Mai 2016                      www.hermann-mensing.de      

    

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zum letzten eintrag


So. 1.05.16 15:35

Zwei Griechen spielten Bouzoukie, ein Syrer Oud, ein Grieche Kontrabass, einer Cello, ein Deutscher Gitarre und ich Darabukka. Dazu sang eine Frau, auch sie Griechin, aber hier aufgewachsen. Ich war kurzzeitig eingeladen und ins kalte Wasser geworfen, denn gleich das erste Stück war in 7/4tel. Das griechische Restaurant, in dem wir spielten, war bis auf den letzten Platz besetzt. Die Griechen feierten das Ostern. Gegen zehn trugen Frauen ein von einem griechisch-orthodoxen Popen geweihtes Licht ins Restaurant. Wir spielten bis tief in die Nacht, tranken Ouzo, die Menschen sangen jedes Lied aus vollem Herzen mit, manche tanzten, ich habe sie beneidet.

23:40

Mindestens zwei Eichhörnen turnen durch die Kastanien, die japanischen Kirsche und das Gebüsch hinterm Schloßgartenrestaurant, wo ich sitze, Kaffee trinke und zuschaue. Kuchen gab es nicht, die Maitouristen hatten alles aufgegessen. Mutter, Vater und zweijähriger Sohn sitzen einen Tisch weiter und rüsten zum Aufbruch. Mutter hat Plätzchen, die sie verteilt, um den Aufbruch zu forcieren. Papa kriegt eins in Form einer Ente, der Junge ein Pferd mit Schweif. Damit kommt er an meinem Tisch vorbei, hält das Pferd hoch, zeigt auf den Schweif und sagt AA. Ja, sage ich, das machen wir alle.


Sa 7.05.16 9:10

So frühjahrsmüde war ich noch nie.

19:09

Man muss wieder beginnen, sonst fehlte etwas, sonst wüsste man nicht, wo der Baum steht, der vorm Haus steht, nichts wüsste man, hätte man aufgehört, aber wie gesagt, man beginnt wieder, und das Beste wäre, man ließe die Notizen der vergangenen Woche, die man im Zug (ca. 10 Stunden), bei einer Lesung (90 Minuten), auf dem Rad entlang der Havel und um ihre Seen (ca. 10 Stunden) und ansonsten mit dem Freund, dessen Kindern und seiner Frau verbracht hat, erst einmal außen vor, damit sich der Mensch (nehmen wir an, er hieße Herr M.) erinnern kann, was geschah, als er nicht am Schwielower See saß und aufschrieb, dass er Brechts Datsche suche, Menschen danach gefragt habe, und diese Menschen geantwortet hätten: Brecht? - Nee, nicht dass ich wüsste, Einstein ja, der war hier, oben im Dorf in Caputh. Und auch an all das andere wird zunächst einmal nicht erinnert, es ist ja anderem Ort notiert, daher hat Priorität, was gestern abend geschah.

Nehmen wir an, der, der wieder angefangen hat, saß gegen 19:00 Uhr an der Tierparkseite des Festspielhauses Recklinghausen, trank eine Apfelschorle, und erinnerte sich, wie er 1975 bei einem Auftritt mit seiner Band Korn die im angrenzenden Gehege lebenden Gazellen derart in Rage gebracht hatten, dass Angestellte des Tierparks erschienen und auf sofortigen Abbruch des Konzertes drangen, als der der eigentliche Protagonist dieses Textes erschien.

Ein Mann in camelhaarfarbener Bundhose, Polshirt, bequemen Schnürern, etwas älter als besagter Herr M., rechtsseitig vom Schlag getroffen, der ihm den Zeigefinger der rechten Hand in Zeigeposition gelähmt hatte, so dass der Mann mit angewinkeltem rechten Arm, ausgestrecktem Zeigefinger der Hand und natürlich im Gehen eingeschränkt an den Kulturinteressierten vorbeischlurft, wo alle ihn sehen und denken, der arme Mann. Kein einfacher Auftritt, aber er hat ihn souverän absolviert.

Mo 9.05.16 17:47

Der Mann steht einen Meter vorm Beckenrand. Er trägt eine schwarz-weiß-gestreifte Badehose. Chiemsee steht drauf. Irgendetwas scheint ihn zu beschäftigen. Er steht da, ein großer, schlanker Mann, schaut hierhin und dorthin und kratzt sich ausgiebig den Sack. Schiebt das Geschlechtsteil in Position, aber es juckt immer noch, er muss nochmal nachgreifen, während im Becken zehn, fünfzehn Menschen auf ihn zuschwimmen und links und rechts hinter bzw. vor ihm Menschen sitzen und zuschauen. Schließlich geht er weiter.


