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Hermann Mensing

Pop Life

(Ausschnitte aus allen Kapitel, ausgewählt nach dem Zufallsprinzip)

1

Man verhörte ihn. "Vorrink?" fragte jemand. "Is that your name? Hans Vorrink?"
Hans nickte.
Man war nicht unfreundlich, aber er spürte, dass man ihn schlimmer Dinge verdächtigte. Kommunismus, Rauschgift, Zweifel an der Großartigkeit Amerikas, so etwas. Da er sich schuldlos fühlte, fiel es ihm leicht, die Fragen der Beamten zu beantworten.

Manche waren dumm, andere ein wenig peinlich, etwa die, die man ihm schon bei der ersten Einreise gestellt hatte, hatten Sie je eine Geschlechtskrankheit?

Nein, bis auf die, die Deborah, eine Jüdin aus Queens, mit vor acht Wochen angehängt hat, aber das sagte er nicht, erstens, weil er schon wieder gesund war, zweiten, weil ihm klar war, dass die Beamten nur ihre Pflicht taten und den Vorurteilen aufsaßen, die man ihnen eingetrichtert hatte. Sine Papiere waren in Ordnung, in seinem Gepäck fand sich nichts, was dort nicht hätte sein dürfen, und so wurde er eingelassen ins Paradies.

(Kapitel 1, S. 1/2)

2

Als Paul San Francisco erreichte, war er so erschrocken über all die Langhaarigen, Schwulen, Lesben, Chinesen und wer sonst dort lebte, dass er beschloss, er brauche zunächst einmal Urlaub, ganz normalen Urlaub, Urlaub an einem Strand mit Sonne, und da wusste die Tante etwas. Sie schenkte ihm ein Ticket für die Insel.

So kam es, dass er an diesem Tag in Waikiki saß und sich fragte, was er hier eigenlich sollte, mit den mehr oder weniger dicken Honeymooners ringsum, die in der Sonne brieten wie Spanferkel und sich langsam betranken.

Als er aufblickte, sah er jemanden den Boardwalk herunterkommen. Jemand, der überhaupt nicht hierher passte, das heißt, blond wie er, passte er schon irgendwie zu den Surfern, die überall herumlungerten, aber das waren Partysurfer, der richtige Surf fand nicht an Waikiki statt, der lag weiter die Kalakaua Avenue westlich, eine halbe Stunde von hier. Paul reckte sich, um genauer sehen zu können und dachte, was ist das für ein Bekloppter.

(Kapitel 2, S. 11/12)

3

Das war ein Grund. Ein anderer war, dass ihm ein abgebrochenes Architekturstudium im Nacken saß. Ein Professor, der ihn für begabt hielt und Großes aus ihm machen wollte, aber Steven wollte nicht, dass man Großes aus ihm macht.

Steven wollte selbst Großes machen, und da er nicht wusste, wie man so etwas hinkriegt, hatte er beschlossen, England zu verlassen.

Während alle Welt glaubte, England habe die Tore zum Himmel aufgestoßen, weil ein paar Langhaarige sich plötzlich für Gitarrenmusik erwärmt hatten und damit berühmt wurden, wusste Steven es besser.

Im Gegensatz zu der schreienden, staunenden Welt lebte er dort, er wusste, dass hinter den Fassaden der Brick Lanes überall rotgesichtige, biertrinkende Männe wohnten, die nicht verstanden, dass sie den zweiten Weltkrieg zwar gewonnen hatten, aber schlechter dran waren als diese verdammten Krauts, denen es, wie man hörte, so gut ging, dass sogar die Beatles von ihnen schwärmten und überall rumerzählten, what a fucking great place Hamburg wäre.

Und so fand er sich eines Abends in New York, ohne Plan, ohne Hotel, und eigentlich auch ohne ausreichende Mittel, länger als vierzehn Tage überleben zu können.

(Kapitel 3, S. 13/14)

4

Ken, ein GI, der in Vietnam Dienst tat und auf Leave war, also Urlaub machte, hatte ihn beim Trampen aufgelesen und (nicht ganz legal) mit auf den Stützpunkt genommen.

Und dort, noch am gleichen Abend in einer Bar, in der alle anwesenden GIs stoned wie die Nachteulen waren, weil Typen wie Ken Marihuana in Seesäcken unbehelligt ins Land schaffen konnte, dort fragte ihn ein höherer Dienstgrad, ein Arzt, der in Vietnam schon zu viel gesehen hatte, ob er den Führer machen könne, schließlich sei er doch Deutscher.

