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Mo 1.11.21 13:22 wechselnd bewölkt, windig

Er will nicht aufhören. Statt sich zufrieden zu geben, zwingt er sich, weiterzumachen. Er hätte sonst umsonst gelebt. Ich habe umsonst gelebt, sagt er, um auszuprobieren, wie sich das anfühlt. Es fühlt sich schlecht an. Also streicht er es und erfreut sich der Farbigkeit des ersten Novembers 2021, Tag 599 einer Krise, wie sie noch niemand der Gegenwärtigen erlebt hat, ein Ausnahmezustand, der keine Gewissheit mehr zulässt. Alles ist wahr und gleichzeitig unwahr.

Version 2. 30.11.21 19:22

Er will nicht aufhören. Statt sich zufrieden zu geben, zwingt er sich, weiterzumachen. Ich habe umsonst gelebt, sagt er, um auszuprobieren, wie sich das anfühlt. Es fühlt sich schlecht an. Also streicht er es und freut sich, dass die Blätter noch so bunt sind an diesem ersten November 2021, Tag 599 einer Krise, wie sie noch niemand der Gegenwärtigen erlebt hat, ein Ausnahmezustand, der keine Gewissheit mehr zulässt. Alles ist wahr und gleichzeitig unwahr.


Di 2.11.21 14:00 wechselnd bewölkt

Der Italiener singt, tatsächlich. Ich war zweimal in seinem Laden, jedes Mal hat er gesungen, einmal auf der Leiter stehend, Pasta einsortierend, das andere Mal hinter der Fleischtheke. Mein jüngerer Sohn hatte mir von ihm erzählt, und dann sind wir hin, um ihn zu hören. Ich kaufte Pasta und liebäugelte mit einem Grappa. Eine Woche später kaufte ich ihn. Man findet ihn im italienischen Supermarkt auf der Hammer.

14:15

ich bleibe
bis zum ende bleibe ich
ich leide und beneide mich
ich gehe & verkleide mich
als trottel eine augenweide
und alles andere ist nicht ICH


Fr 5.11.21 17:25 wechselnd bewölkt

Jetzt bin ich fertig mit Everswinkel und kann bald anderes denken und tun.


Mo 8.11.21 Krise Tag 605 12:25 teilweise sonnig

Im Juni hatte ich aufgehört, Krisentage zu zählen, weil sich Entspannung abzeichnete. 456 sind genug, dachte ich. Heute zeigt sich, dass ich mich zu früh gefreut habe. Es geht wieder aufwärts. Wir haben Inzidenzen, mit denen wir vor einem Jahr einen harten Lockdown gerechtfertigt hätten, jetzt aber gilt überall die 2 oder 3G Regel, und ich neige immer mehr dazu, denjenigen, die sich partout nicht impfen lassen wollen, aus welchen Gründen auch immer, das Recht auf Teilhabe an öffentlichen Ereignissen zu beschränken, denn ihre Anwesenheit bedeutet höheres Risiko für die, die das "Risiko" der Impfung als Akt der Solidarität verstanden haben, und zudem glauben, dass Allgemeinwohl vor Eigenwohl gilt.

20:45

ich kiffe für die übersicht
schütt grappa obenauf
rotiere still lauf dauerlauf
& stimme oder nicht


Di 9.11.21 Krise Tag 606 16:45 sonnig

Mit dem Rad an Tilbeck vorbei übern Berg nach Schapdetten, den Südhang der Baumberge entlang mit Blick auf die Borkenberge, am Longinusturm und dem WDR Sendemast vorbei hinunter nach Billerbeck, Kaffee mit H., eine neue Katze ist im Haus, die Kinder waren auch da. H. und ich stellten fest, dass wir uns seit 24 Jahren kennen und mögen.



Angesichts der Dummheit unserer Spezies macht sich Ratlosigkeit breit und Ermattung setzt ein.




Mi 10.11.21 19:45 Krise Tag 607 hohe Bewölkung

Und wenn Sie den Roman fortsetzten, Herr M?
Godot saß mit gekreuzten Beinen auf dem Sofa.
Noch nicht.
Gut. Dann spüle ich jetzt für Sie.
Danke.


