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Stationen - Lesetour 2005

 

27. Januar

Auf kleiner, sehr feiner Bühne treten auf: ein Dichter, ein Schauspieler plattdeutscher Zunge, ein Grandsigneur der Provinz, der Leiter einer Forschungsstelle und ein Dramaturg. Ort der Handlung ist ein Rittergut, in dem sich medialer Zeitgeist in I-Macs materialisiert: das Westfälische Museum für Literatur. Man denkt: hier war Geld im Spiel. Wenn auch jetzt keines mehr da ist, hier muss welches gewesen sein.
Es liegt Schnee, der Innenhof des Gutes ist magisch beleuchtet: blaue, in den verschneiten Boden eingelassene Lichtleisten, die die Form des Hofes spiegeln.
Der Schauspieler plattdeutscher Zunge, der Dichter und der Grandsigneur sitzen vor Beginn der Veranstaltung bei Schnittchen und Kaffee in der Bibliothek. Der Schauspieler sagt, er schreibe auf einer Olympia von 1929, einen Fernseher besäße er nicht.
Als die Rede zwei Stunden später (die Hörspielgalerie ist vorbei, man sitzt an gleichem Ort noch beisammen) auf Harald Schmidt kommt, sagt dieser Schauspieler, den habe er gestern auch gesehen, was der da mache, sei Quatsch. Der Grandsigneuer, der gerade 70, 75, oder sogar schon 80 geworden ist, silbergraues Haar hat und buschige Augenbrauen, die er ganz bestimmt föhnt, damit sie seinen hageren, ernsten Ausdruck zusätzlich unterstreichen, trinkt roten Wein.
Er hatte nach Ende des Hörspiels angemerkt, dass er es sehr kunstvoll fände, dass jedoch das Reißen der Saite einer afrikanischen Laute zum Schluss, die den Tod Marias akustisch besiegelt, ein wenig zu dick aufgetragen sei.
Nun, dachte der Dichter still, dann ... dich doch selbst.
Er war aufgeregter als üblich, denn dieses Mal war sein Publikum ein erwachsenes Publikum, sein Hörspiel "Der Swatte Jehann" eröffnete eine Reihe die Unerhört Live heißt, und in deren Folge in Zukunft mehrfach im Jahr an gleichem Ort Hörspiele vor Publikum aufgeführt werden sollen. Der Applaus war warm und reichlich, das neue Buch (Mein Prinz) wurde gern gekauft, der Dichter signierte und freute sich still. Dann fuhr er höchst vorsichtig über ostwestfälisches Land wieder gen Westen.

 

18. März

Man hat letzte Informationen über den Verkehrsfluss eingeholt, hat erfahren, dass ein Großteil der Urlauber bereits gen Süden abgeflossen sein sollte, wenn man sich auf den Weg machen will, man zündet zur empfohlenen Zeit den Motor seines schon betagteren PKW und fährt los.

Augenblicklich verwandelt sich die grau-grieselige, friedliche Welt in ein Meer von Gischt, roten Hecklampen und auf linker Spur in atemberaubend kurzen Abständen bei 120 KMh und schneller hintereinander rasenden Heimkehrern, Suizid-Anwärter, selbst ernannte Herrscher des Welt.

Selbst bleibt man rechts zwischen großräumig sich auftuenden Lücken brummender LKW, hin und wieder setzt man den Blinker, überholt, um schnell wieder einzulenken in den nächsten, von kaum jemand befahrenen freien Raum.

Man fährt nach Norden.
Und wer da alles unterwegs ist! Man glaubt es kaum.
Woher kommen all diese Menschen und wohin wollen sie?
Haben sie keine Wohnzimmer, in denen sie sitzen und mit ihren Frauen essen und trinken können?
Haben sie Termine?
Möchten sie heute noch sterben, oder ist ihnen selbst das egal?

Links und rechts der Autobahn, die uns, folgte man ihr, ohne größere Komplikationen nordwärts bis fast an den Pol, südwärts bis ans Ende des geheiligten Europa mit seinen Schengener Grenzen brächte, tun sich, wann immer Städte sich nähern, endlose Gewerbegebiete auf.

Großräumige Möbelmärkte leuchten in die Abenddämmerung, Baumärkte, Logistikzentren, was immer erreichbar sein will, hat sich hier angesiedelt und gleicht in Architektur und Lebensmotiv dem Amerika, das schon vor dreißig Jahren so ausschaute.
Schnell gebaut, noch schneller wieder abgerissen.

Größte architektonische Fehlleistung: die überall gleichen McDonals Filialen, eine Mischung aus Ski-Hütte, Datsche und Hexenhaus, darüber, schon von weither sichtbar, der einladende, goldene Leuchtbogen des Firmen-Signets.

Abreißen! Wegsprengen! Dem Erdboden gleich machen!
Besseres könnte man zur Verschönerung dieses Planeten kaum tun.

Plötzlich (nach einem großen Autobahnkreuz) verengen sich die Fahrbahnen zu je zwei schmalen Spuren, auf denen die Höchstgeschwindigkeit auf 80 KMh herunter geregelt ist, was viele für 120 halten. Auf der Gegenfahrbahn erlebe ich in flüchtiger Vorbeifahrt das, was ich mir als GAU vorstelle: keine Haltebucht, zwischen den Leitplanken kaum Raum für einen Menschen, aber der Zusammenbruch des Systems: ein anthrazit-farbener Astra ist liegen geblieben.

Ich sehe, dass Menschen im Innenraum ihre Evakuierung vorbereiten. Ein Warnschild ist schon ausgeklappt. Aber wer bringt es jetzt aus? Und vor allem: wie soll er das tun?

Schon bin ich weiter. Hoffe, dass diese Menschen ein Handy haben, um Hilfe zu rufen.
Der Verkehr (dicht) rollt, immerhin, dann kommt meine Abfahrt, noch zehn Kilometer über dunkles Land, ich bin in Bramsche.

Ich war nie vorher dort.
Es gibt dort den Mittellandkanal, es gibt einen Fluss, die Rahe, es gibt eine Gartenstadt und eine Große Straße, es gibt eine gedrungene, sehr schöne Sandsteinkirche, es gibt die Internet-World (kein Mensch darin zu sehen), überhaupt: auf meinem kurzen Gang durch die Stadt treffe ich nicht mehr als zehn Menschen.

Aber ohne Zweifel lebt man hier.

Der einzige, der mich wahrnimmt, ist der Dorf-Schwule, ein Mann meines Alters, der trotz heftigen Nieselregens noch einmal die Große Straße hinab und hinauf paradiert. Ich kenne diese Blicke, ich weiß, dass homosexuelle Männer gern so paradieren, aber bei mir ist er an der falschen Adresse, ich habe nie Sex mit Männern, und hätte ich welchen, dann sicher nicht bei Nieselregen.
Arme Sau! denke ich.
Schwulsein im Bramsche kann nicht schön sein.

Ich lese in der Stadtbücherei.

Ein Fachwerkhaus, sicher ein historisches Gebäude, ich frage nicht nach, aber es atmet Zeit, Vergangenheit in den Wänden, Literatur wohin das Auge schaut. Auf den Emporen, in den Nischen zwischen Bücherregalen, hier und da, überall haben die Teilnehmer der Literatur- und Lesenacht, derentwegen ich gekommen bin, ihre Luftmatratzen und Schlafsäcke ausgelegt.
Dreißig Kinder, die Mädchen in leichter Überzahl, manche von ihnen schon in gemütlichen Nachtkapoltern, warten darauf, dass ich ihnen vorlese.

Und das tue ich.

Zum ersten Mal, seit ich kurz vor Weihnachten in einer geteilten Turnhalle viermal vor je 100 Kindern las, ein Veranstaltungsort, der mich im Vorfeld fast um den Verstand gebracht hatte. Dennoch gingen die Lesungen gut aus, besser, als ich mir hätte träumen lassen.

Fast drei Monate also, und da war es: das anspruchsvollste Publikum der Welt.
Hatte sich auf den Boden gefläzt und schaute zu mir hoch. Wusste, weil es so anspruchsvoll ist und daher das Recht auf jede Frage hat, nicht, was ein Schriftsteller ist, dachte zunächst wohl, ich wäre nur der Vorleser, aber das macht nichts, ich liebe sie ja gerade deshalb.

Ich erkläre es ihnen. Und beginne mit einem Gedicht.
Die jeweils letzte Zeile der Strophe lasse ich von der Kindern laut wiederholen. Das klappt, wenn auch nicht auf Anhieb. Aber immerhin: ich hatte mir vorgestellt, das Gedicht als eine Art Eisbrecher vorzuschicken.

Es ist nämlich so, dass der Schriftsteller (auch darüber habe ich schon gesprochen) selten ideale Auftrittsorte vorfindet. Die Privilegien, die der Schauspieler genießt, Vorhang, Licht, Bühne, das alles entbehrt er.

Der Schriftsteller kommt an einen beliebigen Ort (s.o.: Turnhalle), hat nichts als seine Geschichte, seine Stimme, ist ca. 45 Jahre älter als die meisten seiner Zuhörer, die (s.o.) oft nicht wissen, was ein Schriftsteller überhaupt tut (weshalb ich dazu übergegangen bin, mich als Geschichten-Erfinder vorzustellen), und muss nun sehen, dass er seine Kunden nicht langweilt.
Langeweile ist der Tod eines vorlesenden Schriftstellers.
Wenn er Langeweile verbreitet, entgleiten sie ihm innerhalb kürzester Zeit.