Di 10.05.16
10:25

Er sitzt mir halbschräg gegenüber. Draußen fließt Landschaft, flach wie ein Brett, Wiesen, Birken, Kopfweiden. Aber das sieht er nicht. Er hat ja das Buch. Das Buch ist ganz dick und noch unbelesen. Er legt es vor sich auf den Tisch, klappt es auf, kramt aus seinem Rucksack einen kleinen Block mit roten, blauen, grünen und gelben selbstklebenden Etiketten, zieht ein rotes ab und klebt es auf die erste Seite. Dann schlägt er das Buch wieder zu und sitzt da mit halbgeschlossenen Augen, regungslos. Schließlich schlägt er es wieder auf, blättert die erste Seite um, möglich, dass er doch gelesen hat, während er aussah, als träume er, zieht ein blaues Etikett vom Block und klebt es auf die nächste Seite. Blaue und rote Reiter, das sieht schön aus. Schade, dass ich nicht erkennen kann, wie das Buch heißt. Das Buch meines direkten Gegenübers heißt "Metaethik" und ist voll von gelb hervorgehobenen Stellen.


Mi 11.05.16
10:22

Kaum ist ein Wort geschrieben, will es Gesellschaft. Gib mir Raum, fordert es, und da ist er,
der Raum, die Hitlerfabrik in Wolfsburg, deren Front von vier mächtigen Schornsteinen dominiert wird. Dahinter zieht sich der rotbraune Backsteinbau in die Länge, so dass man zu spekulieren beginnt, wo die ersten Komponenten der Autos zusammengesetzt werden, vorn, unter den Schornsteinen, oder eher am Ende. Egal, irgendwo wird der Prozess beginnen und irgendwo enden, und man muss davon ausgehen, dass Adolfs Architekten von Henri Fords Produktionsmethoden wussten. Irgendwo also kommt das fertige Produkt heraus und steht dann auf großen Plätzen, bis es auf große Züge verladen und davongefahren wird, um in A., B. oder C. auf jemanden zu treffen, der es kauft und fährt, und die ganze Zeit schon, von der ersten Schraube an, geht es seinem Schicksal entgegen, das niemand vorhersagen kann, aber auch niemand verhindern.


Do 12.05.16
13:50

Die Gärten protzen, Tauben schwingen ihre Parabeln über der Anlage, Amseln singen, manche Gartenbesitzer versuchen auf Knien, den Vorjahresstandard wiederherzustellen, wir sitzen und schauen herum. Aus zwei Gärten Entfernung dringen hohe Stimmen herüber, das kreischen Mädchen, wir schauen auf, und dann sehen wir sie, wie sie sich recken, offenbar ist da ein kleines, aufblasbares Schwimmbecken, zwei Nymphen mit langem Haar, die Hände hoch überm Kopf, die Arme schwingen hin und her, das lange Haar weht im Schwung der Bewegung, die Nymphen sind zehn oder elf, vielleicht zwölf und nackt.


Sa 14.05.16
14:24

Halb neun, der Kaffee war fertig, das Ei gekocht, aber kein Brot mehr im Haus und Geld auch nicht. Also musste ich aufs Rad, musste zunächst zur Sparkasse, dann zum Bäcker, wo in einer langen Schlange Menschen anstanden. Vor mir ein Mittzwanziger, der für sechszehn Euro Brötchen kaufte, sodass ich mich fragte, ob er in der Pubertät begonnen haben könnte, Kinder zu zeugen, und seitdem rastlos tätig war, Brötchen mit und ohne Vollkorn, Croisants und Schwedenmehrkorn. Ich kaufte ein Croissant, ein Schwedenmehrkorn und ein normales, nahm die Tüte, ging hinaus, schloß mein Rad auf, wollte aufsteigen, rutschte von der Pedale, stolperte und konnte gerade noch verhindern, dass mein Rad mit mir und mit Schwung gegen einen Benz krachte. Durchatmen, nichts passiert, auf nach Hause, keine vierhundert Meter, aber nach den ersten hundert riss die Brötchentüte. Soviel zum Frühstück. Gerade nun fuhr ich einkaufen. Schließlich steht Pfingsten ins Haus, da will niemand verhungern, aber alle wollen ständig essen. Vorm Supermark stieg ich vom Rad, rutschte wieder von der Pedale und landete auf den Knien. Alles gut, fragte jemand. Ich sagte ja, stellte aber fest, dass sich unterm Nagel des rechten großen Zehs Blut sammelte. Auch nichts Schlimmes, aber das Signal war eindeutig, ich werde heute auf mich achtgeben müssen. Am besten, ich ziehe die Sandalen aus, die sind nämlich Schuld.