Do 11.11.21 14:38 Krise Tag 609 bewölkt, am Morgen Rauhreif auf Dächern

Erst hieß es, P. ist tot. Einfach so. Über Nacht. Herzkasper. Verdammt. Das ist vierzehn Jahre her und ich dachte mir nichts dabei. Sechs Jahre später traf es R. Zuviel Alk. T. ging bald nach ihm, er hatte Leukämie. Grüß meine Frau, sagte ich, als ich ihn das letzte Mal sah. Letztens starb I., eine Freundin aus Holland. Sie war kaum 40, und keiner konnte mir sagen, woran. Vor eineinhalb Jahren wurde W. im Auto erwischt, unser Gitarrist, der ein riesiges Loch hinterlässt. A., der von uns favorisierte Nachfolger, starb, nachdem wir zweimal miteinander gespielt hatten, an der Raucherseuche. Vor ein paar Tagen starb WW., der mir, als er achtzehn war, am Brunnen Gedichte aufsagte, die ich nicht hören wollte. Im Frühherbst hatte O. einen Schlaganfall, vor zwei Wochen starb der schwarze Amerikaner, und so langsam denke ich mir etwas dabei. Es wird Herbst, denke ich. Keinem Wort ist zu trauen, keinem Atemzug, keinem Lachen. Ich lasse mich trotzdem erheitern und es macht mich stolz, dass ich es ertrage. Überleben ist ein Wunder, das sich ständig erneuert, aber es kann auch jeden Augenblick enden. Da tut auch das traurige Lachen gut. Die Pandemie hat mich ermüdet, die Dummheit reizt mich aufs Blut.


Fr 12.11.21 13:50 Krise Tag 610, sonnig

Es hat ein wenig gefroren in der Nacht. Mit der Sonne verschwand der Frost. Ich schaute den Rohrbusch hoch. Sonnenlicht gleißte. Überm Feld feiner Dunst. Bald wird es Nebel geben. Darauf freue ich mich. Ich war unterwegs zu einer Beerdigung. Ich kannte den Toten. Ich mochte ihn, aber Beerdigungen mag ich nicht. Lügen paaren sich mit Heuchlern, und ich bin einer von ihnen. Angesichts der vielen Menschen werde ich neidisch. Wegen der Seuche dürfen nur 30 Menschen in die Kapelle. Ich stehe mir draußen die Beine in den Bauch. Einer vom Tango ist da. Der Plattdeutsche auch. Der Nervige aus dem Garten. Die früher-waren-alle-hinter-ihr-her Künstlerin. Ein Professor hält die Totenrede. Es werden Gedichte vorgelesen, Gedichte des Toten, dazu wird gegeigt und geflötet. Das handelsübliche Beerdigungspathos kollidiert mit meiner Vorstellung vom Verschwinden aus dieser Welt.

Eine schöne Leich, sagen sie in Wien. Und wie viele Menschen da waren, werden sie sagen. Der soziale Graben verläuft zwischen den Grabmalen.Ich werden gehen, ohne andere diesem Ritual auszusetzen. Am liebsten wäre mir, der Tod bedeutete augenblickliches Verschwinden. Der Verstorbene musste zweimal sterben. Einmal, vor zwei Jahrzehnten etwa, blieb sein Herz stehen. Sie holten ihn zurück, damit er jetzt noch einmal sterben musste. Das ist auch nicht das, was man sich wünscht.

Als alles vorüber war und das Grab verwaist, bin ich hingegangen. Du hast einen schönen Platz so unter einer Eibe, aber ich möchte nicht in deiner Kiste unter liegen. Och, geht, sagte WW. Mach's gut. War ne schöne Beerdigung. I
ch lasse mich verbrennen, obwohl - ökologischer und nachhaltiger wäre es, sich in die Verwertungsketten der Todeskäfer einzureihen.