Das Vampir Programm benötigt eine Weile, eh es sich entwickelt. Es ist auch so, dass diese Geschichte nichts mit den Klischees der gängigen (gewohnten) Grusel-Ware zu tun hat. Will sagen: die Kinder müssen aufpassen und ich muss mich doppelt anstrengen, damit es funktioniert.

Meine Furcht, es könnte nicht klappen, verfliegt.
Irgendwann pupst einer. Die Mädchen (eh klüger und kultivierter, als die meisten Jungen) verziehen spitz ihre kleinen, überlegenen Gesichter. Die Jungen lachen sich kaputt. Der Dichter (ich) wirft ein "so'n Pups macht nichts, laute Püpse stinken nicht, aber die da schleichen, denen sollst du weichen" in die indignierte Damenrunde und liest unbeeindruckt weiter.

Nach einer dreiviertel Stunde macht er eine kurze Pause.
Es ist neun Uhr, die Kinder brauchen Atem, sie müssen einmal herum rennen, sie müssen sich die Aufregung aus dem Leib schütteln, schließlich schlafen sie hier, sind nicht zu Hause, das ist Abenteuer, kleines Abenteuer vielleicht, mag man meinen, aber wahrscheinlich ist es schon von größerer Natur.

Nach durchstandener Pause lese ich noch einmal eine viertel Stunde.

Und Schluss? -

Nein. Noch nicht.
Ich hatte für das Ende die Rückkehr des Eisbrechers eingeplant.
Also lese ich das Gedicht noch einmal, wieder sprechen die Kinder und ich die jeweils letzten Zeilen der Strophen, dann falze ich das Gedicht zu einer Schwalbe und werfe sie in mein Publikum.

Schon Peter Frankenfeld hat Ähnliches getan.
Ein Mädchen fängt das Gedicht und freut sich zu früh.
Es ist nämlich so, dass der oder die Fänger/in das Gedicht nun auch vortragen soll.
Das aber will das Mädchen nicht.

Ich werfe die Schwalbe erneut. Diesmal fängt ein kleiner Türke sie auf (der einzige in Bramsche? - nein, sicher nicht). Er heißt Mikail und hatte, als er hörte, dass der Fänger lesen sollte, gezippelt und gezappelt, er wolle, er wolle. Jetzt darf er.

Vorhin noch hatte er Kaugummiblasen geblasen, hatte gepupst und hier und da gezappelt, jetzt aber verblüfft er mich und die anderen mit einem Vortrag, der sich gewaschen hat. Ich bin hin und weg! Wir beiden verbeugen uns, ich signiere ihm die Gedicht-Schwalbe, er freut sich ein Loch in den Bauch, ich habe fertig.

Ich spreche eine lange Weile mit dem Redakteur einer Zeitung, ich erkläre ihm die Abgründe und Himmelfahrten des Schriftstellerdaseins, er ist (scheint's) schwer beeindruckt und ich fahre heim.


6. April

Saß noch spät gestern, probte für meinen Auftritt, hatte mir "langsam Hermann" alle fünf Seiten in Mein Prinz diktiert, saß also in der Sofaecke, hatte ein Glas Wein, hatte etwas zu rauchen und las. Versuchte jedes Wort abzuschmecken und merkte, dass ich im Vergleich zum Mittag, als ich schon einmal Probe gelesen hatte, viel besser war. Ich wusste, woran es lag, also schrieb ich "noch langsamer" in mein Leseexemplar, das später einmal, wenn ich - na, Sie wissen schon - viel Geld wert sein wird.

Irgendwann nach Mitternacht kam mein jüngster Sohn ins Zimmer. Ich dachte, vielleicht will er fernsehn, mir hätte es nichts ausgemacht, in der Küche zu proben, also fragte ich, aber er wollte nicht. Ich las weiter. Er hörte zu. Stand mit dem Rücken zu mir in der geöffneten Balkontür und hörte zu. Ging irgendwann fort, und ich dachte, nun gut, es reicht ihm, und las weiter, aber dann kam er zurück. Er hatte sich nur einen Pullover geholt. Ich strengte mich an. Ich glaube, wenn ich heute Abend nur halb so gut bin, wie ich letzte Nacht war, bin ich auf der sicheren Seite. Sollte es also gut gehen, nachher, werde ich mich belohnen, nach Enschede fahren und die Djembe kaufen, die ich letzte Woche dort sah.

Hoch Freunde, pappt die Prothesen fest, es sollte gelesen werden und es wurde gelesen. Dem Vertragenden standen nach wenigen Sätzen Flocken trockenen Schaums vorm Mund, aber er sah jeden seiner 31 Zuhörer, den einen wie den anderen, er las und las, beobachtet, beneidet, von allen Seiten beäugt, nur keine Blöße zeigen, ein Lächeln höchsten und nachher vielleicht noch Fragen? Bleib ich doch lieber der Kapser für Kinder?
Alle Bücher (20) wurden verkauft.
Heute fühlt man sich matt, als wäre man weite Wege gegangen.

 

23. April

Ich hatte die A 40 in Wattenscheid kaum verlassen, als ich die ersten Polizisten sah. Kampfbereit. Ich hätte links abbiegen müssen, um zum vereinbarten Ort zu gelangen, aber dort war kein Durchkommen. Auch Polizei. Also überquerte ich die Bahnhofstraße, fuhr rechts heran und fragte einen Polizisten, wie ich denn nun zum August Bebel Platz gelangen sollte, aber er wusste es nicht. Schauen Sie auf mein Nummernschild, sagte er. Er kam aus Dortmund.
Was denn eigentlich los sei? fragte ich. Demo! antwortete er.

Ein zweiter Polizist erklärte mir den Weg. Ich fuhr wie beschrieben, schaute an roten Ampeln auf meinen Stadtplan und bog schließlich in die Poststraße, eine Sackgasse, direkt hinterm August-Bebel-Platz. Dreißig, vierzig Männer und Frauen lungerten auf den Bürgersteigen herum. Junkies? Alkoholiker, wie ich später erfuhr. Mit leichtem Unbehagen parkte ich meinen Wagen und ging zur Buchhandlung, wo ich verabredet war. Die Buchhandlung war geschlossen!

Mit einem Mal schien sich zu bestätigen, was seit meinem ersten Kontakt mit der Buchhändlerin in meinem Hinterkopf nie ganz still gewesen war. Sie redet viel, aber man kann ihr nicht trauen. Gespeist worden war dieses Misstrauen durch die Tatsache, dass sie mehrfach versprochen hatte, mir Fotos von Veranstaltungen, bei denen sie den Büchertisch gemacht hatte, zu schicken. Ich hatte sie nie bekommen. Sofort fiel mir ein, dass es für die gestrige Veranstaltung nur mündliche Absprachen gab.

Ich rief sie auf ihrem Handy an. Die Mailbox meldete sich. Jetzt war alles klar. Sie hatte mich verladen. Typisch rheinische Schwätzerin! dachte ich. Sehr freundlich, aber eben keine Westfälin. Ich versuchte, sie im Laden anzurufen. Ich dachte, vielleicht ist sie im Lager, aber meine TD1-Extra-Card war leer. Also machte ich mich auf den Weg, um sie irgendwo aufzuladen.

Der August-Bebel Platz ist trostlos. Die ihn säumenden Häuser sind bis zu 10stöckige Plattenbauten. Mitten auf dem Platz ist eine Straßenbahnhaltestelle. Dort wurde gebaut. Ich fand einen Automaten, lud mein Handy auf und ging zurück zum Buchladen.

Die Buchhändlerin war gerade gekommen. Sie hatte den Veranstaltungsort vorbereitet und war auf dem Rückweg durch die Absperrungen der Polizei in Verzug geraten.
Ich atmete auf.

Wir fuhren zum Martin-Luther-Haus, ein Kindergarten. Allerdings war der Zugang gesperrt. An der Ecke Luther-, Voede- und Querstraße wohnt nämlich ein stadtbekannter Neo-Nazi, gegen den sich die Demonstration richtete. Und dann kam sie: Knapp 200 Autonome, meist Männer. Auf ihren Transparenten stand: Nieder mit dem Kapitalismus. Gegen Faschismus. Gegen Antisemitismus. Gegen Imperialismus. Etc....
Einverstanden.
Sie sehen immer ein bisschen zum Fürchten aus mit ihren schwarzen Vermummungen. Punks sind auch gern dabei. Sie begreifen die Polizei als ihren natürlichen Feind, aber das muss man ihrer Jugend nachsehen.

Es war 14:40. Die Polizisten sagten, wir könnten unter keinen Umständen in die Lutherstraße, Auftrag sei Auftrag. Um 15 Uhr sollte die erste Lesung beginnen. Die Autonomen umstanden einen nagelneuen Mercedes. Darauf waren Lautsprecherbatterien installiert. Eine junge Frau hielt eine einschläfernde Rede gegen den in Hausnummer 11 wohnenden Nazi. Gegen 14:50 zogen die Autonomen ab.

Das war knapp.

Zweihundert Einladungen waren verschickt. Aber wer kommt an einem strahlenden Samstagnachmittag zur einer Lesung? Meine Kunden: nicht mehr als zehn Kinder im Alter von 4 bis 8. Ihre Eltern im Hintergrund. Dazu das Personal des Kindergartens. Ich war ratlos. Ich hatte mich auf Das Vampirprogramm eingestellt, aber das würde bei diesem Altersschnitt der Kinder nicht funktionieren. In einem anderen Leben hätte ich gesagt, tut mir Leid, so kann ich nicht arbeiten, in diesem dachte ich, entweder/oder.