Hans war zusammengezuckt. Erstens war der Führer Österreicher, zweitens sprach er nicht gern über diesen krakeelenden Wahnsinnigen. Führerwitze waren Hans nicht geheuer, und falls Hans ein Problem hatte, hatte es mit dem Führer zu tun, wahrscheinlich war das Hans' größtes Problem, der GAU eines jeden jungen Deutschen seines Alters damals, aber bitte, sie versprachen ihn hochleben zu lassen und ihm einen auszugeben, und da erinnerte er sich an seinen Vater, der den Führer beängstigend gut imitieren konnte.

So kam es, dass Hans an jenem Abend vor johlenden GIs auf einer Air-Base bei Tokio dem deutschen Volk Marmelade und der Ostfront besseres Wetter versprach, was alle Anwesenden großartig fanden und weshalb Hans sich auch kaum noch an den Rest des Abends erinnern kann.

(Kapitel 4, S. 18/19)

5

Und dann kam dieser Abend, ein Mittwoch in der vierten Woche seines Aufenthaltes: Der Regen hatte nachgelassen, zumindest das Schlimmste schien vorüber, als sehr spät ein VW-Bulli auf den Parkplatz fuhr. In diesem Bulli saßen drei Männer: ein blonder lanhaariger mit geflickter Jeans, ein breitschultriger, etwas stiernackiger GI-Typ, der den Wagen gesteuert hatte, und ein eher geduckter, kleinäugier Pole, jedenfalls hatte er geredet wie ein Pole, der Englisch spricht.

Die drei hatten gegessen und Stevens Boss gefragt, ob sie die Nacht über in ihrem Bulli auf dem Parkplatz schlafen könnten und ob das sicher sei. Der Boss hatte gesagt, dagegen wäre nichts einzuwenden. Bangor sei recht friedlich, er wünsche ihnen eine gute Nacht.

Am nächsten Morgen waren die drei früh aufgebrochen und Steven, der Frühschicht hatte, hatte ihnen lange nachgeschaut. Noch konnte er nicht wissen, dass einer der drei Reisenden in dem Bulli sein Schicksal maßgeblich beeinflussen würde, oder (anders ausgedrückt, denn das Leben ist ja perspektivisch ausgerichtet und jeder hat eine andere), aus der anderen Perspektiv wusste natürlich auch keiner der drei, dass Steven einmal sein Leben beeinflussen würde.

Es ist auch besser, so etwas nicht zu wissen, denn sonst könnte man ja keinen Schritt mehr tun, ohne die Angst, schwerwiegendste Fehler zu machen.

Steven schrieb Linda am nächsten Tag einen Brief. Er schrieb, er habe die Zeit mit ihr sehr genossen, aber sie solle nicht traurig sein, er sein nun mal ein Reisender, und der Weg sei das Ziel. Als Linda den Brief bekam, fragte sie sich gerade, wieso ihre Regel ausblieb.

(Kapitel 5, S. 23/24)

6

Der Brief an Linda war nämlich kaum abgeschickt, als ein Hurrikan aufzog, eines dieser amerikanischen, zutiefst verstörenden Naturereignisse, die in anderen Gegenden andere Namen haben, aber gleiche Zerstörungswut, dennoch irgendwie: amerikanisch, passend zu diesem Land, das den Mutigen als Verheißung gilt und seine Häuser dennoch nur fürs Vorüberziehen baut.

Falls man doch länger bleibt, hat man Pech, denn solche Häuser halten diesen Winden nicht stand. Sie werden in Einzelteile zerlegt, sie schwimmen als absurdes Abbild ihrer Selbst auf reißenden Flüssen samt Einrichtung einfach davon, mag mag sich kaum vorstellen, es wäre das eigene Haus.

Steven hockte, als dieser Sturm angriff, im hinteren Teil der Autobahnraststätte und betete.
Sein Credo, to see the world and adventure, schien sich jetzt und hier zu verwirklichen, jedenfalls der zweite Teil, denn wenn es würde, wie Steven befürchtete (und alle anderen Anwesenden auch), wäre sein Abenteuer nach einer Gesamtreisezeit von etwas über drei Monaten beendet und ein Rücktransport in einer Bleiwanne wäre ihm sicher.

Als der Hurrkan die Raststätte dann tatsächlich zerlegte, hatte Steven Unterschlupf in einer Art Bierkeller gefunden.

Ein Klappe im Boden, eine Treppe, die hinunterführt, Fässer, Kisten, Klappe zu, warten.
Während es oben krachte, war es unten totenstill.
Als auch oben Stille eintrat, war nichts mehr von dem da, was vorher dagewesen war.