20:35

Das Zimmer hat seit vierzig Jahren immer so ausgesehen wie seine Bewohner es wollten. Es war immer ein schönes Zimmer. Man sitzt drin und schaut und wenn man allein ist, sind alle noch da. Ich bin gern hier, sagt Godot, wenngleich ... lang bleib ich nicht, ich hab viel zu tun und bin ein bisschen ratlos. Ich habe auch eine Mordswort, sagt Herr M. Ich weiß nur nicht, an wem ich sie auslassen soll. Beim größten Verbrecher von allen, sagt Godot. Bin ich das nicht selbst? Oder bin ich nur ein dieser verachtungswürdigen Mitläufer? Peinlicher Mitläufer, sagt Godot. Vollverantwortlich, aber gerichtlich nicht zu belangen. Einer der glaubt, dass er sich mit 20 Euro pro Monat für Ärzte ohne Grenze freikaufen kann. Er könnte mehr zahlen, sein Budget gäbe das her. Es gibt ja auch ein Zeitungsabo, Mubi, Netflix und all das andere her, das monatlich kostet. Er ist also ein Arschloch. Das einzige, was Herrn M. rettet (und somit auch mich, obwohl wir mehr als zwei sind) ist das Wort. Welches Wort weiß er nicht, aber wenn es auftaucht, erkennt er es sofort.

fröhlicher gesang

Friedjof Friedjof
Gräber steh'n in Reih und Glied
deine toten Missetäter
summen dir ein Friedjofslied
drehen sich in ihren Kisten
liegen ungerührt herum
nur in frischen Leichen nisten
Aufesser und fressen stumm

Bis jetzt ist es nicht aufgetaucht. Wenn es neblig wird, wird es unter Umständen leichter. Aus Nebel ließe sich etwas machen. Nebel ist der Atem der Welt. Sie ruht jetzt. Im Nebel taucht Dover auf. Es schwankt und mit ihm die ferne weiße Küste. Schwache Lichter am Schlagbaum des Grenzübergangs Glanerbrück. Ein Nebelhorn, das die Beerdigung auFmischt. Ich will mehr Nebel. Ich will Sichtweiten unter 15 Meter. Im Kopf ist er schon.

Als ich den Friedhof verließ und an der Kapelle vorbeikam, hatte schon die nächste Trauerfeier begonnen. Aus der Tür kroch verzagter Gesang. Ich dachte an die Nachbarn, die das den ganzen Tag hören müssen. Dieses Jammern vor Gott. Voller Groll auf die Löcher in der Erde und die Grabsteine darüber, voller Ratlosigkeit über das Tollhaus der conditio humana fuhr ich heim. Am Abend, dachte ich, rücke ich das gerade. Im Atrium des LWL Museums wäre Tango. Als es soweit war, steckte ich alles ein, die Schuhe, die Maske, den Impfausweis und die wiedererwachte Unruhe vor dem Virus und fuhr in die Stadt. Man kontrollierte Impfpass und Personalausweis. Man ließ mir meine Tasche, weil ich Tänzer bin. Viele Menschen/innen saßen und gingen im Atrium herum. Sie mussten Masken tragen. Die Tänzer nicht. Die Akkustik des Raumes war so schlecht, dass ich nach einer halben Stunde heimfuhr. Und da bin ich. Nicht klüger als zuvor. Aber der 8Zeiler gefällt mir.


Mo 15.11.21 16:00 Krise Tag 613 grau

Wenn ich mich zurücklehne, die Droge nehme, die so viele Namen hat wie es Länder gibt, wenn ich die Beine unterkreuze, und darauf warte, dass ich doch noch levitiere, wenn ich den massiven Ärger des Tages abwerfe und mich freue, dass ich mich nicht kleinkriegen lasse von dem von niemand mehr zu kontrollierenden Tohuwabohu, das wir uns leisten, wird es meist dunkel. Heute herrschte prächtiges Grau für Verstimmungen, aber worüber sollte ich verstimmt sein. My life is good, ihr Fürze. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern. Dafür füttere ich sie. Ich lindere die Aufregung durch Information, sehe nicht fern, und übe die Kunst, mich auf den Tag zu freuen, wenn die Pandemie begraben wird. Das dauert, und wieder wird es Tote geben, aber es gibt jeden Tag überall Tote, für deren Tod wir verantwortlich sind. Diese Katastrophe haben wir uns redlich verdient. Sie ist teuer. Die nächste wird noch teurer. Nach dem Wohlleben kommt nun das Bezahlen. Ich habe 72 Jahre ausgehalten, den Rest schaffe ich auch. Schönen Abend.


