen wie Keramik. Dann war sie fort. Lisa schaute links und rechts, und etwa in Höhe der Ampel schwebte sie Richtung See. Der Rettungswagen war fort. Über dem Friseursalon stand Rechtsruck in Runen, schwarz auf weiß mit roter Umrandung. Sie ging zur Haustür und kramte ihren Schlüssel raus. Er passte nicht. Ihr Name stand auch nirgendwo.



Di 25.07.23 14:57 blauweiß, könnte noch regnen

Das Licht zeichnet ein Dreieck an die Stirnwand des Zimmers. Ich schau drauf und weiß nichts mit mir anzufangen.


Mi 26.07.23 11:27 wechselnd bewölkt, frisch

wind streicht mein gegerbtes fell
unterm kinn hängt's neuerdings hängt neuerdings ein kropf
wolken wechseln rasend schnell
auf dem herd murmelt ein topf nennen mir ein lied ich sings

die sonne hat sich elegant verschämt verborgen sonnenschirm ist elegant verbogen eingeklappt
gleich wird's regnen oder nicht
freue mich auf heut und morgen hab so gut wie alle keine sorgen ging gelogen meine schuld berappt
und bestelle helles licht

hebe hefte meinen blick ins ans all
wo das staunen richtig ist
bin wie immer nirgends überall
meine fahne ist gehisst

meine wut zerschlägt wohin damit den schnitt hält mich im tritt
verhafte ich die macht hab schon heute früh heute schon die macht verlacht
halte ich mit meiner seele schritt bin auf einem seelenritt
habe meist zuletzt gelacht

ja ich habe und ich biege
mich vor schmerz und raserei
ja ich kenne große siege
und das gottverfluchte einerlei


12:52

wind streicht mein gegerbtes fell
unterm kinn hängt's neuerdings
wolken wechseln rasend schnell
nennen mir ein lied ich sings

sonne hat sich elegant verborgen
gleich wird's regnen oder nicht
freue mich auf jeden morgen
und bestelle helles licht

hefte meinen blick ans all
wo das staunen richtig ist
bin wie meistens überall
meine fahne ist gehisst

wilde wut hält mich auf trab
hab zum frühstück alles schon verlacht
bin auf einem ritt ins grab
der der hoffentlich als letzter lacht

ja ich habe und ich biege
mich vor schmerz und raserei
ja ich kenne große siege
und das einerlei


20:20

Ich war auf dem Rad unterwegs zu den Wolkenbergen im Westen. Im Garten vom Café Stift Tilbeck aß ich ein Stück Käsesahne und trank einen Cappuccino. Die Linde flüsterte mit den Liegestühlen. Der bunte Bauwagen der Münsterlandschule leuchtete. Auf dem großen Hüpfkissen johlten Kinder. Mit dem ersten Regentropfen kommt ihr aber da runter! rief Oma. Als es zu regnen begann, setzte ich mich rein. Ich kaufte frisch gerösteten Kaffee. Patienten wanderten herum. Manche sprechen mit den Gästen. Ingeborg etwa. Ingeborg fragt gern nach Zigaretten und ob man sie kennt. Als es kaum noch regnete, stülpte ich mir mein gelbes Cape über und machte ich mich auf den Heimweg. Bald wurde der Regen stärker. Dicke Tropfen zerplatzten auf dem Asphalt und verwandelten sich in aufsteigende Kronen. Kronen wohin ich schaute. Und schließlich ein Regenbogen, der auf dem Land lag, dick und behäbig, nicht so elegant wie sonst. Auf dem Hinweg war in beim Rechtsabbiegen in einer Pfütze ausgerutscht und gestürzt. Den Helm hatte ich zuhause gelassen, weil ich frische Luft spüren wollte. Alles kann so und so ausgehen, umso größer das Glück, wenn es gut geht. Ich war dankbar. Dankbar für den Regen, den Dunst über Feldern und Wiesen, die düsteren Wolken und das schneidende, nachrückende Licht.