Ließ mir Trommeln kommen, hockte mich zu den Kindern und begann mit dem zehnten Mond. Wir tanzten Indianertänze, die Kinder schlossen die Augen, ich flüsterte seitenlang, weil ich spürte, dass ihre inneren Kinos so besser arbeiten würden, wir bliesen Feuer an, wir kämpften mit Bernd Bulli, wir ritten durch die Prärie, die Zeit flog mit Spielen und Gesprächen. Sehr schön war das und das fanden die anderen auch. Dabei hatte ich nicht einmal zwanzig Seiten gelesen.

Um 17 Uhr sollte die zweite Lesung beginnen. Diesmal kamen noch weniger, allerdings waren die Kinder älter. Ihnen las ich aus der Sackgasse vor. Es waren zu wenige, um mit ihnen das zu veranstalten, was ich sonst mit Kindern veranstalte, wenn ich die Sackgasse lese. Sie waren schüchtern. Außerdem gab es für sie keine Möglichkeit, sich in der Masse zu verstecken, dennoch: auch die zweite Lesung hat funktioniert.

Ich habe wieder gelernt. Viel gelernt. Und anschließend anstandslos meine Gage erhalten.
Auch Rheinländer können also Absprachen halten.

Nächsten Samstag bin ich noch einmal in Wattenscheid.
Dann lese ich in einer Schule aus der Sackgasse. Kinder höherer Klassen haben Dekorationen gebaut. Ich bin gespannt. Und ich weiß schon, wie ich sie auf meine Seite bringe.


29. April

Es gibt Tage, da bin ich gut und mein Publikum ist es nicht. Gestern war mein Publikum um vieles besser als ich, aber niemand hat es gemerkt. Alle waren begeistert. Derart begeistert, dass mir die Rektorin der Schule anschließend folgenden Vorschlag machte.

Sie könne mir, sagte sie, für 5 oder 10 Stunden die Woche einen Vertrag geben, ihr sei sehr an Kultur gelegen, ich könnte einen Theaterworkshop machen, eine Literaturwerkstatt aufziehen, ganz wie ich wollte, bezahlt nach BAT 3, ich sollte das nicht vergessen, schließlich wäre ich ein Erfüller, will sagen, hätte das 2. Staatsexamen, während z.B. promovierte Chemiker, die ein paar Wochenstunden unterrichteten, aber kein 2. Staatsexamen vorweisen können, Nichterfüller wären.

Was meine Stunden anginge, könne sie sie so legen, dass ich sie an einem Tag der Woche (bzw. 2 Tagen bei 10 Stunden) erledigen könnte. Das hieße für mich, einmal die Woche nach W. zu fahren, ca. 50 Minuten hin, 50 zurück.

 

11. Mai

Alles gesetzt. Nicht gewonnen.

Die Gründe? - Es gibt 1000 Gründe und alle liegen bei mir.
Alle, bis auf die Umstände.
1 Mädchen hat beim Autogrammschreiben gesagt, es wäre toll gewesen.
Drei kosmetische Eingriffe gegen Störer waren notwendig.
Einmal brüllten wir wie die Löwen.
Einmal ritten wir den Hindernisparcour.
Aber das Gefühl, ich käme ihnen nahe, stellte sich nicht ein.

Nun sitze ich an der kleinen Burg in der Sonne und erhole mich.
90 Kinder waren angesagt. Die erste Gruppe erschien um 8:45. Die zweite sei unterwegs, sagte eine der Lehrerinnen. Die zweite Gruppe hetzte gegen 9:08 ins Spiegelzelt. Ich dachte, gut, dann beginnen wir mit ein wenig Radau. Das löst. Ich trommelte auf einem Stuhl. Die Kinder klatschten und stampften mit den Füßen.
Nach diesem Eröffnungsradau wollte ich nahtlos zu lesen beginnen.
Ich hatte das Headset vorher ausprobiert. Es klang gut.

Der Radau ebbte ab.
Das Vampir-Programm sagte ich in die Stille. Das Mikro funktionierte nicht.
Ich justierte es neu.
Das Vampir-Programm, sagte ich. Das Mikro funktionierte nicht.
Fröhlich lachende Kinder.
Drei - viermal ging das noch so. Das Signal kam oder kam nicht.
Schließlich begann ich trotzdem zu lesen.

Las ich schlecht?
Schlechter als vorletzte Woche in Bochum? -
Ich weiß nicht.
Flüchtiger wahrscheinlich. Flüchtiger wegen des brausenden Verkehrs.
Unkonzentrierter wegen des immer noch nicht funktionierenden Mikros, das der Techniker schließlich auf halber Strecke der Lesung austauschte.
Aber da hatte ich schon den Verdacht, dass es mir aus der Hand glitte.

Könnte auch sein, dass das Präsens nicht ganz unschuldig ist.
Vielleicht ist es eher eine Erzählform für emanzipierte Leser.
Ist das Vampir-Programm für Achtjährige zu komplex?
Möglich.

Die Kinder hatten kaum Fragen.
Auch, wenn sie immer das Gleiche fragen, das wäre mir lieber gewesen, als gar keine Fragen.
Sie wollten Autogramme und weg. Wieder in ihren Bus, der sie in zwanzig Minuten an den Stadtrand fährt, zu ihrer Schule.

Ich ging Einkaufen. Unter den Blicken eines von Neurodermitis geplagten Verkäufers kaufte ich das graue Hemd, dass ich gestern gesehen hatte. Und da ich schon einmal dabei war, mir die Enttäuschung vom Leibe zu kaufen, erstand ich in einem anderen Geschäft gleich noch eine Hose.

Mein Zug geht um 13:51

Ich könnte also noch weiter dafür sorgen, dass es aufwärts geht mit unserer von allem Sinn entleerten Republik, in deren Vorstandsetagen, lese ich, nun auch schon die Nervosität umgehe. Die Frage sei nämlich: wer gerät als Nächster ins Visier angelsächsicher Hedgefonds.
Die Shareholder Kapitalisten vernichten sich gegenseitig.
Spirituelle Weis- oder Wahrheiten? -
Keine.
Bis auf: Wir sind Papst.
Oder: Wir werden Weltmeister.

Stimmt das? fragte der Tontechniker. Sind Kinder nur noch schwer bei der Stange zu halten?
Ja und nein, antwortete ich aus schon aufgeführten Gründen.

Während ich hier sitze, lesend, tippt mir plötzlich jemand auf den Unterarm, sagt etwas, das ich nicht verstehe, und ist schon weiter, als ich aufschaue. Eine ca. 30jährige, etwas verwahrloste Frau.
Wie bitte? rufe ich ihr nach, während sie gerade einen Vorübergehenden auf gleiche Art anfasst wie mich.
Für die Vergewaltigung! ruft sie.

12:25

Einfachste Erklärung:
90 Kinder ihrer gewohnten Umgebung entrissen sind einfach zu viel.
Aber auch das ist natürlich nur 1 Teil der Wahrheit.

13:51

Also nach Hause. Zum Abschied entlädt sich ein lautstarkes Gewitter über der Stadt.

14:51

In meinem ICE Abteil macht jemand Ansagen. Sie sind wortgleich mit dem, was man sonst aus den Lautsprechern hört, aber sie kommen aus irgendeinem der Sitze weiter vorn. Ich tippe auf eine Frau.

Tatsächlich stammen sie von einem Mann. Er ist etwa 30, hat ein freundliches Gesicht und melancholische Augen. Gerade stand er im Gang und sagte sinngemäß: So ein ICE fahre ja manchmal 200, und so vor ein paar Jahren sei das gewesen, da sei so ein ICE über eine Brücke gefahren. In der Brücke seien aber Risse gewesen und da sei der Zug ins Wasser gestürzt. Fast alle tot, 400 Menschen, viele von den Krokodilen und Schlagen und was da alles im Fluss ist, gefressen. Aber, fährt er fort, man müsse ja der Technik vertrauen und hoffen, dass nichts passiert.
Während er so redet, schaut er diesen und jenen an.
Meinen Einwurf, es gäbe aber doch hier nur sehr wenige Krokodile, pariert er lachend mit "Spaß muss ja sein, nicht", wünscht noch eine schöne Reise und geht.
Wenig später sagt er: Meine Damen und Herren. In wenigen Minuten erreichen wir Hamm. Hamm. Westfalen.

Ende

 

2. Juni

Zweimal gelesen. 80 Kinder in Gespräche verwickelt.
Ich behaupte immer, ich täte das gern. Stimmt.
Aber ich hasse sie auch, diese Quirlköpfe, diese ewig-gleichen-Fragen-Steller, diese unsozialisierten Bastarde.
Habe ihnen dennoch das ein oder andere aus der Nase gezogen.
Fanden Sie meine Geschichten gut? - Sie sagten: ja.
Habe ich es von Herzen gespürt? - Ich sage: eher nein.
Hatte ich ein Glas Wasser, um meine trockenen Lippen zu feuchten? - Nein.
Ward mir (ich bin zu geil für diese Welt) - ward mir also besondere Aufmerksamkeit zuteil?
Ja. Im Lehrerzimmer fragte eine Kollegin, ob ich der sei, der den Hund vorstelle. -
Ich bin müde.
Ich mag den Kampf gegen schlechte Literatur an Tagen wie diesen nicht kämpfen.
Überall ist schlechte Literatur.
Dummes, verblödendes Hasengehoppel! Wo man hinschaut, albernes Monster-Getue.
Es ist nicht zum Aushalten. Und das Allerschlimmste ist: viele finden das gut.

 

9. Juni

Alles ist Bauhaus. 5000 Kumpel schufteten sich unter Tage den Rücken krumm, aber oben ist alles Bauhaus. Horizontale und vertikale Flächen gerahmt von rostroten Stahlträgern, aber je länger der Mensch (ich) zwischen den Gebäuden der als Weltkulturerbe geschützten Zeche Zollverein in Essen herumgeht, desto gruseliger könnte ihm werden.