Fr 19.11.21 Krise Tag 617 grau

1
wenn der nebel in die häuser schleicht
und die sense einen neuen angriff schwingt
wenn vernunft die einen nicht erreicht
und die wut der anderen in den gläsern klingt
wenn die einzelnen den vielen order geben
und in vielen langsam wut aufsteigt
wie, ihr trottel, woll'n wir leben
wie, wenn ihr nicht endlich einsicht zeigt

18:15

2
wenn nebel in die häuser schleicht
die sense einen neuen angriff schwingt
vernunft die einen nicht erreicht
und wut der anderen in den gläsern klingt
wenn einzelne den vielen order geben
und vielen langsam wut aufsteigt
ihr trottel, wie woll'n wir dann leben
wenn ihr nicht endlich einsicht zeigt


20:35

3
wenn nebel in die häuser schleicht
die sense einen angriff schwingt
vernunft die einen nicht erreicht
dass ungläubiges staunen in den anderen klingt
wenn einzelne den vielen order geben
und vielen langsam wut aufsteigt
ihr trottel, wie woll'n wir denn leben
wenn ihr nicht endlich einsicht zeigt

20:40

4
wenn nebel in die häuser schleicht
die sense einen angriff schwingt
vernunft die einen nicht erreicht
und ungeduld der anderen in den gläsern klingt
wenn einzelne den vielen order geben
und vielen langsam wut aufsteigt
ihr zögerer, wie soll'n wir leben
wenn ihr nicht endlich einsicht zeigt


23:00

prinzessin lebenslust
hat trotz und feuer inhaliert
ich wisch ihr wünsche von den lippen
prinzessin bleibt pikiert

kaffee
ein wein
ein witz
nein nicht
na bitte
dann


Sa 20.11.21 13:40 Krise Tag 618 grau

Mein Klavier ist gestimmt. Ich staune, wie viel prägnanter es klingt, nicht nur in den ersten zwei Oktaven, in denen es sich bisher kaum zu spielen lohnte. Der Klavierstimmer war nach gut einer Stunde fertig. Meine Schwester hatte ihn mir vermittelt. Er stimmt ihr Klavier schon über ein Jahrzehnt. Ich spiele täglich. Mittwochabend haben die alten Männer mit einem neuen Gitarristen Musik gemacht. Sie mussten sich aneinander gewöhnen, sind aber froher Hoffnung. Daraus könnte etwas werden, denken sie. Es wird etwas ganz anderes, natürlich. Der Schlagzeuger hatte zu fortgeschrittener Stunde leichte Zerrungen im Oberschenkel des linken Beins, sein Basedrumbein. Trainer, mein Muskel macht zu, rief er, und dann kamen auch schon die Physiotherapeuten gerannt, um den Muskel wieder gängig zu machen. Sie hatten dunkles Haschisch, Gras, Grappa und Gin, das in die Muskulatur geraucht und getrunken wird. Zum nächsten Vollmond will man sich wieder treffen. Das wäre schön. Der Schlagzeuger hat sich noch immer nicht von seiner Dorfschreiberexistenz erholt. Schreiben scheint ihm nutzlos. Trotzdem schleicht er um jedes Wort. Hinsichtlich der 4 Welle hat er seine gesellschaftlichen Aktivitäten zurückgestellt. Wenn es stimmt, dass die Ungeimpften die gegenwärtige Situation zu verantworten haben (eher die Politik, behaupte ich), wünscht er sich nichts sehnlicher, als ... ja, als was ... eine Revolution? Nein. Es ist grau. Es ist typisch. Er weiß nicht, ob überhaupt irgendetwas stimmt. Er nimmt an, nichts stimmt. Dummes Reden, überall. Lass euch impfen, oder sterbt möglichst schnell, damit das aufhört.