(Kapitel 6, S. 28/29)

7

Hinter der Orchestermuschel war ein verschwiegener Gang, von verschiedenstem Grün überwuchert, paradiesgrün, dachte Hans, Bananen vielleicht, auch egal, auf jeden Fall hatte er beschlossen, hier seinen Schlafsack auszurollen.

Vorsicht war dennoch geboten.
Zwar meinte er irgendwo irgendwann einmal gelesen zu haben, auf Hawaii gäbe es weder giftige Insekten noch Reptilien, dennoch, dies war Amerika, Honolulu, Oahu. (...)

Für den Fall der Fälle hatte er einen Dolchmit 20 Zentimeter langer Stahlklinge, Blutrinne, Solingen. Sein Schlafsack war ein unförmiges, von außen gummiertes Ungetüm aus Beständen der NATO, das dem darin Schlafenden den Vorteil bot, damit davonlaufen zu können. sogar zwei Arme hatte das Ding, bequem war es nicht.

(Kapitel 7, S. 34)

8

Wie Paul und Hans da halb betäubt heraustaumeln aus dem Überlandbus, wie sie den weiten Platz überqueren, sich über ausgeschlagenes Pflaster und Schlaglöcher auf das verdorrte Grün einer Verkehrsinsel retten, wie ihre Augen hin- und herzucken, um nicht von den zahllosen, schrottreifen Taxen erledigt zu werden, wie sie Handkarren ausweichen, auf denen transportiert wird, was eben zu transportieren ist, wie sie versuchen, die Kakophonie dieses mexikanischen Alltages zu überhören, wie sie den Wohlmeinenden (oder den Kleingangstern) jedes Wort abwürgen mit wütenden NeinNeinNein Handbewegungen: Haut bloß ab, lasst uns in Ruhe, nein, wir sind keine Gringos, wir nicht, wir sind Europäer, weg da, ihren stinkenden Mexikaner.

Natürlich sagen sie das nicht. Sie denken es nicht einmal. Aber sie tun so, als würden sie es denken, und dann denken sie es auch, denn wie anders sollten solche Abwehrbewegungen zustande kommen, würden sie nicht aus einem in in ihrem innersten Innern verborenen Brunnen voller Vorurteile gespeist, die alle nur eine Wahrheit kennen: Ich bin ich, alle anderen sind gefährlich.

Vor allem diese Dunkelhäutigen mit lackschwarzem, brillantinesteifem Haar, vor allem die, die haben Messer, Revolver, you name ist.

(Kapitel 8, S. 39)

9

Steven erklärt ihm alles geduldig, und es scheint, dass dieser Truckdriver, der zweimal so alt ist wie er, ein Korea-Veteran, langsam begreift, dass im Führerhaus seines mit vierzig Tonnen beladenen Trucks jemand sitzt, der etwas tut, wovon er schon oft geträumt hat, und dass dieser langhaarige Engländer vielleicht etwas verstanden hat, was er nie verstehen wird.

Für zwanzig, drießig Meilen macht ihn das wortkarg und wütend, dann aber verfliegt diese Wut, er reißt die Lasche der nächsten Bierdose auf, gibt Steven auch eine und sie stoßen an.

Unter ihnen rollt die Landstraße. Links und rechts wird Landschaft vorbei geschoben. Bis Tuscon ist es noch weit, und es stimmt, es gibt Truckdriver, denen ist es tatsächlich egal, wo sie ihren Heini hineinstecken, Hauptsache, sie können ihn irgendwo hineinstecken.

Dieser versucht es am Abend bei Steven, aber Steven lässt das nicht zu. Niemand steckt ihm irgendetwas irgendwo hinein, er schnappt seine Sachen und ist schon verschwunden.

(Kapitel 9, S. 41/42)

10

Und dann, kurz bevor diese Welle anrollte, die er tatsächlich reiten wird, kurz vorher, fragt er sich, ob Deborah ihm diese Geschlechtskrankheit vielleicht aus Rache für den Holocaust an den Hals beziehungsweise an das andere Körperteil gehängt hatte, eine kleine, späte, persönliche Rache für etwas, das er nicht ändern konnte, ihm aber bis ans Ende seiner Tage anhängen würde.