Zum Glück steht in einer Halle Kunst.
Große Messingköpfe. Habe leider vergessen, mir den Name der Künstlerin zu merken.

Ich stelle mir vor, wie das Bauhaus Raum greift, wie es Städte baut, wie es Viertel um Viertel organisiert und dann wünsche ich mich lieber woanders hin. In die Stadt Tel Aviv beispielsweise. Die ist voll wunderschöner Häuser, deren Architekten ebenfalls dem Bauhaus zugeordnet werden, aber hier sind sie pastellfarben und haben abgerundete Ecken. Und dann arbeitet da auch niemand unter Tage und die Sonne scheint gern.

Ich habe gerade eine Lesung hinter mir. Angekündigt waren Hauptschüler, verleumdet eher, im Vorfeld diskriminiert, wie man das gern tut mit Hauptschülern. Unruhe wäre zu erwarten, Sie wissen ja, auch das intellektuelle Niveau ist nicht sehr hoch.

Und wer kam? - Vierzig freundliche, aufgeschlossene Kinder der Klassen 5, durchaus bereit, zuzuhören, schüchtern eher, ja, aber natürlich habe ich sie lieber schüchtern als wild. Ich las aus Der verfluchte Fluss. Das Buch ist bildmächtig. Viel des Grusels findet im Subtext statt, den die Kinder der Grundschule Kinderhaus letzte Woche allerdings besser begriffen als diese. - Also doch: Hauptschule?

Ich spaziere durch die Werksstraßen der Bauhaus-Zeche, ich vergleiche die Industriearchitektur mit der Architektur der untergegangenen Textilindustrie meiner Heimat, ich frage mich, ob es wirtschaftlich Sinn macht, derart große Brachflächen in Orte für kreative Aufbrüche zu verwandeln, oder ob das nicht nur ein subventionierter Traum ist, der bald verfliegt. Tatsächlich sehe ich überall Männer in kulturschwarz und attraktive Frauen in kühlen Kostümen. Weder die maskuline noch die feminine Seite dieser zur Schau getragenen Zugehörigkeit zu den Kreativen gefällt mir. Als wären sie etwas Besonderes. Dabei schöpfen sie in der Regel nur den Rahm von der Qual der tatsächlich schöpferisch arbeitenden Menschen.

Eine Stunde später lese ich in der Bücherei Essen Altenessen. Frau L., die Seele der Zweigstelle, hatte Kaffee gekocht. Haferkekse und Ochsenaugen standen auf dem Tisch der kleinen Büroküche, und während sie erzählte, wie die Zeit vergeht und dass es diese Zweigstelle auch schon seit 20 Jahren gäbe, frage ich mich, was das für ein Akzent ist, der ihr beispricht, fern nur noch, aber hörbar. Skandinavien? - Tchecheslowakei? -

Die Kinder kommen. Grundschüler, die den Nachmittag in einem Hort verbringen. Sie sind zwischen acht und zehn Jahren alt und freuen sich, dass etwas geschieht. Ich lese die Sackgasse 13. Es ist unruhig, denn der Ausleihverkehr findet gleich hinter der nächsten Regalwand statt, man spricht, telefoniert, Türen schlagen.

Wie war's? fragte Frau M. Schwer! antwortete Herr M.
Es lag weniger an den Kindern, als an Herrn M. selbst, der - von Natur schon mit genügend Zweifeln gesegnet - augenblicklich mit nichts recht zufrieden zu sein scheint.
Seltsam.
Dabei heißt es doch: Froh zu sein bedarf es wenig, denn wer froh ist, ist ein König....
Nicht wahr, Herr M.
Stimmen wir also ein in diesen Montagmorgenkanon, der mir gerade eine Lesung bei den Rotariern meiner Heimatstadt Gronau eingebracht hat, für den guten Zweck, versteht sich, aber, so der Chef der Rotarier, da steckt mehr drin, Vervielfältigungseffekt quasi Hilfsausdruck.

Das Montagswetter? -
Nun ja. Sprechen wir über etwas anderes.
Darüber zum Beispiel, dass man mir gestern Abend anbot, Mitglied des Schützenvereins zu werden. Es wird immer besser. Die Integrationsangebote reißen nicht ab. Ich werde noch Schützenkönig. Das hieße praktisch, der Kreis schlösse sich, denn ich erinnere mich an meine Initiation als Trommler. Die fand während eines Schützenfestes statt. Der Feuerwehrmann Juppi ließ mich auf seine große Pauke hauen und danach war es um mich geschehen.

Ja Freunde, das Leben an einem Montag ist schön und gerecht. Jedenfalls für mich. Und wer weiß, vielleicht schaffe ich heute die erste Folge eines Ohrenbären.

 

15. Juni

Herr M., den Sie in verschiedensten Rollen kennengelernt haben, hat heute früh vor Dritt- und Viertklässlern gelesen. Die Souveränität, über die er normalerweise verfügt und die ihm den Zugang zu Kindern erleichtert, scheint augenblicklich angeknackst. Die Freude, die sich ihm sonst beim Lesen einstellt, ist hinterhältigen Angriffen ausgesetzt. Überdruss ruft. Wenn ihr nicht hören wollt, bleibt doch doof! ruft es aus dunklen Ecken, wenngleich aus den hellen stante pede protestiert wird, wie kannst du so etwas sagen....

Herr M. ist müde. Er hat das schon vor einiger Zeit angedeutet. Er führt das auf seinen gegenwärtigen Status zurück, der ihm nach über 20 Jahren noch immer kaum Sicherheit bietet. Paradox in diesem Zusammenhang ist, dass Herr M. sich diesen Status aus eben jenen Gründen, aus Verheißung von Abenteuern und der Möglichkeit, zu jeder Zeit und Stunde existentiell überrascht werden zu können, ausgewählt hat.

 

16. Juni

Ich muss darauf hinweisen, dass alle von Herrn M. gestern beschriebenen Symptome auf den uralten well Tekel hinweisen. Nichts also, worüber man sich aufregen müsste. Soll er sich doch einfach ins Auto setzen, losfahren und in der St. Josephs Gemeinde vor fünfzig Kindern lesen, als wäre das ein Klacks. Well Tekel hin oder her. Lächerlich!

Herr M. hat aus Voll die Meise gelesen. Und hat, wie er es sich gestern, als er zu Abend durchs grüne, herrliche Westfalen radelte, vornahm, vorab eine Art mündlichen Klappentext vorgetragen. Er dachte, dass das die Ohren seiner Zuhörer für die Feinheiten der hernach vorzulesenden Geschichte schärfen könnte.

Und? - Hat das funktioniert?

Diese und ähnliche Fragen beantwortet: your's faithfully Herr M. .... der im Gegensatz zum Personal der Holstein Brasserie in den Münster Arkaden, das hochnäsig auftritt, gern für Sie da ist.

Aber nicht jetzt.

 

30. Juni

Herr M. hat in Hamm gelesen. Zum ersten Mal seit Wochen hatte er wieder das Gefühl, dass es gut ist, was er tut. So gut, dass die Zweifel, die immer da sind, nicht auf den Roman zurück fielen, aus dem er gelesen hatte, sondern normale Alltagszweifel blieben.

Herr M. atmet durch, freut sich auf dem Urlaub und verabschiedet sich mit einem dreifach kräftigen... na Sie wissen schon...

 

19. Juli

Er könne nur drei Lieder, sagte der Veranstalter, und die spiele er schon seit zwanzig Jahren. Das macht nichts, antwortete ich, denn sein Gitarrenspiel sollte ja nicht im Mittelpunkt stehen. Etwas zum Mitmachen, hatte er gefordert, irgendetwas zum Mitmachen. Ich hatte vorgeschlagen, eine Geschichte zu entwickeln. Aus Sätzen werden Geschichten, hatte ich gesagt und einen groben Plan skizziert, um mir so viel Spielraum wie möglich zu lassen. Ja, ja, hatte er geantwortet, so machen wir das, und ich spiele Gitarre.

Der Raum der Stadtbücherei war vorbereitet. Ich hatte um einen Computer samt angeschlossenem Drucker und Overheadprojektor gebeten, ich hatte in meinem Perkussionskoffer gekramt, ein paar Instrumente eingepackt, ich hatte meine Snare mitgebracht, er seine Gitarre. Wie viele Kinder denn kämen, fragte ich, und er antwortete, ca. 20. Wie alt die denn wären? Das wusste er nicht.

Ich würde den Computer zu einem Ort zu erklären, dem eine Geschichte zu entlocken war: Die Geschichte einer Stadt, über der sich ein Sommergewitter zusammenbraut. Die Wolken, der Wind, der Donner, die Blitze, die hastenden Menschen, was immer aufs Tapet käme, sollte szenisch dargestellt werden im Verlauf der nächsten Stunde.

Um jedoch Zugang zu dieser Geschichte zu haben, müsste der Computer als Hüter der Information zunächst mit einem Lied überlistet werden. So die grobe Marschrichtung. Und dann kamen die Kinder, Jungen und Mädchen zwischen 6 und 12 Jahren. Die sie begleitenden Mütter zogen ab, die Türen schlossen sich, ich konnte beginnen. Ich erklärte meinen Plan. Und schon waren wir bei der Arbeit. Das Gedicht bot Zeile für Zeile Stoff für spontanes Erzählen, nicht nur Erzählen meinerseits, sondern auch für Geschichten der Kinder. Und immer, wenn eine Zeile gefunden war, die ich auf dem Overheadprojektor fixierte, sangen wir sie. Der Veranstalter spielte Gitarre. Schrumm schrumm schrumm. Ich trommelte oder klatschte. Meine Instrumente gingen reihum.