So 21.11.21 19:55 Krise Tag 619 sonnig

Kein Wort von dem gelb gestrichenen Haus, mit Container daneben, ehemals Ladefläche eines LKW, keins von den Kindern, die über eine Wiese toben, keins über den jungen Mann, der rauchend und telefonierend vom Hof weg und wieder auf ihn zugeht, keines auch von der Mutter, die ihre Kinder an der Tür empfängt. Kein Wort von den zwölf Kranichen, versprochen. Sie kreisen über der Raststätte, rufen und sch
einen unentschlossenen. Kein Wort von der Eisdiele und der blonden Prinzessin in engem Schwarz, das Haar zur Kopfmitte in einen Zopf geflochten, der bis herunter zu den Schultern reicht, Plateau-Heals, ein Kind an jeder Hand, steil und trotzdem vergeblich der Auftritt mit Vater zwei Schritt vor ihr, Basecap, Fliegerjacke, Asiat, beide kaum dreißig. Kein Wort von der Leere, die alle anstarrt, vor der wir wegrennen und rauchen und Eis essen und spazieren gehen, damit sie uns nicht erwischt. Es war ein schöner Sonntag, mehr soll nicht sein.


Mo 22.11.21 14:00 Krise Tag 620 sonnig

Der Elektromeister S., auf den ich mit Google stieß, sei, hieß es in einer Kundenbewertung, ein Mann, der alte Elektrogeräte repariere, statt sie wegzuschmeißen, wie es Brauch ist. Dem also brachte ich vor geschätzten sechs Wochen meine Messingstehlampe. Sie ist bestimmt 30 Jahre alt, vielleicht sogar älter, sie war, also ich sie kaufte, sündhaft teuer, aber damals arbeitete ich viel für das Radio und konnte sie mir leisten. Schon seit längerem neigte sie dazu, zu flackern, aus- oder gar nicht anzugehen. Irgendwo war ein Wackelkontakt. Eine Weile kriegte ich sie immer wieder hin, ich bin kein begabter Handwerker, irgendwann baute ich sie auseinander und konnte den Fehler lokalisieren. Ein Kabel war gebrochen. Ein Kabel, das sich vom Dimmer durch den gesamten Lampenhals, der zudem höhenverstellbar ist, zieht. Das würde ich nie hinkriegen. Elektromeister S. sagte, er wohl, allerdings wäre es nicht so einfach, eine passende Fassung für das Halogen-Leuchtmittel zu bekommen. Sechs Wochen hat es gedauert, in denen ich zunehmend zweifelte, ob Herr S., dessen Büro und Werkstatt schlecht beleuchtet und unaufgeräumt ist, sich nicht nur hinter seinem Genie versteckt wie ich, aber nicht wirklich zu Potte kommt. Seit einer Stunde steht die Lampe am alten Platz. Wenn mal wieder etwas kaputt geht, das ich nicht wegwerfen will, weiß ich, wo ich hin muss.


16:30

Die Sonne sinkt. Ein Flugzeug zieht einen
rosa Streif nach Nordwesten. Gleich rolle ich mich unter die Decke. Ich habe genug getan. Seit ich auf der Welt bin, tu ich fast nichts. Das klappt nur, weil ich meinen Zweifeln widerspreche, die behaupten, ich wäre faul. Aber faul bin ich nicht, ich lebe nur in den Tag hinein. Als die Kinder noch im Hause waren, war das kompliziert. Heute habe ich alle Zeit der Welt. Und wenn's nur für die Dauer eines abbrennendes Zündholzes ist. Staunen und Neugier sind der Grund meiner Sünden. Ich bereue das nicht. Das ist im Rahmen der gängigen Erklärungen alles ICH, aber bei mir geht es darüber hinaus. Ich weiß nicht, wer ICH ist. Gut möglich, dass ich es gar nicht wissen will. Jetzt rolle ich mich. Der Horizont leuchtet beige, orange und silbergrau.