19:37

Mensch, sind die dick, dachte ich, als ich sie auf der Promenade überholte, zwei Männer mit tonnenschweren Schenkeln und Bäuchen, noch zwei und Frauen auch, und noch mehr und noch mehr, auch andere Nationen und alle große Kaliber und alle in Eile, und dann sah ich, worum es ging: braungebrannt, blonder Zopf, kein Milligramm Fett zuviel, die Trainerin in blau mit gelben Schuhen.


Mo 16.05.16
20:34

er wollte mal sehen
ob er kann was er will
er wollte sich drehen
jetzt steht er still
er ist entsetzt
hat messer gewetzt
er ist wilde glut
und tut sich nicht gut



Di 17.05.16
13:43

Nach wundervoll warmen Tagen ist es frisch, aber das kommt mir und der Arbeit, die ich mir auf den Schreibtisch gelegt habe, entgegen. Wie Sie wissen, wird der Autor M. täglich älter, er hat viel erlebt, aber eines hat er noch nie getan: keines seiner Manuskripte häufiger als 5 bis 10mal angeboten. Blieben diese Angebote erfolglos, hatte er allen im Stillen zugeflüstert, sie könnten ihn mal und weiter gearbeitet. Nun aber, zwei Jahre nach Erreichen des Rentnerstatus, plant er eine Großoffensive. Wahrscheinlich aus Furcht vor dem Tod. Da es ihm an Manuskripten nie mangelte, wird er versuchen, alle zu bedienen, die Kinderbuchverlage ebenso wie die Belletristik- bzw. Literaturverlage, und erstmals seit vierzig Jahren auch wieder die Lyrikverleger. Das wird ein Spaß. Dazu muss natürlich recherchiert werden, aber Herr M. hat Zeit. Sollten diese Mühen ergebnislos bleiben, wird er sich vom Literaturbetrieb zurückziehen und weiterschreiben.


Do 19.05.16
8:27

Nichts von Belang. Nur Arbeit.


Sa 21.05.16 13:09

als die sonne verschwand
und die nacht im hinterhof aufschlug
winselten die hunde
und die vögel schweigen
vom turme der knochenweiß gebleichten kirche
schlug eine glocke die zeit hinaus aufs Meer
ich umarmte den himmel
und hielt ihn warm


So 22.05.16 8:30

Schon nach dem ersten Tanz zerfloss ich. Schweiß tropft mir auch sonst aus den Poren, aber diesmal schien ich zu zerfließen und hüftabwärts zu brennen, ich fühlte mich kraftlos und dachte, ist das jetzt das Alter? Ich beschloß, ruhig zu tanzen. Solche Vorsätze halten bei mir jedoch selten, und so tanzte ich, schwitzte und dachte, gut, dann eben das Klimakterium, aber aus verständlichen Gründen konnte das nicht zutreffen, also doch Alter, Entkräftung oder gar Herzinfarkt, auch nicht schlimm. Ich fiel aber nicht um, ich trank einen Kaffee, ich tanzte brennend weiter, ich trank Apfelschorle, ich sorgte für Kühlung und dann fiel mir die Salbe ein. Ich glaube, dass ich schon davon sprach, wie ich vor einer Weile beim Aussteigen aus einem Bus und anschließendem Überqueren der Straße die Höhe des Bordsteines vollständig ignorierte, in Erwartung einer Ebene in den leeren Raum schritt, zwanzig Zentimeter tiefer landete und mir die linke Hüfte stauchte. Das war über drei Wochen oft sehr sehr schmerzhaft, beim Tanzen nie. Mittlerweile geht es ihr gut, aber die Wade des betroffenen Beines fühlt sich seit Tagen gezerrt an. Also rieb ich sie mir gestern mit einer Salbe ein, Finalgon. Und da ich schon einmal bei medizinischen Maßnahmen war, behandelte ich die linke Hüfte und die rechte prophylaktisch gleich mit. Daher also dieses hüfabwärtige Brennen. Ich war erleichtert, denn wenn man einen Zustand erklären kann, beunruhigt er einen nicht mehr. Gegen halb eins fuhr ich heim, trank unterwegs auf der Aasee-Terrasse noch einen Grappa und noch einen, der Vollmond hing überm See und die Luft war mild. Die letzten Kilometer, zwei längs des Sees und knapp sechs durchs Aatal bis vor meinen Keller ging ich sehr langsam an.