Nach drei Strophen hatten wir den Computer so weit, die Geschichte auszudrucken. Da waren knapp fünfzig Minuten vergangen. Fünfzig turbulente Minuten, die viel Spaß gebracht hatten. Die Geschichte des Unwetters bekamen wir schnell in den Griff. Wolken taumelten durch den Raum, getrieben vom Wind, Blitze zickzackten, Donner krachte und verschreckte Passanten stießen spitze Schreie aus.

Dann war Schluss. Ich gab Autogramme, ich verkaufte alle mitgebrachten Bücher, wir redeten noch und als alles vorbei war, saßen der Veranstalter und ich im Café der Stadtbücherei, die früher einmal ein Spaßbad war, und ließen die vergangene Stunde Revue passieren. Der Verantstalter war tief betrübt. Eine Dame vom Verein für So und So habe ihm vorgeworfen, sein Gitarrenspiel sei zu eintönig gewesen. Ob ich das auch fände?

Haben wir Spaß gehabt oder nicht? fragte ich zurück. Ja, schon, antwortete er. Na also, sagte ich, dann ärgern Sie sich nicht. Wir haben die Geschichte gemacht, nicht diese Dame. Ja, ja, sagte er zerknirscht, das schon, doch in der nächsten Stunde, die wir noch beisammen saßen, kam er immer wieder auf die an seinem Spiel geäußerte Kritik zurück. Die träfe ihn sehr, sagte er, wann immer man sich künstlerisch oute, käme sofort Kritik.

Es gelang mir nicht, ihn zu trösten. Ich vermied, ihn daran zu erinnern, dass er nur drei Lieder spielen kann, und die schon seit zwanzig Jahren, ich sagte nur, dass er froh sein solle, kein Schriftsteller zu sein, denn die stünden noch ganz anders im Regen. Er aber war nicht zu beruhigen. Noch auf dem Weg zum Bahnhof fragte er mich, ob er denn wirklich gut gewesen wäre. Es wäre doch im Rhythmus gewesen, was wolle die denn? Ach, sagte ich, Schwamm drüber, aber sein Gesicht war voller Zweifel.


13. September

Nach meinen Lesungen im Bücherschiff, eine Kinder- und Jugendbibliothek in Wuppertal, stieg ich hinunter ins Zentrum der Stadt, um noch ein wenig zu bummeln, einen Espresso zu trinken und abzuschalten, eh ich die Rückreise über die Autobahnen des Landes antrat, die augenblicklich aus nichts als Baustellen zu bestehen scheinen.

An einer Ecke stieß ich auf einen kleinen türkischen Lebensmittelladen. Ich ging hinein. An der Kasse saß ein junges Mädchen. Sie trug ein Kopftuch. Ein türkischer Mann begrüßte mich überschwänglich. Ich sagte, ich wolle diese kleinen, mit viel Knoblauch gewürzten Würstchen. Er redete mit großen Gesten, aber auf Türkisch, bzw. auf eine Art Türkisch, die er für Deutsch hielt und wies auf ein Regal mit kleinen süßen Kuchen. Nein, nein, sagte ich, keine Kuchen, Würstchen. Sie heißen Sucuk, aber das wusste ich gestern noch nicht. Ich wusste nur, dass sie in der Regel in Kühltheken liegen. Als ich im hinteren Teil des Geschäftes eine Kühltheke sah, ging ich dorthin und fand, was ich suchte. Die Würstchen sind in der Regel zu sechst in ein Plastikbehältnis eingeschweißt. Da, wo ich diese Würstchen sonst immer kaufe, bekommt man sie auch einzeln. Ich sagte also, ich wolle vier. Der Türke nahm vier der Plastikbehältnisse aus der Kühlung. Nein, nein, vier Würstchen, sagte ich. Er schaute mich bedauernd an. Um weitere, fruchtlose Diskussionen zu umgehen, beschloss ich, eines der Plastikbehältnisse mit sechs Würstchen zu kaufen. Alle bei uns essen Sucuk gern, also war es eigentlich egal, ob vier oder sechs. Der Türke nickte freundlich und trug sie zur Kasse.

Die junge Frau, ich nehme an, seine Tochter, sprach akzentfreies Deutsch, sie hätte natürlich von Anfang an helfen können, ich nehme aber an, dass das Verkaufsgespräch Sache des Chefs ist, und dass die Tochter (die Frau) sich still verhalten muss, während der Vater radebrecht. Diese armen türkischen Patriarchen. Früher oder später werden ihre Frauen ihnen ordentlich Dampf machen.

 

27. September

Las gestern im Heidehof Erwachsenen aus der Sackgasse 13 vor. Brachte sie dazu, den uralten Schrank mit einem lähmenden, durch Mark und Bein fahrenden Geräusch zu öffnen. Sie waren ein wenig zurückhaltender als Kinder, aber immerhin, sie quietschten und kreischten und lachten anschließend.

Enttäuschend an diesem Abend war das Essen. Ich hatte geglaubt, wenn Rotarier sich träfen, würde nicht gespart, aber weit gefehlt. Nach dem Eingangssmalltalk mit einigen sehr freundlichen Menschen brachten Kellner jedem einen kleinen, dafür bis an den Rand gefüllten Teller mit grünen Bandnudeln. Obenauf lag ein Lachsfilet. Dazu kam pro Tisch eine Schüssel grüner Salat.

Ich dachte, was für eine seltsame Vorspeise und war gespannt, was danach käme, aber danach kam nichts. Danach hielt der Vorsitzende eine kurze Rede und kündigte meine Lesung an. Ich las also gegen den einsetzenden Verdauungsprozess von etwa fünfundzwanzig Erwachsenen.

Ich las schnell und langsam, ich las nicht sehr lange, denn ich wollte die Damen und Herren nicht über Gebühr strapazieren, aber alle schienen gut unterhalten und kauften mir anschließend Bücher ab.

Der erste, dem ich begegnete, als ich gegen 19:05 den Heidehof betrat, war ein großer, aufgeschwemmter Holländer mit bläulich rotem Alkoholikergesicht, der mich fragte, ob hier das Treffen der Rotarier stattfände. Ja, sagte ich. Er war nett, ich weiß nicht, welchem nervenaufreibenden Geschäft er nachgeht, ich sah ihn später im Flur aufgeregt telefonieren, dann war er fort.

Ein Schiffbauingenieur erzählte mir von seltsamen Sitten der Schiffbauer. Man stünde auf dem Tisch und müsse Bier mit einem Schnuller trinken. Er habe das oft getan. Zudem rülpse man. Zu welchem Anlass das aber geschieht, erfuhr ich nicht, oder ich erfuhr es und habe es nicht registriert.

Ein Textilfabrikant sprach mit mir über das Schreiben. Ein netter Mann, kultiviert, ich hätte gern länger mit ihm gesprochen, aber dann mischte sich ein Herr M. aus E. ein, der vorgab, mich noch von früher zu kennen, mich Herm nannte, weil man mich früher so genannt hat, ein strunzdummer CDU Oberer, der Strunzdummheit ausstrahlt, strunzdumm ist und dazu noch aus dem Mund und allen übrigen Körperöffnungen riecht. Sie glauben, das wäre überzogen? - Nein. Ist es nicht. Selbst ein objektiver Beobachter müsste, bei der Wahrheit bleibend, Gleiches konstatieren. Ich hatte den Eindruck, auch die übrigen Teilnehmer dieses Abends wussten, dass sie es mit einem Idioten zu tun haben, was mich beruhigte.

Alles in allem war es ein interessanter Abend. Vielleicht hat er Folgen, was ja der Sinn der Sache war, Anschlussaufträge, eine Lesung in der Sparkasse im nächsten Frühjahr zum Beispiel, eine Serie von Lesungen in meiner Heimatstadt, solche Dinge. Wir werden sehn.

Es ging auf 22:00 Uhr, als ich zurück nach Münster fuhr. Kurz nach 23:00 saß ich schon hinterm Schlagzeug im Hot Jazz Club und spielte auf der letzten Session dieses Monats.


28. Oktober

Nun sagen Sie doch mal, wie Sie die Geschichte empfunden haben, sagte ein bärtiger Endfünfziger gestern nach Ende meiner Lesung aus Mein Prinz zum einzigen anwesenden Schwarzen. Herr W., der, wie ich später im Gespräch erfuhr, aus Jamaica stammt, fand, dass die Geschichte gut und einfühlsam erzählt wäre, konnte oder wollte aber keinen Groll in sich feststellen. Das sei nun mal Geschichte, sagte er. Ich allerdings hegte und hege noch stets den Verdacht, die Frage des bärtigen Endfünfzigers haben eigentlich anders gelautet. Hier das Original: Nun sagen Sie als Neger doch mal, wie Sie die Geschichte empfunden haben.

Herr W. aber überhörte den Subtext des bärtigen Herrn. Was ihn wirklich umtrieb, war die Frage nach seiner tatsächlichen Herkunft. Jamaica war ja im Grunde nur Zwischenstation vieler Sklaven auf dem Weg nach woanders. Wo die eigentlichen, die eingeborenen Jamaicaner geblieben sind, ob es sie noch gibt oder - was wahrscheinlicher ist - ob man sie zwecks besseres Ausbeutung der Insel gleich mit ausgerottet hat (denn so dachte und denken viele damals wie heute ((siehe: die Rede eines iranischen Poltikers in Bezug auf Israel letzte Woche)), weiß ich nicht.