18:00

Mir ist die Welt schleierhaft. Ich will nicht wissen. Ich lebe, nicht wissend, wer ICH ist. Das macht es aufregend. Und letztlich ist es egal, oder ob überhaupt ein ICH existiert. Stimmt's Beckett? Och komm, sagt Godot. Lass' uns über was anderes reden. Erzähl uns vom Hund.


Di 23.11.21 11:08 Krise Tag 621 grau

Der Hund trug einen kleinen Teppich. Vielleicht war es ein muslimischer Hund, und der Teppich war sein Gebetsteppich. Als er an einen Laternenmast kam, legte er ihn ab, um den Mast beschnüffeln zu können. Was im Hundehirn wohl an Informationen zusammenläuft? Da bin ich immer neidisch. Das möchte ich auch. Feststellen, wer wo wen in den letzten vierundzwanzig Stunden markiert hat. Kann er sich ein Bild machen? Als der Hund fertig ist, nimmt er seinen Teppich und folgt seinem Herrn zur Eisdiele.


11:54

Ich lese drei Romane gleichzeitig. Nur meinen lasse ich ruhen.


14:22

Ich checkte die Laufbänder der Kassen bei Netto, neigte zur Kasse 1, sah vor mir die prallvolle Tasche am Boden, ddie die Kundin vor mir noch nicht ausgepackt und das Band gelegt hatte und wechselte zur Kasse 2. Da sah es entspannt aus, aber die Kasse stürzte ab, kaum, dass ich mich angestellt hatte, das System musste neu hochgefahren werden, und es war wie immer, wenn man die Spur wechselt. Auf dem Heimweg rannte eine Dreijährige wiehernd über den Spielplatz des Ursula Kindergarten. Mädchen und Pferde scheinen eine besondere Beziehung zueinander zu haben. Warum das so ist, weiß ich, behalte es aber für mich, denn sie würden mich als Macho beschimpfen. Wer Ursula ist, weiß ich nicht.

Könnt ich dir sagen, sagt Godot.
Wart mal, sagt Herr M., das Nebelgedicht, Sekunde.

19:38

wenn nebel um die häuser schleicht
die sense frisch geschliffen singt
vernunft die einen nicht erreicht
und ungeduld der anderen in den gläsern klingt
wenn einzelne den vielen freiheit nehmen
und vielen langsam wut aufsteigt
ihr zögerer
wie lange soll'n wir uns noch sehnen
weil ihr nicht einsicht zeigt


Mi 24.11.21 23:22 Krise Tag 622 grau.

Ich fahre den Aasee entlang. In Höhe des Anlegers sitzt ein Malteser und schaut mir entgegen. Ich werde dir nicht ausweichen. Ich bin der Mensch. Du bist der Hund. Der Malteser begreift und tritt zur Seite. Ich weiche auch aus. Dann ziehe ich nach links, weil Herrchen und Frauchen zwei Drittel des Weges einnehmen. Beide sind um die 50. Er ist drahtig, so groß wie ich. Sie ist kleiner, hat dunkles Haar. Ihr ist das Folgende peinlich. Der Mann tritt mir in den Weg und sagt, dass er nicht in Ordnung fand, wie ich auf seinen Hund zugefahren wäre. Ich bin doch ausgewichen, sage ich. Aus meiner Sicht sah das anders aus, sagt er. Das war nicht meine Absicht, sage ich. Dann entschuldigen Sie, sagt er.


Do 25.11.21 16:10 Krise Tag 623 grau

Die Straße kommt aus der Stadt und führt nach Ochtrup. Da steht das Kind. Gut fünfhundert Meter von zu Hause. Es muss über die Straße, geradeaus, die Schule kann es schon sehen. Da will es nicht hin. Es will da nicht hin, weil da Unheil ist. Alles beißt und schlägt und will vernichten. Nur das Fräullein nicht, aber die anderen sind stärker. Das Kind kriegt Kopfschmerzen. Es dreht um und rennt nach Hause. Es weiß, dass es weinen muss, wenn man ihm glauben soll, aber es weint gern. Wenn es weint, weiß es, dass es lebt. Als es vor der Haustür steht, riecht es das andere Unheil. Überall ist Unheil. Das Kind will klingeln, aber da geht die Tür schon auf. Das Kind geht in die Küche. Der Vater ist längst fort zur Arbeit. Das Kind setzt sich.