Mo 23.05.16 14:28

Ich hatte zwei Cohibas, eine halb aufgeraucht, aber sie schmeckte mir nicht, und ich beschloss, die andere meinem Nachbarn zu schenken. Man nennt ihn Badewannenjupp, aber das tun nur die, die seit über 30 Jahren hier wohnen. Ich mochte ihn nie, auch in der Nachbarschaft ist er isoliert, sie flaggen um sein Haus herum, wenn Schützenfest ist, ich sehe ihn hin und wieder, und dann hängt ihm immer eine Zigarre im Mund. Er schien also der Richtige. Als ich gestern seinen Sohn vor der Tür sah, lief ich hinüber und sagte, dass ich diese Zigarre hätte, die ich seinem Vater schenken wolle, ob er sie ihm geben könne. Der ist drinnen, sagte er, ich solle nur hineingehen, mich aber nicht erschrecken, es sei vielleicht ein wenig unordentlich. Badewannenjupp, mittlerweile 85, Witwer seit Februar dieses Jahres, saß im kleinsten Zimmer seiner gekachelten und mit Eichenmöbeln möblierten, riesigen Wohnung, ihm gegenüber der Fernseher. Er verschränkte die Arme vor der Brust, als ich eintrat, und als ich sagte, ich hätte diese Zigarre für ihn, antwortete er, wie er zu dieser Ehre käme. Ich erklärte es ihm. Er entspannte, erzählte mir von lebenslanger harter Arbeit, dass er 31 geboren sei und seine Frau 52 kennengelernt habe, wieder von harter Arbeit und noch mehr Arbeit, und da mochte ich ihn fast, zumindest sah ich in ihm nicht mehr den mit Flammenwerfer bewaffneten Saubermann, der jedem noch so kleinen Unkraut zuleibe rückt und auch nicht mehr den Ehemann, der seine Frau verprügelt, dass sie aus dem Fenster um Hilfe schreit, sondern den alten Mann, der allein zurückgeblieben ist, in einem Sessel sitzt und auf den Tod wartet.


Di 24.05.16
19:17

Wir hatten getanzt, waren erschöpft, wollten nach Hause, aber vorher noch einen Stick. Wir setzten uns auf die Bank vor der Tanzschule. Ich drehte einen, wir rauchten, wir hatten den Himmel mit Vollmond und milden Mai. Eine Frau tauchte auf, knapp 30, schwarzes Haar, braune Augen, schmales Gesicht, Hotpants, schwarzes Top mit goldenen Pailetten. Kramte in der Tasche, holte Zigaretten raus und steckte sich eine an. Dass man beim Tanzen immer so schwitzt, sagte sie. Wie blöde. Ich frage mich immer, ob ich die einzige Frau bin, die so zerfließt. Nein, sagte meine Tanzpartnerin, meine Kleider sind immer durch, wenn ich fertig bin. Schrecklich, oder, sagte ich, man kann anziehen, was man will, vielleicht ist deine Strumpfhose zu warm. Ist sie, sagte sie, aber ich kann meine Beine niemandem zumuten, ich habe Cellulite und Krampfadern. Krampfadern habe ich auch, sagte ich. Möglich, aber du hast keine Hotpants an.
Und dann kam plötzlich raus, dass die Frauen Schweiß attraktiv fanden.


Do 26.05.16
21:24

Auf dem Weg zur Eisdiele kreisten Krähen, die sich für den Abend einrichten wollten, und da dachte ich, dass ich selten Vogelschwärme sehe, die schönsten damals mit meiner Frau, abends in der Stadt Korfu, da jagten Schwalben herum, hunderte, tausende vielleicht, ich weiß nicht, ziepende und piepsende Geschwader knapp über den Platz und in Kreisen herum.


Sa. 28.05.16
21:20

Saß am Aasee, aß Pizza, sah eine Wolke, die sich als gleichschenkliges Dreieck getarnt hatte, dachte, wie unfassbar schön ist die Welt und beschloss, sie bis zum letzten Atemzug genießen.


So 29.05.16
9:43

Mein jüngster Enkel und ich haben eines gemein: wir mögen das Hafenfest nicht, es ist uns zu laut. Allerdings gibt es auf dem Gelände einiges zu sehen, Bagger und Kräne etwa. Diese Affinität zu- und das Staunen über solche Maschinen haben Mädchen (glaube ich) eher selten, auch die Faszination für Einsatzwagen des Roten Kreuzes, der Malteser und der Polizei, für die schweren Harley Davidsons neben dem Hot Jazz Club ist eher Jungen eigen. Wir gingen also herum, mein jüngster Enkel und ich, für den ich seit einer Weile "Meineropahermann" heiße, was ich gar nicht oft genug hören kann. Fast am Ende unserer Runde fand er Gefallen daran, seinen Buggy zu schieben. Damit das funktionierte, musste er ihn in die Waagerechte kippen, und als er das raushatte, fand er es noch viel toller, den gekippten Buggy den Bordstein hochzuschieben und wieder runter und wieder hoch etc. Dann jagte und verfolgte er mich damit. Und schließlich, wir saßen auf Treppenstufen, begann er, über das Mauerwerk zu streichen, präsentierte er mir seine offene Hand, ich musste das Nichts seiner Handfläche mit meinen Händen aufnehmen und in den Himmel prusten. Da schrie er vor Lachen und wir mussten es unzählige Male wiederholen.