Als er gerade zu glauben beginnt, so etwas würde eine Jüdin aus Queens nie tun, weil er abwägt, wie er Deborah kennengelernt hat und sie ihn, da, in den ersten Tagen seines neuen Lebens in New York, präziser: In der Kantine der Columbia University, in die er jeden Tag in der Hoffnung gepilgert war, etwas über den weiteren Verlauf seiner Reise in Erfahrungen bringen zu können, als er all diese Umstände abwägt, die letztlich dazu führen, Körperflüssigkeiten in größter Eile zu vermengen, kommt er zu dem Schluss, dass es sich hier nur um eine Verkettung unglücklicher Umstände gehandelt haben konnte, denn jemand, der Böses plant, singt nicht derart hohe Töne, nein, jemand, der so etwas Böses tut, täte das mit verchwiegenem, grimmigen Ernst, schließlich stünden hinter der Tat Millionen, die es zu rächen galt, und dabei singt man nicht, dabei zwitschert man nicht und ruft seltsame Namen, die tatsächlich wie Hans klingen mochten, ja, all das ging Hans durch den Kopf, und dann sah er sich plötzlich von dieser Welle emporgetragen, höher und höher empor und er ahnte, dass so eine Welle einiges anrichten konnte.

(Kapitel 10, S. 49/50)

11

Judy und Steven verloren sich innerhalb weniger Stunden. Judy und ihr Vater fanden sich nicht. Judy und Helga gifteten wie Nattern. Steven und Judys Vater umkreisten sich eifersüchtig. Helga, offenbar von Stevens Jugend angeteran, tirilierte und umschwirrte Steven, dass er einem Leid tun konnte, und als die Dämme tatsächlich brachen, wuste keiner mehr, wer angefangen hatte.

In diesem Wirrwarr allgemeiner Anschuldigungen und Verdächtigungen hätte niemand auch nur ein Indiz vorbringen können, ohne nicht auch sich selbst zu belasten.

Dann flog diese Faust, dann fiel Helga in den Pool, dann kam dieser Schrei, dann stand die Security vor dem Haus, üble Burschen, Mexikaner mit düsteren Sonnenbrillen, angestellt, dieses Ghetto vor Übergriffen ihrer eigenen, bettelarmen Landsleute zu beschützen.

Sie redeten nicht, sie schnappten sich Steven und Judy und setzten sie vor die Tür dieses Paradieses, wie seinerzeit Adam und Eva.

Kaum draußen, verschwand der eine in diese, die andere in jene Richtung, und damit hatte es sich. Steven war kuriert.

(Kapitel 11, S. 60/61)

12

Eine dieser jungen Frauen traf Hans eines Nachmittags schlafend auf einem Sofa an. Sie war blond, natürlich, viele da unten waren blond, auch wenn sie es nicht waren, sie war sonnengebräunt, kein Wunder in Kalifornien, ihre Titten waren spärlich verpackt, ihr Stringtanga war noch gar nicht erfunden, so dass Hans nicht mehr wusste, wo er hinschauen sollte, und dann hatte er diese Idee:

Er würde sie einfach nehmen, Feierabend.

So etwas Einladendes hatte er noch nie gesehen, und als er schon fast davon überzeugt war, dass er so etwas tun könne, ließ er es.

Ließ die junge Frau weiterschlafen und ging ganz schnell fort. Er beschloss sogar, das Haus zu verlassen und sein Glück woanders zu suchen, was, wie sich zwei Tage später herausstellte, sein Glück war, denn Lee und sein kleines Geschäft flog auf, und mit ihm alle, die sich in diesem Haus aufhielten.

Aber da war Hans schon über alle Berge, das heißt, er hatte einen Job in Enzos Keno Burger im Nachbardorf. Dort tat er, was Steven in Westhampton getan hatte, nur, dass es hier keine Linda gab.

(Kapitel 12, S. 65/66)

13

Und als wieder die Nacht über das tropische Südseeparadies einfiel wie eine Horde stürmender Reiter, die in kurzer Zeit noch den letzten Fleck Licht mit sich rissen, um einen Himmel zurückzulassen, der übersät war von Sternen, und eine Dunkelheit, die atemlos machte, wenn man sie nicht gewohnt war, als diese eine Nacht, die Paul nie, nie vergessen wird, auf Mitternacht zuschlich, wie nur Nächte, in denen man sich nicht wohl fühlt, schleichen können, langsam und immer langsamer, obwohl man sich nichts sehnlicher wünscht als endlich Licht und Morgen, raschelte es plötzlich irgendwo hinter ihm, und noch eh er sich versah, verlor er sein Bewusstsein.