Fr 26.11.21 11:57 Krise Tag 624 grau

Mancher hatte gedacht, das dauert ein halbes Jahr, dann ist es vorüber, aber es dauert nun schon dreimal so lang und wird noch dreimal so lang dauern. In Afrika lauert schon die nächste Variante. Demnächst wird bei einer Anti-Corona Demonstration jemand erschossen, das ist immer gut, dann hat man einen Märtyrer, und mit Märtyrern kann man beste Propaganda machen. So ein Märtyrer muss nicht einmal von der Polizei erschossen werden, es gibt genügend Dunkel- und Hintermänner, die so etwas diskret erledigen. Wir stecken bis zum Hals in der Scheiße. Unsere Politiker wissen zwar, was zu tun wäre, die Wissenschaft erklärt es ihnen seit November 2019 ununterbrochen, aber sie haben nicht die Eier, es umzusetzen. Das ist ein weiterer, wunderbarer Ansatzpunkt zur Destabilisierung, da können sich starke Männer mit Reden brüsten und Versprechungen brüllen. In Deutschland sind die Querdenker augenblicklich recht still. Ihre Chefs haben sich nach Afrika oder sonstwohin abgesetzt, und manch wackerem Aluhutträger mag klar geworden sein, dass sie vordringlich in die eigene Tasche gewirtschaftet haben, statt die Sache zu fördern. Ich halte mich fern, so gut es geht, Weihnachtsmärkte waren noch nie mein Ding, materielle Weihnachsgeschenke sind von mir nicht mehr zu erwarten, ich schenke Zeit und Erlebnisse, und abends im Bett bete ich.


Sa 27.11.21 21:28 Krise Tag 625 anfangs grau, nachmittags teils sonnig

Vorgestern habe ich begonnen, Klaviertöne um Halbtonschritte zu erhöhen, bzw. zu vermindern. Ich lege Akkorde höher und tiefer. Komplexe Tonfolgen. Mein Spiel wird dadurch harmonisch variabler, ich lerne Tonleitern in anderen Kontexten kenne, das fordert meine Aufmerksamkeit, ich improvisiere über das Hören, Besseres gibt es nicht. Alles wird molliger. Das passt zum Wetter.


So 28.11.21 21:43 Krise Tag 626 grau

Um acht bin ich aufgestanden und habe gefrühstückt. Ich trank zwei Kaffee, ich las Zeitung, und ging wieder ins Bett. Dort blieb ich bis in den Nachmittag. Mit Einbruch der Dunkelheit fiel mir auf, dass Sonntag ist. Ich legte mich hin und hörte die Session der alten Männer, die online ist. Ich wärmte Essen auf. Ich trödelte. Ich trödele bis a: die Seuche vorbei ist, oder b: falls sie nie mehr weg geht, bis ich den Arsch zukneife. Erst mal trödle ich bis zum Frühling. Nächstes Jahr will ich verstärkt im Garten helfen. Vielleicht reiße ich dann wieder das Maul auf.


Mo 29.11.21 10:35 Krise Tag 627 grau

Sechshundertsiebenundzwanzig Tage bin ich nicht verrückt geworden. Meine Eltern mussten einen Diktator und einen Krieg lang nicht verrückt werden. Ringsum aber habe ich den Eindruck, dass alle unter Hochdruck verrückt sind. Wenn man wüsste, wo man hin könnte, müsste man dahin. Aber man weiß ja, dass es da auch nicht anders ist.


19:00

Die Nachrichten.

Guten Abend, meine Damen und Herren,

Herr. M., verantwortlich für Wohlergehen und Frieden, sagte am Rande einer Pressekonferenz, er begreife es nicht. Nicht, dass er überhaupt je irgendetwas begriffen habe, nein, aber jetzt begreife er nichts mehr, rein gar nichts. Damit ihn das nicht aus der Bahn werfe, errichte er ringsum Sicherheitstext. So lebe er dahin, und sehe keinen Grund, sich für irgendetwas zu entschuldigen.