Das Gespräch ging noch ein wenig hin und her, man schüttelte den Kopf über die Ungerechtigkeit dieser Welt, man staunte ein wenig, als ich behauptete, alle Menschen seien Rassisten, man aß Schnittchen, trank Wein, und ich stand ein wenig herum und dachte, dass es bei den Kindern, für die ich normalerweise den Hermann mache, doch schöner wäre.

Dann fuhren Frau M. und ich über Hördel, an Wanne vorbei, Gelsenkirchen links liegen lassend durch Eickel Richtung Herne auf die A 43 und glitten bei geöffnetem Schiebedach durch die milde Oktobernacht zurück ins beschauliche Münster.

Heute frühstückten wir im Garten. Saßen dort eine Weile, lasen Zeitung und dachten, eigentlich könnte man grillen. Aber das taten wir doch nicht. Stattdessen fegte ich und sammelte Meriten als einziger Anwohner dieses heruntergekommenen Mehrfamilienhauses, der sich hin und wieder (wenn auch eher selten) ums Gemeinwohl müht. Wie das so ist in Mehrfamilienhäusern, niemand empfindet Verantwortung, montags kommt ja der Putzmann.

Wünsche im übrigen Spaß mit der wiedergewonnen Stunde, die man uns im Frühjahr stahl.

 

1. November

Lotste die Allerheilige durch tiefe Nacht, raschelten durch Laub, bewunderten das schwarze Grün und das grüne Schwarz, holten den Himmel in unser Gespräch und passten auf, nicht in Gräben zu torkeln, malten Nachtbilder mit der Leica, die ich mir kaufen werde, wenn Geld übrig ist, Menschen saßen in Gärten, Trinker torkelten heimwärts, ich lag später noch bäuchlings auf einer Decke vor der weit geöffneten Balkontür, trank Wasser, die milde Nacht wehte herein, duhn der Kopf, müde die Glieder. Heute verharre ich still. Bis auf diese paar Worte.

Dann aber ging alles ganz schnell. 15:45. Das Telefon schellte. Ulrich T. war am Apparat und fragte, ob ich die Feuerwehr machen könne? Feuerwehr? Ja. Die Schriftstellerin Jutta R. habe 40 Grad Fieber und abgesagt, in einer Stunde sei Anpfiff, und es wäre doch schade, wenn 300 Kinder da säßen.... Ich erfragte die Konditionen, notierte die Koordinaten des Auftrittsortes (Gmynasium, Schulzentrum, Bielefelder Straße) und saß schon im Auto.

Ulrich ist Organisator eines kleinen Lesefestes in einer niedersächsichen Gemeinde am Südhang des Teutoburger Waldes, etwas mehr als 40 Kilometer von hier. Ich war pünktlich. Das Schulzentrum sah genauso aus, wie man es spricht. Prächtigster 70er Plattenbau mit Wasch- und nacktem Beton in unterschiedlichsten Tönungen.

Der Ort der Lesung: eine Pausenhalle. Weites Rechteck, zur Mitte vertieft, von Säulen gesäumt. Stühle, Tisch/Stuhl für den Dichter, ein Mikrofon, eine Flasche Wasser, ein Glas. Allerdings keine 300 Kinder. 100 etwa, das ist auch schon mehr als genug.

Da ich für den 3.11. schon zu einer Lesung geladen war und vereinbart hatte, Das Vampir Programm zu lesen, beschloss ich die sichere Bank und las Sackgasse 13.

Kämpfte den üblichen Kampf mit dem Mikrofon, das mich an den Fleck zu bannen versuchte. Schiss drauf und sprach schließlich ohne, was deutlich besser war, denn alles szenische, gestische ist vor Mikros kaum zu machen, es sei denn, man trägt ein Headset. Las eine gute Stunde, diskutierte, gab Autogramme und brachte mein Konto auf diese angenehme Art dem Plus-Minus-Null wieder ein wenig näher.

Heute Nacht träumte ich vom Fliegen. Brauchte nur die Oberarme anzulegen, die Unterarme rechwinklig vom Körper zu strecken, schon ging es los. Flog schnell und viel.

Wer hätte das gedacht, gestern um 15:44?

Am 3.11. dann kein Kampf mit dem Mikro. Stattdessen las ich vor versammelter Mannschaft Das Vampir Programm. Sprach laut, leise, mit viel Raum für Tätärätäää und Krachmachen seitens der Kinder, die schenkten mir dafür Aufmerksamkeit. Jetzt weiß ich, wie der Roman funktioniert. So etwas braucht immer eine Weile. Auch bei Voll die Meise ist es mir so ergangen. Eine Weile hatte ich geglaubt, der Roman funktioniere für den Leser besser als für den Vorleser, aber dem war nicht so. Ich muss mir die Texte vor Publikum erarbeiten, ich muss schwitzen und fürchten, ich muss mir den Mund fusslig reden, und dann, plötzlich, klickt es und ich weiß, wieso und weiß auch, dass er ab jetzt (fast) immer funktionieren wird.

Mit einem Wort: ich war gut in Form, ich habe eine ganze Menge Bücher verkauft, und wie es so geht, betrachte ich die heutige Lesung als Generalprobe für die vier Lesungen aus demselben Roman in Mülheim nächste Woche.

Gleich gehe ich mit meiner Familie, die ausnahmsweise vollzählig ist, zum Essen und Trinken in die Gute Quelle, den Geldkreislauf füttern, denn ohne Zirkulation stirbt er, und das soll er doch nicht, oder? Morgen lese ich zweimal vor 7. und 8. Klassen einer Hauptschule in der Stadtbücherei Emsdetten. Ich lese aus: Große Liebe Nr.1 und Abends am Meer.

So. Feierabend.

PS.
Meine Agentin meldet, Der Vogel und der Zauberer liege zwei Verlagen vor.

 

4. November

Endlich November. Grauestes Himmelgrau, während das Land sich in aller Farbenpracht zeigt, nur noch kurz, ruft es, schaut euch wund daran, denn in vier Wochen ist das Vergangenheit, dann ruhen wir bis zum März.

Fuhr durch den Hanseller Floth, träumend eher, noch nicht wach, wenn ich auch Kaffee getrunken und mich mit kaltem Wasser gewaschen hatte, war ich nicht recht bei Sinnen, als plötzlich das Stopp Schild auftauchte. Konnte dennoch rechtzeitig bremsen.

Dann schließlich die Stadtbücherei, der Tisch, der Sessel, Getränke, die erste siebte Klasse. Ich lese aus Abends am Meer. Die Klasse ist in keiner Weise vorbereitet. Die Schüler wissen nicht einmal, dass ich das Buch, aus dem ich lese, selbst geschrieben habe.

Fragen sind nicht vorbereitet, nur mit Mühe kommt ein Gespräch in Gang. Erschütterndstes Ereignis der Lesung: einer dieser Britney Spears Klone, die die Welt mit blonden Pferdeschwänzen zu verzaubern suchen, reckt sich die Müdigkeit aus dem Leib und untersucht dabei voller Interesse ihren Bauchnabel. Na, noch da? frage ich. Ein Glück, dass ich keine Töchter habe,diese Art Freizügigkeit machte mir Sorgen.

Dann Pause.

Eine Stunde sitze ich im Lesecafé der Bücherei, studiere den Rolling Stone, lese einen Artikel zur neuen Kate Bush Platte, und noch während ich lese, kommt die zweite Gruppe. Die gleiche Schule, statt einer diesmal zwei Klassen, begleitet von zwei jungen Lehrern. Einer lässt die Kinder vorm Eingang antreten und hält eine Rede, deren Inhalt ich zwar nicht verstehe, aber ich begreife, worum es geht. Aha, denke ich, also...

Ich hatte von Kindern der ersten Gruppe erfahren, dass man in den 7. Klassen augenblicklich Erich Kästner liest, Emil und die Detektive, ich frage, wie man das Buch fände. Ein Ahmed, der neben einem der Lehrer sitzen muss und von diesem in Schach gehalten wird, sagt: "Scheiße doof!" Danke, sage ich und denke, dumm, aber immerhin ehrlich. Auch in dieser Gruppe: keinerlei Vorbereitung auf die Veranstaltung. Gerade, dass man weiß, dass sie heute stattfindet, heute um 11:00 Uhr.

Ich entschließe mich, aus Der heilige Bimbam zu lesen.
Danach ein paar mehr Fragen als in der Gruppe vorher, Tenor bleibt dennoch: schnell weg hier. Die Lehrer sagen nicht einmal danke, sie wirken erleichtert, dass zwei Stunden vorüber sind, jetzt aber ist Feierabend.

Liebe Lehrer: lasst es einfach!

Wenn es euch nicht einmal gelingt, eure Klasse für eine Lesung zu präparieren, lasst es.
Verblödet gemeinsam mit euren Schülern, das ist gerechter als so zu tun, als hättet ihr es versucht.
Leid tut es mir nur um die Kinder, die sind liebenswert, liebenswert und - in diesem Falle - allein gelassen, was sie nicht verdient haben.

Morgen Abend dann Mein Prinz. Vorm Heimatverein Roxel. Sind wir gespannt? Ja. Wir sind gespannt.

Aloha.