(Kapitel 13, S. 75)

14

In jener Nacht aber, die sie wegen Übermüdung keinen Meter mehr weiter fahren konnten, auf diesem Parkplatz, umgeben von Wüste, die voll stand mit diesen meist zweiarmigen, mehr als mannshohen Kakteen, in jener Nacht war klar geworden, dass Tom mehr als nur nervös war.
Seit über einer Stunde schon war er da draußen.
Steven hörte die Schreie, die er bei wütenden Attacken ausstieß, er sah ihn nicht, aber er wusste, was er tat.
Die Kakteen konnten ein Lied davon singen. Er hackte ihnen die Arme ab, und wenn er so weitermachte, blieben nur kerzengerade, armlose Kakteen übrig. (...)
Steven fand die Wüste unheimlich, (...)

(Kapitel 14, S. 84)

15

Möglich, dass Vietnam die Hölle war, höchstwahrscheinlich war Vietnam die Hölle, aber Steven konnte nichts dafür. Außerdem kroch in ihm das Gefühl hoch, Tom könne gefährlich werden, ohne es selbst zu wollen.

Als die beiden am Grand Canyon standen und darüber sprachen, wo Evil Knievel eigentlich versucht hatte, mit dem Motorrad über die Schlucht zu springen, hier doch wohl ganz bestimmt nicht, oder, war es plötzlich so weit, da war mit einem Schlag alles abgewogen, alle Zweifel und Verunsicherungen der letzten Tage hatte sich zu einer Erkenntnis gebündelt, und Steven hatte gesagt, "I don't know, Tom, but listen, I quit ...", hatte seinen Rucksack aus Toms Bulli geholt und sich auf den Weg gemacht.

(Kapitel 15, S. 90)

16

Dann, ohne jede Vorwarnung, öffnete sich die Türen ihres Abteils. Der Schaffner kam, hinter ihm vier Soldaten mit an die Schulter gelegten Karabinern, der Schaffner sagte irgendetwas und zeigte auf Hans, zwei Soldaten traten vor, wiesen Hans an, aufzustehen und mitzukommen.

Sie geleiteten ihn durch die ganze Länge des Zuges bis in die tiefste dritte oder vierte Klasse, jedenfalls bis in ein Abteil, in dem die warme Nachtluft durch die Fenster strich, die Menschen sich drängten, Tiere mit zusammengebundenen Gliedmaßen auf Ablagen oder unter Bänken lagen, und dort befahlen sie ihm, sich zu setzen.

Ein Soldat setzte sich links neben ihn, einer rechts, zwei saßen ihm gegenüber. Hans hatte all sein Gepäck zurücklassen müssen und keine Ahnung, was hier gespielt wurde.

Aber je länger die Nacht dauerte, desto schlimmer waren seine Ahnungen, die in ihm aufstiegen. Er war jetzt in Mexiko. Jeder, der einmal in Mexiko gewesen war, jeder, der schon einmal hier war, wusste, dass die Polizei korrupt ist, dass das Militär korrupt ist, dass das ganze Land ein korruptes Nest machtbesessener Machos war, die nur darauf warteten, es den Gringos heimzuzahlen.

(Kapitel 16, S. 104)

17

Der Mann trug eine Würgeschlange überm Arm und der rechten Schulter. Über der linken hing ein Fotoapparat. Er ging auf die Promenierenden an der Avenida Atlantica zu, legte ihnen die Schlange um den Hals und machte Fotos.
Das war seine Geschäftsidee: die Copacabana im Hintergrund, ein Mensch mit Würgeschlange davor.
Keine gute Idee, fand Hans. Er wehrte ab. Er wollte keine Würgeschlange um den Hals gelegt bekommen. Er wollte auch kein Foto mit einer Würgeschlange. Er wollte nichts, was mit Schlangen zu tun hat.
Er war kein Fakir.

(Kapitel 17, S.108)

18

Als der Zug den Tunnel verließ, hatte sich die Welt kaum verändert. Noch immer tropfnasse Felswände und Viadukte. Langsam kroch die Dunkelheit in die Täler, eine bedrückende Welt für jemanden, der aus dem Flachland stammt.

Hans spielte ein Spiel mit den Töchtern, um die Zeit zu vertreiben. Er begann, sie herunter zu zählen. Noch zehn Dörfer, sagte er zum Beispiel, ohne zu wissen, ob es nicht doch zwölf oder fünfzehn würden, eh sie Lugano erreichten, noch hundert Palmen, dabei hatten sie erst ein oder zwei Palmen gesehen, merkwürdige Kreaturen, die sich neben Bahnhöfen etabliert hatten, als wäre hier Afrika, dabei war man doch in der tiefsten Schweiz.

