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Oslo

Wir sind nach Schweden gefahren, um dort unser neues Leben zu testen. Zu diesem Leben gehört seit knapp einem Vierteljahr ein Kind. Wir sind glücklich, aber natürlich schwirrt uns der Kopf. Nichts ist so, wie wir es uns vorgestellt haben, falls wir überhaupt eine Vorstellung hatten. Unser Leben hat sich von Grund auf verändert. Wir haben ein Haus gemietet im Värmland. Wir teilen es mit einem Paar, das ebenfalls seit kurzem ein Kind hat. Wenn dieser gemeinsame Urlaub klappt, wollen wir eine Wohngemeinschaft gründen.
Das Haus liegt an einem Hang. Das nächste Dorf ist fünf Kilometer entfernt, der nächste Hof 500 Meter auf der anderen Seite einer Senke. Der Bauer, der ihn bewirtschaftet, heißt Harü. Es gibt keinen Strom hier, und der Abort ist eine Grube im Wald. Füchse schnüren übern Weg, Kreuzottern winden sich ins dichte Unterholz, nachts ist es so ruhig, dass es einem den Atem raubt.
C. wird später behaupten (und behauptet das heute noch immer) dass sie einmal, als sie nachts nicht bis zum Abort gehen wollten und sich stattdessen in die Wiese am Hang setzte, von einem Elch umgestupst wurde, der sie beschnuppert hatte.
Aber das ist eine andere Geschichte.
Heute wollen C. und ich nach Oslo fahren. Das ist nicht sehr weit. Vielleicht dauert es zwei oder drei Stunden mit dem Auto. Das Besondere an diesem Ausflug ist, dass wir unser Kind zum ersten Ma, seit es zu uns gekommen ist, allein lassen. Allein in der Obhut des anderen Paares.
So etwas macht unruhig.
Nicht, dass wir ihnen nicht trauten, nein, aber als frische Eltern muss man erst begreifen, dass jede Sekunde ohne Kind eigentlich verloren ist. Man fühl sich nicht gut. Das Kind fehlt. Man kämpft ständig mit seiner Unruhe und seinem schlechten Gewissen.
In so einem Zustand also erreichen wir die Stadt.
Gehen herum. Sind verwundert, dass das, was wir zu Hause Nazi-Architektur nennen, auch hier existiert: das Rathaus von Oslo. Erst hier begreifen wir, dass diese Architektur nichts weiter war als eine architektonische Strömung, eine Mode, die unglücklicherweise in die düsterste Epoche unsere Geschichte fiel.
Wir trinken irgendwo einen Kaffee und sind wie erschlagen von den horrenden Preisen.
Wir besuchen das Munch Museum und schauen dem blanken Entsetzen ins Auge.
Und fahren heim. Schnell, denn das Kind wartet doch, oder? -
Nein. Es hat nicht gewartet. Warum auch? Es ging ihm gut. Es war versorgt. Es hatte alles, was es braucht. Junge Eltern neigen dazu, ihre Rolle gewaltig zu überschätzen. Aber auch das ist normal. Alles ist normal. Die absonderlichsten Gewohnheiten, die furchtbarsten Unglücke, das größtmögliche Glück, alles ist so, wie es sein soll. Selbst die Tatsache, dass wir nichts von alldem verstehen, ist normal. Manchmal muss man wegfahren, um zu begreifen. Manchmal muss man etwas aufschreiben, auch, wenn zwischen der Reise und dem Aufschreiben über zwanzig Jahre vergehen. Auch das ist das Normalste der Welt.

 

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