 

5. November

Roxel, Realschule; gestern Abend 19:00: kaum habe ich die Pausenhalle betreten, stürzt ein dickliches Blondchen auf mich zu, sagt, es sei von der WN und beginnt, noch während ich meine Utensilien auf dem Tisch sortiere, um mich ein wenig mit dem Ort vertraut zu machen, aufdringlich Fragen zu stellen. Ich verweise auf meine Webseite, dort fände sie alles Wissenswerte, aber nein, sie fragt weiter. Will sogar wissen, ob ich Roxel liebe! Schließlich dann auch noch Fotos. Stellen Sie sich mal hierhin, nein, lieber dorthin, sagt sie und hält mir ihre Digitalkamera vor die Nase. Ich fürchte, sie wird aus mir den schreibenden Lokalpatrioten Mensing machen.

Zwanzig, dreißig Gäste waren da, die meisten kannte ich vom Sehen, und denen las ich vor. Die weggezauberten Eltern zum Einstieg, dann den Prinzen.

Von meiner Frau belauschter Kommentar eines Zuhörers: es war ein herrlicher Abend.

Verkaufte eine ganze Menge Bücher und hinterließ ein hervorragenden Eindruck. Was ja nie weg ist. Seid umschlungen, Roxelaner, kann ich da nur sagen, wenngleich die, die eine Weile um mich herumscharwenzelten und so taten, als hätten sie den Dorfdichter entdeckt, gestern Abend nicht da waren. Lagen wahrscheinlich auf dem Sofa und schauten Wetten dass....


8. November

Es sagt sich leicht: ich bin gescheitert. Schwerer wird es, den Abgrund zu beschreiben, in den ich schaue, wenn ich mein Ziel nicht erreiche. Wenn ich es versuche, aber nicht ankomme. Dass die Gründe plausibel sind, dass sie nicht selbstverschuldet und Alltag einer multikulturellen Gesellschaft sind, ist zweitrangig.

Was zählt ist das Scheitern.

Für wen sollte eine Geschichte geschrieben sein, wenn nicht für Leser, in diesem Fall: Hörer.

Letzte Woche also der Blick aus großer Höhe, diese Woche der deprimierende Marsch durch das Tal der nur bedingt Deutsch sprechenden Migrantenkinder, der Blick auf eine Zukunft versperrter Chancen, die Hoffnungslosigkeit der Heimatvertriebenen, die im Wunderland Deutschland auf die glänzende Warenwelt starren und doch nur stammeln können.

Für Lehrer ist das Alltag.

Für den Alltag des Schriftstellers M. ist das Ausnahme. Lehrreiche Ausnahme, ja, aber ich könnte gut ohne sie leben, ich hätte lieber mein stilles Zimmer, pflegte die Illusion des menschlichen Miteinander, die Quadratur des Kreises, zöge das verlässliche Haben dem ständigen Kampf gegen das Soll vor und schaute den Wolken nach.

Stattdessen stehe ich vor fünfzig Kindern oder vor hundert, und beziehe jede Unaufmerksamkeit auf mich. Alles ist meine Schuld, ich habe nicht gegeben, was verlangt war, ich hätte es besser machen können, es ist mein Buch, das sie nicht verstehen, es ist meine Schuld, alles ist meine Schuld.

Ein Glück nur, dass heute die Sonne scheint und ich die Höhen schon wieder sehen kann. Vielleicht war es zu viel in den letzten zwei Wochen, vielleicht steht mir auch die Furcht vor weiteren Lesungen in "Brennpunktschulen" auf die Stirn geschrieben, ganz bestimmt nagt auch die Ungewissheit über meine und die Zukunft meiner Leute an mir, aber: ich habe eine Frau. Ich habe zwei Söhne. Wir sind gesund. Punkt. Ich habe eine Agentin. Es gibt Gespräche. Es gibt Geschichten.

Ich bin gut. ODER

Wickel ich einen Heimatverein nicht ohne mit der Wimper zu zucken um den kleinen Finger? Lasse ich nicht hundert Kinder locker nach meiner Pfeife tanzen? Kann ich nicht trocken Humor versprühen, dass alles nur staunt? - Kann ich.

Ich bin gut. (Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß)

Also von vorn: gleich werde ich mich ins Auto setzen und meiner Literaturwerkstatt Dampf machen. Werde das Ruhrgebiet kreuzen und Geschichten über unbelebte Materie einfordern. Werde, so Gott will, all den Wahnsinn auf deutschen Autobahnen überstehen, drei Kreuze schlagen, Kaffee trinken, zu Abend essen, dieses merkwürdige Buch (1) zu Ende lesen, das ich seit vier Tagen lese, werde mich der Routine beugen und morgen und übermorgen mit dem Frühzug nach Mülheim an der Ruhr reisen, um dort an verschiedensten Plätzen zu lesen.

1000 Euro sind 1000 Euro, also, wir sind nicht wie die Vögel, die nicht säen und dennoch ernten, wir sind Menschen. Wir leben heute. Morgen sind wir vielleicht tot. Also was soll das....

 

10.November

Zweimal in Mülheim Das Vampir Programm gelesen.
Zweimal gewonnen heute.
Morgen fahre ich wieder dorthin und lese noch zweimal.

 

11. November

Das Unangenehme zuerst. Dann ist es weg und ich muss mich nicht länger ärgern. Auslöser: ein liebloser bis unverschämter Empfang in einer Grundschule in einem besseren Viertel der Stadt, jenseits der Ruhr. Man hebt, als wir nach mehrmaligem Klopfen und einem eher verärgert gerufenen Herein die Tür öffnen, kaum den Kopf, sagt nur, ach ja, als Frau H., die Leiterin der Stadtbibliothek äußert, sie sei von der Stadtbibliothek, mit ihr sei der Autor M., der hier heute läse, man weist uns einsilbig den Weg zu dem Raum, in dem die Lesung stattfinden soll und lässt und allein.

Wir finden den Raum nach einigem Suchen. Dort ist nichts vorbereitet. Es stehen zwar Stühle darin, aber die stehen gestapelt an einer Wand. Was bleibt also, als sie aufzustellen, denn Kindern, die am Boden sitzen, vorzulesen, ist keine gute Idee.

Sechzig Kinder kommen, eine Lehrerin ist bei ihnen, eine Frau mit japanischen Vorfahren, sehr hübsch, sehr mürrisch. Wer weiß, vielleicht hat sie schlecht geschlafen, vielleicht ist ihr das alles auch völlig egal, denn als Gerangel entsteht, wer wo sitzen soll, greift sie nicht ein.

Im Raum steht ein Harmonium, das hatte ich gleich entdeckt. Ich hatte es angeschlossen, es hatte funktioniert. Ich hatte mir eine Akkordfolge für ein Lied ausgedacht.

Der Text ging so:

Im Krähenbusch, im Krähenbusch (so hieß die Schule)
da machen wir heut Krach,
im Krähenbusch, im Krähenbusch,
da werden alle wach.

Nachdem ich mich vorgestellt hatte, stimmte ich dieses Lied an.
Wir sangen es einmal ohne Begleitung, dann mit Begleitung des Harmoniums.
Das Gesicht der Lehrerin blieb steinern. Kein Zeichen von Entspannung.
Ich begann zu lesen. Die Kinder waren aufmerksam. Die Kinder war bereit, mitzuspielen, allerdings waren sie auch sehr zappelig, aber das war nicht schlimm.

Schlimm war, ständig dieses Gesicht zu sehen.

Als die Lesung vorüber war, verschwand die Lehrerin ohne ein Wort.

Frau H. und ich hatten schon nach dem merkwürdig distanzierten, fast abweisenden Empfang Blicke getauscht. Jetzt waren wir uns einig: man hielt sich hier für etwas Besseres. Vielleicht hatte die Stimmung auch mit erhöhtem Zickenalarm zu tun. Zickenalarm herrscht gern an Orten, an denen nur Frauen arbeiten, an dieser jedoch, vor der ich gern warnen will, erschlägt er die Arglosen.

Zweite Lesung, gegen 11 im Zentralgebäude der Stadtbibliothek.

Dritte Klassen diesmal, statt einer drei Lehrerinnen, ein bunter Kulturenmix.
Sehr lebendig, diese Kinder. Auf die Melodie von Frere Jacque singen wir zu Beginn:

Liebe Kinder, liebe Kinder,
macht Radau, macht Radau,
trampelt mit den Füßen,
zappelt mit den Händen,
macht Wau Wau.

Zugegeben, kein sehr tiefschürfender Text, aber wirksam und große Freude verbreitend, so groß, dass es nicht ganz leicht war, wieder Ruhe zu bekommen. Dann aber begann ich zu lesen und stellte schnell fest, dass das Zuhören diese Kinder offenbar mehr anstrengte als andere.

Ich entschloss mich, vieles wegzulassen, häufig nachzufragen, den Kindern Gelegenheit zu geben, mit eigenen kleinen Geschichten meine Geschichte erläuternd zu ergänzen, gegen Ende erzählte ich frei.

Großer Jubel, als ich mich verbeugte, Zugabechöre, eine lebhafte Diskussion mit den immer gleichen Fragen, Autogramme wurden gegeben und Lebensträume verraten. Einer ging mir besonders ans Herz: ein wunderschönes irakisches Mädchen sagte in sehr gebrochenem Deutsch, ihre Mutter würde immer sagen, sie solle Ärztin werden, aber das wolle sie nicht, sie träume davon, Pflanzenforscherin zu werden. Wunderschöner Beruf, sagte ich, vergiss das nicht, werde es.

Jungen sind simpler gestrickt.
Sie wollen nur berühmt werden, mehr nicht: Fußballstars, BMX-Fahrer, Rennfahrer.
Dumme Jungen eben.

Ich habe diese Woche sechsmal gelesen.
Sechsmal alles in die Waagschale geworfen.
Ich lerne. Ich lerne, in Minuten Lieder zu improvisieren, ich lerne, Geschichten frei zu erzählen, ich lerne, jeden Augenblick auf der Hut zu sein, ich lerne, dass ich immer nur so gut sein kann, wie es mein Publikum zulässt.