"99 Palmen!" schrie Bertha.
"98!" sagte Hans.

Lydia machte nicht mit. Lydia starrte hinaus in das ihr so fremde Land und Hans hätte gern gewusst, was sie denkt. Aber was Kinder denken, erfahren Eltern so gut wie nie.

Sie können vermuten, sie können in deren Augen schauen und ferne Verwandte aufspüren, sie können dem Tonfall ihrer Stimmen lauschen und glauben, den und den Zungenschlag wieder zu erkennen, sie können, wenn die Kinder noch klein sind, über deren Haar streichen, ihnen nah sein, sie können trösten, sie können strafen, aber wie werden nie wissen, was ihre Kinder denken.

(Kapitel 18, S. 124/125)

19

Der Südeuropäer glaubt ja, dass Pasta die Krone der Kochkunst sei, er isst Pasta zu jeder Gelegenheit und in Kombinationen, auf die Erfinder dieser im Grunde sehr bäuerlichen Speise niemals gekommen wären. Aber so ist es, Pasta regiert die Welt, sollte Hans da von der Kartoffel schwärmen, sollte er der immer gleich, wenn auch anders geformten Grundkosistenz der Pasta die Vielfalt der südamerikanischen Knolle entgegenhalten, die durch Humboldt den Weg nach Preußen gefunden hatte, die Cilena, Linda, Nicola, Princess, die Selma, Laura, Leyla, Rosana oder Bamberger Hörnchen hießen? Die würden schön gucken, die Tessiner, die fühlten sich wahrscheinlich vergackeiert, dass da jemand gegen ihre Pasta wettert, gegen die Polenta oder die Pizza, die ja auch nicht viel mehr ist als ein Fladenteig mit Auflage. Nein, nein, es ist natürlich so, dass der Nordländer erst einmal beeindruckt ist von der Fülle einer zum Essen gedeckten südländischen Tafel. Und natürlich findet es es grandios, dass es Wein gibt. Wein am hellichten Tag, er ist sowieso schon ein wenig angetütert von all dem Champagner auf dem Boot, schließlich schippert man ja schon eine ganze Weile herum mit Musik aus dem mitgebrachten Radiorekorder und da wird er doch nicht den Wein verschmähen und stattdessen birra bestellen.

(Kapitel 19, S. 136/137)

20

Hannah, die von sich manchmal sagte, sie habe das zweite Gesicht, sie könne Verstorbene sehen, wenn auch nicht auf Abruf und nach Zelebrieren irgendwelcher Rituale mit rückenden Tischen oder sonstigem Gerät, Hannah glaubte zu wissen, dass Martha Ähnliches könne, aber wenn Hans nachfragte, woran sie das festzumachen glaube, blieb sie jede Antwort schuldig.

Hans hatte schon die weiße Hexe in San Francisco nicht ernst nehmen können. Dennoch hatte er sie einmal gebeten, ihn mitzunehmen zu einem ihrer Hexentreffen. Sie hatte abgelehnt. Sie fickte gern und gut, sie wollte das jeden Abend (als Gast fühlte Hans sich verpflichtet), aber ihn mitnehmen - nein, um keinen Preis. Er glaube ja doch nicht daran, hatte sie gesagt, und was hätte Hans da noch erwidern können.

(Kapitel 20, S. 149)

21

Die Sackgasse, in die Hans schnürt wie ein Furchs, ist noch lauter als der Rest dieses Viertels und am Ende staut sich die Luft. Aber das, merkt er gleich, ist nicht schlimm, denn dort ist eine Bühne und da spielt eine Band. Sie spielt einen seltsam mexikanischen Bluesrock. Wieder weiß Hans nicht, wie der Hase hoppelt, und da er so gut wie kein Spanisch spricht, hält er sich vornehm zurück. Keinesfalls will er stören, denn er weiß ja nicht, was für ein Fest das ist, das da gefeiert wird. (...)

Ma will wissen, wo er herkommt, er sagt Deutschland und man findet das gut, man sagt Volkswagen und klatscht fröhlich und dann fragt einer, ob er auch Musiker sei.

Hans weiß nicht, woraus dieser langhaarige, bronzefarbene Mann seines Alters schließt, er könne Musiker sein, aber da er ihn unten keinen Umständen enttäuschen möchte, nickt er scheu.

Was er denn spiele, wird er gefragt:
Hans zieht eine Mundharmonika aus der Tasche. Es ist die gleiche Mundharmonika, die ihm an Charing Cross ein Pfund eingebracht hatte, eine Bluesharp in E.