Do 27.07.23 11:45 Regen

Ruckuukukukkuuu ruft die Taube auf dem Dachfirst fünfmal, aber beim fünften Mal lässt sie den Endvokal weg. Vorgestern früh war mir das auch aufgefallen und seitdem frage ich mich, ob Tauben bis fünf, bzw. vier zählen können. Ich gehe davon aus, dass sie das nicht können, aber wie sind sie dann drauf gekommen? Ein genetisches Pattern? Ein neuronaler Impuls? Ein Bus zischt vorbei. Die Balkontür steht offen, es ist kühl, ich trage Strickjacke und Socken. Ich habe Cappuccino gekocht. Ich lege Rarities auf. Die Beatles. Rain. Passt. Vorhin habe ich den tropfenden Wasserhahn unseres Boilers repariert. Ich muss ein Held sein. Zur Belohnung drehe ich mir einen. Die Schlagzeilen liegen vor. Ein Wirrwarr. Überall steht Gefahr. Da - Gefahr! Daaaa - Gefaaaahr!!! (Trio) Ich weiß, wie ich die Welt rette. Alle, die an der Ausbeutung der nichtwestlichen Kontinente beteiligt waren und sind, müssen sich vor der UNO entschuldigen und Reparationen zahlen. Gleichberechtigung aller Staaten. Geflüchtete erhielten Aufenthaltsrecht für drei Jahre, dürften sofort arbeiten, müssten in dieser Zeit die jeweilige Sprache lernen, um danach volle Bürgerrechte zu erhalten. Das gäbe ihnen nicht nur eine Chance, sondern auch das Gefühl, gewollt zu sein. Ich bin Träumer. Für den Kapitalismus bin ich nutzlos. Ich generiere keine Umsätze, ich kaufe nur Nötiges, ich kaufe bei Oxfam Joop, Boss, Armani, Kashmir und Schurwolle, kaum ein Teil über zwanzig Euro. Ich bin die Made im kapitalistischen Speck. Ein Nischenbewohner, der gelernt hat, wie man haushält und trotzdem nicht auf Qualität verzichten muss. Meine Witwerrente macht zwei Drittel meiner Einkünfte, meine eigene Rente den Rest. Ich spende für Ärzte ohne Grenzen, Seawatch, Volksverpetzer, Changeorg, TAZ. Ich bin Optimist in der Hölle. Sie liebt dich, yeah yeah yeah. Und ich liebe sie auch. Nach vierzig Jahren Ehe erscheint mit das Leben mit einer anderen Frau manchmal noch immer undenkbar. Aber ich liebe es. Nach allem, was ich sagen kann, liebe ich es. Dazu Terje Rypdal, der norwegische Trinker. Blue. Mit Knacks im Vinyl.


So 30.07.23 11:03 smells like rain

fünfmal sagt er
viermal sagt sie
wer war der herr
es war herr brie
machte es sinn
nein kein gewinn sagt sie
und warum tatest du's
er hatte so ein schönes knie


12:20

Einen Tag vor Monatsende muss auch ein Satz her. Vielleicht sollte ich von der Gruppe Gehörloser erzählen, die sich nach Ende der Performance von Droste Gedichten in Gebärdensprache im Gartensaal im Garten bei der Eckbank lebhaft unterhielten.


Mo 31.07.23 12:08 Regen

der regen heut
ist eher ein aggregatzustand
mein leben hat ihn gern
er reinigt und belebt meinen verstand
und hält die läuse fern

12:52

Vom 7. Juli bis zum 13 war es unbändig heiß, danach eher verhalten, häufig bewölkt, ein, zwei Gewitter, seit ein paar Tagen ist es kühl und feucht. Bleibt der August für den Sommer.

20:51

Morgen um 20:51 ist Vollmond. Vielleicht wechselt das Wetter, das tut es oft um den Vollmond herum. Das Klima kann der Mond nicht ändern, das könnten nur wir. Morgen. Morgen ist ein neuer Tag.