Jetzt fühle ich mich wie durch die Mangel gedreht.

Der nächste Job ist in Essen.
Dort werd eine noch nicht erfundene Geschichte improvisieren. Das ist abgemacht. Das wird besonders gut bezahlt. Wenngleich ich fürchte, die Bibliothekarin dort hätte lieber den klassischen Autor. Aber Vertrag ist Vertrag, und darin steht, dass ich improvisieren soll.

 

15. November

Sehr geehrte Leser,

ich bitte Sie, meinen heutigen Auftritt zu vergessen.
Tun Sie einfach so, als hätte er nie stattgefunden.
Stellen Sie sich stattdessen einen Park im Essener Südosten vor, leuchtendes Laub, sonnendurchflutet am Rande des Parks: die Stadtteilbücherei, darin der Dichter M. auf dem Höhepunkt seiner Improvisationskunst: spritzig, witzig, jedes ihm zugeworfene Wort auf Tauglichkeit für den Fortgang der Geschichte prüfend.

Stellen Sie sich vor, wie die Augen der Kinder der Morunger Grundschule leuchten, denken Sie sich einen vor Gesundheit und Zuversicht strotzenden Dichter, nicht diesen kränkelnden Mann, der trotz Grog und Erkältungsbad ungesund schwitzt und am liebsten im Erdboden versänke.

Haben Sie das? Gut.

Dann sehen Sie ihn (verschämt lächelnd), wie er seine Gage einsteckt, schleunigst seinen Mantel anzieht, das Gebäude verlässt, sich rechts hält, den Hügel bis zur Bushaltestelle hoch läuft, in den gleich darauf haltenden Bus 184 steigt, der ihn quer durch Stadtviertel über eine Paßstraße zum Bahnhof Steele bringt, wo er in die S Bahn wechselt und zum Essener Hauptbahnhof fährt. Dort hilft er einem Blinden die Treppe hinab, isst eine Riesencurrywurst, informiert sich über die Abfahrt des nächsten Zuges und fährt kleinlaut heim.

Dort ist er nun und bittet um Vergebung.

Hochachtungsvoll.

Ihr:

400 Euro for nothing and chicks for free.

Nun stellen Sie sich bloß nicht an, Herr M., die Rolling Stones, im Schnitt fünf Jahre älter als Sie, touren jahrelang. Abend für Abend mischen sie riesige Hallen auf mit ihrer altväterlichen Wut, da werden Sie als Alleinunterhalter für Kinder doch wohl müde 10 Lesungen in knapp vierzehn Tagen überstehen, oder?

Na also, wir hatten es gleich gewusst! Wir wussten doch, dass Sie das nicht umhaut. Nun gut, ein grippaler Infekt ist natürlich nicht witzig, aber ist das ein Grund, öffentlich zu jammern? Nein. Also, Kopf hoch, Herr M. Es ist ja fast überstanden. Samstag müssen Sie noch einmal ran, am 1. Dezember noch einmal, dann dürfen Sie sich von diesem Jahr verabschieden, dürfen wieder im stillen Kämmerlein über Pro und Kontra nachdenken, dürfen als Mensch ohne Abitur über die Ungerechtigkeiten der Welt räsonieren und nebenbei die nächste Geschichte entwickeln.

Was für eine Überraschung gerade, als Sie MOPSI unter Stapeln Papier auf ihrem Schreibtisch entdeckten, die Geschichte, die Sie vor noch nicht vierzehn Tagen (vielleicht sind es auch drei Wochen) beendet und weggelegt hatten. So gut weggelegt, dass Sie fast erschraken, als Sie auftauchte. Seltsam, wie schnell Sie vergessen können.

Und das gestern war doch so schlimm eigentlich nicht. Sie haben doch Lieder improvisiert, die Geschichte hat sich doch bis zu einem gewissen Grad aus dem Nichts entwickelt, und hätten die beiden blutjungen Pädagoginnen nicht eingegriffen, als die Kinder phantasievolle Zaubersprüche erfanden (Kackarschnase komm hervor! und Ähnliches), wer weiß, wohin das alles noch geführt hätte. Aber solche Wörter sollten die Kinder nicht sagen, und schließlich hatten Sie dann auch keine Lust mehr, so war es doch, oder?

Ja, so ähnlich war das, wenngleich mich etwas schmerzt. Ich hatte gerade den Bogen von der frei erfundenen Geschichte zum 10 Mond gekriegt, einer der Akteure hatte das Stichwort gegeben, ich sah es als Wink des Himmels, das Zauberwort war nämlich nicht Kackarschnase, sondern Mond, also beeilte ich mich zu sagen, so, bis hierher, und nun lese ich euch noch ein wenig aus dem 10. Mond vor, als ein Zweitklässler mit Rechtsscheitel und rundem Gesicht mich ernst anschaute und sagte: das wäre aber doch gar nicht unsere Geschichte. Was denn mit unserer Geschichte wäre?

Und da begriff ich: er hatte geglaubt, wir würden eine Geschichte erfinden, die dann im Anschluss gleich auf wundersame Weise in Buchform vorläge. Oder? Ich glaube ja. Ich glaube, ich habe ihn enttäuscht, und das wollte ich nicht.

 

1. Dezember

Notizen in der Rhein-Haard Bahn zwischen Bösensell und Krefeld

Vor Buldern das frostige Land unter eisfahlem Himmel, überspannt von lachsfarbenen Spuren Verflogener.

In Regionalbahnen ist nur aufrechtes Sitzen möglich. Jedes Lümmeln, sich strecken, sich gemütlich machen wird dank passgenauer, steinharter Ergonomie der Sitzschalen mit Rückenschmerzen bestraft. Beinfreiheit ist ein unbekanntes Wort. Zwergenbahn wäre eine präzisere Beschreibung dieser doppelstöckigen Regionalzüge. Reisegepäck ist auch nicht erwünscht.

Jeder reist allein mit den Demütigungen des Vortages und der Furcht vor erneuter Mißachtung zu seinem Arbeitsplatz im Revier. Mancher versucht noch ein wenig zu schlafen. Andere plaudern sich um Kopf und Kragen.

Aus Tonhöhe und Intonation des Hustens einer Mitreisenden schlösse ich auf vorgetäuschte Lustschreie und den Schein im Sein, aber ich bin objektiv, also höre ich nur dieses Husten.

Güterzüge voller Neuwagen, Brachflächen in Rheinhausen bis zum Horizont voll nagelneuer Mercedes Sprinter. Alle wollen gekauft werden. Von wem?

Vor mir ein junger Türke mit Britt gewichstem Haar. Diese Haarcreme riecht haargenau wie vor vierzig Jahren, als Onkel auf Sonntagsbesuch manchmal so rochen.

Ein dicker Mann, Mitte 30, verschmutzt, eine Reihe rechts vor mir. Er hat einen Klappstuhl, eine Gehhilfe und einen nicht verschlossenen Rucksack dabei. Als er sich zum Aussteigen fertig macht, aufsteht, sich vorbeugt, um seine auf dem Nebensitz liegenden Sachen zu packen, sehe ich seinen fetten Leib. Ich kann ihn auch riechen. Er riecht nach Fäkalien. Der junge Türke und ich wechseln Blicke. Achselzuckend. Bedauernd. Wenn man Geld hat, um mit dem Zug fahren zu können, gibt es dann nicht auch Duschen, unter die man sich stellen könnte - sei es nur einmal die Woche?

Bravourös wäre das gewesen, sagte die Lehrerin W. nach meiner Lesung.
Ich nickte stumm, wischte mir Schweiß von der Stirn und beschloss, den Rückweg zum Bahnhof zu Fuß zurückzulegen, um auszudünsten, denn Schweiß war in Strömen geflossen, als ich vor 80 Erst- und Zweitklässlern, Zapplern, Schnippsern, Rufern, neugierig alle, las.
Von Hause aus höchstens 30 Prozent deutschsprachige Kinder.

Was ist ein Hengst? fragte ich u.a., und niemand wusste es.

Angstschweiß also?

Nein, normaler Arbeitsschweiß, der fließt, wenn ich spiele, nachfrage, singe, tanze, lese.
War das alles in einer Person, hatte enorme Freude und habe nicht, wie in Kinderhaus vor vier Wochen, einfach aufgesteckt.

Bravourös also? - Danke.

Auf der Gladbacher Straße sehe ich ein Schild. Darauf steht: Fußpflege - auch Bluter und Diabetiker.

Links vom Bahndamm wachsen in die Tiefe gestaffelt Birken auf kargem Boden, rechts vom Bahndamm sind Häuserfronten. Die Sonne kommt von dort. Die Birken spiegeln sich in den verschmutzten Scheiben des fahrenden Zuges, die dahinter liegenden Häuserfronten treten vorüberfliegend in die Spiegelung ein und gleichen plötzlich Bühnen, tiefen Bühnen mit Birken, Fenstern, Türen und noch einmal Birken bis zum hinteren Bühnenrand.

So wie es Fraktionszwang gibt, dem sich der Demokrat beugt, gibt es auch Reimzwang, der manchmal Stadtteile zwingt, ihre Namen vorübergehend zu optimieren, damit sie dem Reim genügen.

Ein Beispiel: Marl-Sinsen.
Die Optimierung nach Reimzwang: Marl-Simsen.
Daraus folgt:

Alle in Marl-Simsen
wollen abends bimsen.

Es gäbe viele Beispiele ähnlicher Zwänge, aber aus Gründen der Heiterkeit wollen wir darauf verzichten.


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