(Kapitel 21, S. 166/167)

22

Der Tag war noch nicht einmal zur Hälfte vorüber, das Beste käme noch, hatte Paul gesagt und wie er das gesagt hatte, mit diesem unterkühlten, fernen Lächeln, hätte man glauben können, er sähe das alles voraus, den Wind, die Wellen, das große Schiff, den Wind, die Wellen, den Sturm, aber natürlich war das dummes Zeug.

So etwas erwartet niemand, niemand rechnet damit, dass so etwas geschehen könnte, von so etwas hofft man nicht einmal zu träumen, so etwas geschieht, und alle, die am nächstenTag davon in der Zeitung lesen, sagen, wie schrecklich, wie grauenhaft, wie konnte das nur passieren.

(Kapitel 23, S. 178/179)

23

Die sollten mal nach Afrika kommen, dachte Steven, die überlebten keine Woche da, die nicht - diese Europäer. Die wissen ja noch nicht mal, wie man über einen Preis feilscht, die zahlen, was man ihnen sagt, und haben schon verloren.

Die Gedanken in Stevens Kopf drehten sich schneller und schneller, und schließlich dachte er, okay, dann frier ich mir eben die Eier ab, macht ja nix, werden eh nicht mehr gebraucht, also, was soll's, die Jungs wird es freuen.

Er schleuderte ein verächtliches "listen, mates, I do it" gegen den halbrunden Felsprospekt, der beilte sich "uit uit" zurückzuwerfen, dann hatte Steven sich auch schon ausgezogen und warf sich kopfüber in das eisige Wasser.

Das bekam ihm nicht.
Er hatte sich wohl überchätzt, und wären Paul und Hans nicht sofort hinterher, wer weiß, vielleicht wäre er einfach auf dem Wasser liegen geblieben, das Gesicht nach unten, und hätte sich so in die Reihe der Opfer eingefügt.

Als hätte es nicht schon genügend Opfer gegeben.

Hans und Paul zerrten ihn ans Ufer, Hans, der Erfahrung hatte und sich erinnerte, bracht ihn in die stabile Seitenlage, man rieb sein Gesicht mit Schnee, man schlug ihm leicht links und rechts auf die Wangen, Stevens Augenlider flatterten, ein verächtliches Lachen verzog sein Gesicht, aber das war wohl noch ein Lachen aus einer anderen Welt, sie rubbelten Steven trocken, sie sahen zu, dass sie ihn wieder anzogen, und kaum war das geschafft, kotzte Steven den Gletschersee voll, dass es eine Pracht war.

Kaum war er damit fertig, verlangte er, dass sie jetzt sofort zurück in Charlies Hütte gingen, sich aufwärmten, eine Kleinigkeit äßen und dann weitertränken.

(Kapitel 23, S. 203/204)

24

Und dann rückten Paul und Steven mit diesem Plan heraus. Plötzlich schien es, als wollten sie die alte Dreisamkeit wieder aufleben lassen, vielleicht waren sie sich in den Wochen auf dem Amazonas auf die Nerven gegangen.
Tagein tagaus auf diesem Fluss, der an manchen Stellen so breit ist, dass man das Ufer kaum sieht. Tagaus tagein auf der Hut vor Moskitos, die bei Einbruch der Nacht zu Abertausenden über sie kamen, auf der Hut vor Dieben, vor Halsabschneidern, vor richtigen Halsabschneidern, nicht vor solchen, die nur so genannt werden, nein, vor Mördern, denn dieser Amazonas war wilder Westen, am Amazonas konnte sich jeder verstecken und hoffen, dass niemand ihn fand, jeder, der irgendetwas auf dem Kerbholz hatte, war hier untergetaucht, und jeder, der illegale Geschäfte machen wollte, machte sie hier.
Ja, vielleicht hatte sie all das in ihrem Beschluss bestärkt, Hans diesen Vorschlag zu machen.
Abends, sie hatten Sacco und Vanzetti im Kino gesehen, rückte Steven plötzlich damit heraus.
Was er davon halten würde, mit ihnen nach Afrika zu reisen?

(Kapitel 24, S. 214)

25

Hans war derjenige, der mit geweiteten Augen hinausstarrte in diese fremde Welt, die manchmal dichter Dschungel war, dann steiniges Hochplateau, dampfendes, verregnetes Land ohne Licht weit und breit, bis auf die tanzenden Scheinwerfer des Busses, die von drahtigen, kettenrauchenden Männern gesteuert wurden, die auf Che Guevara und Jesus setzten, und so lange das half, sollte es ihm recht sein.