Dann verließ er die Konferenz, setzte sich auf sein Rad, und verließ die große Stadt. Er führe jetzt endlich los. Sein Ziel war Gibraltar. An einer der ersten Ampeln der Stadt würde ihn ein Wassertransporter umfahren. Besser, er bliebe hier. Besser ich bleibe hier, denkt er, fährt sein Rad zum Portugiesen, kauft Wein, der, wie sich zuhause herausstellen wird, der falsche ist. Weißwein. Der Rote, den er immer dort kauft, ist seit zwei oder drei Wochen aus und die anders aussehenden Kartons des neuen Rotweins hat er verwechselt. Muss er morgen tauschen. Freut er sich. Hat er was zu tun. Fährt er rum. Schaut er hier und da. Isst vielleicht Fritten und füttert eine beige Taube. Eine Taubendame, wie sie spaziert. Dann kommen Silbermöven und schreien alles zusammen, als säße man in Altona. Neben ihm ein UPS Fahrer, knapp dreißig, isst eine Wurst, checkt seine Timeline. Innenstadt hochgesichert mit Fahrsperren und Security. Viel Polizei. Alle mit Masken. Er ist weg. Er hat ein zuhause.


Di 30.11.21 12:55 Krise Tag 628 grau regnerisch

Herr M. hat sich gegen 10 Uhr regendicht angezogen (5 Schichten oben, 3 unten), auf den Roller gesetzt und ist unter größter Vorsicht, die Zweiradfahrer immer, vor allem aber im November üben müssen, um nicht wegzuschmieren, in die Stadt gefahren, den Weißwein gegen Rotwein zu tauschen. Der schien gestern leer, aber da half ihm der Hinweis seines Nachbarn, der riet, den Weinsack aus dem Karton zu ziehen, zu glätten, um so noch allerletzte Reste (in diesem Fall vier kleine Gläser) herauszuquetschen. Hat Herr M. also Woche für Woche seit drei Jahren zwei bis vier Gläser Rotwein weggeworfen? Grob geschätzt einen Karton pro Woche, 52,149 Wochen pro Jahr? Er war entsetzt. Essen (und Trinken) wirft man nicht weg, hatte seine Mutter immer gesagt. Seine Mutter wusste, was richtig und falsch ist. Falsch war alles, was ihr nicht gefiel.

Herr M. hat viel gelesen in letzter Zeit. Das meiste hat er am Tag drauf vergessen. Dann schlägt er eines auf und weiß wieder, worum es ging. In diesen Tagen liest er vier Bücher gleichzeitig. Manchmal fällte seine Wahl auf das, was am nächsten liegt. Es sind Bücher von Josef Winkler. Abschied von Vater und Mutter, Friedhof der bitteren Orangen, Der Leibeigene und eines von Clemens F. Setz: Die Bienen und das Unsichtbare. Bei soviel Abwechslung vergisst er die Pandemie und den Wunsch, dass allen Ungeimpfen/Innen die Eier abfallen sollen.

Die Literatur verhindert das, das stimmt ihn milde. Da er eine tägliche Portion THC inhaliert (gleich, jetzt noch nicht) ist sein Lebensende gesichert. Aber wie schafft es ein Mann, sich die nach wie vor illegale Substanz zu beschaffen? Nun, meine Damen und Herren, hier geraten in eine rechtliche Grauzone, wir wollen nicht davon sprechen, dass er mit Feuerwaffen nächstens unterwegs ist, das mag sein, ja, es kommt dann und wann vor, aber wir, die wir die Geschichte des Herrn M. jeden Tag neu und wieder anderes erfinden und protokollieren, verschweigen die Wahrheit und reiten auf Lügen. So muss es sein, denken wir, man stimmt ein in den Chor der Lügner, man fühlt sich aufgehoben, draußen steht der nagelneue SUV, dem auch das Grau nichts anhaben kann. Da kann er sich jederzeit reinsetzen und rumfahren, da schnappt ihn das Virus nicht.

21:35

Wir sehen uns im Dezember.