Nicht eine Minute Schlaf war ihm auf solchen Fahrten vergönnt, bis auf diesen Nachmittag auf dem Weg zur guatemaltekischen Grenze, da musste er eingeschlafen sein, denn er wusste noch genau, dass ihm plötzlich ein Schrei in die Gehörgänge fuhr, ein so ekstatischer, langanhaltender Schrei, dass er glaubte, die Guerillera habe den Bus überfallen, dann wieder meinte er, dass dieser Schrei Teil eines Traumes sein, den er nicht lesen konnte, er wurde hin- und hergeworfen, und als er schließlich die Augen öffnete, wurde klar, weshalb der Schrei immer noch anhielt, es war Samstag und irgendwo wurde Fußball gespielt, irgendwo war ein Tor gefallen und der Radiosprecher schrie, schrie und schrie.

Und wenn sie dann irgendwo ankamen, wenn die Nerven blank lagen, wurde vieles gesagt, aber das Wichtigste wurde verschwiegen. Immer wurde das Wichtigste verschwiegen, ganz gleich, wo man landete, es blieb nichts als Oberfläche, und das war zu wenig, fand Hans.

Konnten sie sich an die beängstigende Fahrt über Schotterstraßen in ein trichterförmiges Tal erinnern, auf dessen Grund ein Dorf war, eine erbärmliche Ansammlung von Lehmhütten? Wussten sie noch, wie der Bus hupend die letzten zweihundert Meter wie brems- und führerlos auf das Zentrum dieses Dorfes zustürzte, hier und da tauchten schattenhaft Menschen auf und unter, Gesichter im Schein von Gaslaternen, ferne Musik aus Lautsprechern, und dann dieser Schreck, dieses grenzenlose Erstaunen über ein Kreuz mitten im Dorf: der Gekreuzigte auf dem zentralen Platz, ein Schwarzer, un negro.

(Kapitel 25, S. 227/228)

26

Sie verfügten zusammen über 200 Dollar, aber die Einreisebestimmungen verlangten, soweit er sich erinnern konnte, mindesten so viel pro Person. Also hatten sie abgemacht, auf die Frage, wie viel Geld sie dabei hätten, zweihundert Dollar zu sagen. Sie hatten sich eine Strategie überlegt.

Sie gingen davon aus, dass es bestimmt nicht den Ersten träfe, sollte ein Zöllner Geld sehen wollen. Also hatten sie beschlossen, dass Hans derjenige wäre, Hans wäre der Zweite, Hans hätte 200 Dollar in der Tasche, weil Hans immer gefragt wurde, wenn jemand gefragt wurde, davon waren Steven und Paul nach wie vor überzeugt, obwohl Hans bei der Einreise in Guatemala doch so raffiniert vorgegangen war.

Sollte nicht Hans, sondern Steven und Paul gefragt werden, würden sie versuchen, sich das Geld zuzustecken.

Aber dann wurde niemand gefragt, zunächst jedenfalls nicht. Ob das nun eine List war oder nur eine Nachlässigkeit, läuft auf das Gleiche hinaus, sie waren durch, sie freuten sich schon, und dann war es Steven, der zurückgerufen wurde.

Das war alles so plötzlich gekommen, dass Hans keine Chance mehr gehabt hatte, ihm das Geld zuzustecken, und als der Zöllner dann fragte, ob er Stevens Geld sehen dürfe, konnte der nur mühsame zwölf Dollar zusammenkratzen.

Das Gesicht des Zöllner verdüsterte sich, er und sein Kollege streckten die Köpfe zusammen und die drei wussten, was jetzt käme. Nach den Gesetzen von Angebot und Nachfrage war es jetzt an ihnen, Steven rauszuhauen. Die Zöllner waren schon fast so weit, Steven abzuführen, als Paul sich an sein Nugget erinnerte. Er hatte keine Ahnung, was so ein Nugget wert war, aber hatte sein Onkel nicht damals gesagt, es könne ihn eine Woche ernähren.

Paul trat einen Schritt vor, kramte sein bestes Spanisch heraus, nestelte das Ledersäckchen, in das er das Nugget eingenäht hatte, aus seiner Jeans hervor, holte sein Schweizermesser, schnitt das Säckchen auf, sagte "por favor, wird das reichen?" und legte das Nugget vor sie auf den Tisch.

Die beiden Zöllner waren verblüfft.

(Kapitel 26, S. 295/296)

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