September 2012                                        www.hermann-mensing.de          

mensing literatur
 

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zum letzten eintrag


Sa 1.09.12 00:46

die haselnuss fällt braun vom strauch
der hund geht gassi mit madame
die katze leckt sich ihren bauch
das leben lehnt am stamm

der baum hebt müde einen ast
der ast hat's am meniskus
der maler pinselt seinen quast
das haus liebt einen nachtbus

der kugelblitz ist ziemlich rar
das weizenbier steht stille
der heinzelmann geht in die bar
die päpstin nimmt die pille

so könnte alles gut ausgehen
und niemand hätte es gemerkt
die börse flatuliert in wehen
der euro wär gestärkt


So 2.09.12 20:05

So schnell kann das gehen. Gestern eingeschult, heute schon AK VII (sprich Altersklasse), die alle Schwimmer des Hafenmarathons bis Jahrgang 52 erfasst. Wegen eines langen Gesprächs und drei Joints am Vorabend fühlte ich mich etwas schwach. Als ich mir dann beim Fahrradhinaustragen das Kreuz leicht verriss, dachte ich, das könnte mühsam werden.

Ich radelte zum Hafen, meldete mich an, erhielt eine grasgrüne Gummimütze mit der Nummer 531 und ein Klettband mit Chip zwecks Zeitmessung. Zwei Zelte waren aufgebaut, in denen die Teilnehmer sich umziehen konnten. Ich ging in das linke, dann kam eine Frau mittleren Alters herein. Sie meinte zwar, das mache nichts (geschlechtslose Solidarität unter Sportlern?), ich zog es aber vor, ins Männerzelt zu wechseln.

Wohin aber mit Rucksack, Mobiltelefon und Geldbörse? Daran hatte niemand gedacht. Ein Mann im Männerzelt neben mir, er trug ein blaues Poloshirt mit der Aufschrift Finisher Köln 2011 - 12 Kilometer-Schwimmen, fand, sowas müsse doch einer bewachen. Ich fand das auch und nahm meinen Rucksack mit.

Bei der Anmeldung war mir aufgefallen, dass die meisten Schwimmer in Vereinen organisiert waren. Aus Bad Hersfeld, Leipzig und sonstwoher waren sie angereist, Marathonnomaden, die jedes Wochenende irgendwo in der Republik Wellen pflügen. Ambitionierte Amateure, ein zähe Sorte.

Ich bat die Zeitnahme, meinen Rucksack in deren abgetrennten Bereich abstellen zu dürfen. Eine junge Frau versicherte mir, sie werde ein Auge darauf haben.

Das Wasser war mit 20,5 Grad angenehm. Im Wasser um die Starboje 80 grasgrüne Bademützen, die Schwimmer für 1 Kilometer Distanz. Die letzten zehn Sekunden wurden heruntergezählt, dann begann wildes Umsichschlagen. Ich hatte mich hinten eingereiht, ich wollte ja schwimmen, nicht kämpfen, ich wollte Brustschwimmen, nicht Kraulen.

Auf den ersten zweihundert Metern bumperte mein Herz. Die Aufregung, dachte ich, denn ich habe das Schwimmen in fremden, freien Gewässern erst in diesem Sommer gelernt. Früher hätte ich mich gefürchtet. Dann fiel mir der Vorabend ein.

Ich wollte keine Eile aufkommen lassen und einen eigenen Rhythmus finden. Das funktionierte. Die Wendeboje war sehr weit entfernt, obwohl sie doch nur die 500 Meter Marke markierte, aber große Wasserflächen verzerren die Wahrnehmung für Entfernungen.

Ich war ruhig und genoß, als ich sie umschwamm und mich auf den Rückweg machte. Ich begann sogar, einen Endspurt ins Auge zu fassen. Nichts Großes. Ab DLRG Boot würde ich die letzten hundertfünfzig Meter kraulen. Als ich loslegte, hätte ich fast mein Gebiss verloren und brach ab.

Im Zieleinlauf wurde ich mit 26:38 gestoppt. Ich war der Drittletzte. Jetzt bin ich wenig erschöpft, höre Thelonious Monk, fühle mich gut, würde es wieder tun und bin sogar ein bisschen stolz.


Mo 3.09.12
9:31

Herr M. hat heute viel zu erledigen. In Kürze daher nur ein Hinweis darauf, dass die Computer des Marathonschwimmens über Nacht zu einer völlig neuen Einschätzung der Lage gekommen sind, Herr M. ist plötzlich nicht mehr .... ach, sehen Sie selbst

13:12

Hier und da sitzen immer Angler am See, immer gut ausgerüstet, Angeln, Klappstühle, Zelte, Liegen, Biere, aber am Morgen nach Vollmond saßen sie wie auf eine Perlenschnur gezogen vom neuen bis zum alten Aasee.

Ich hielt an und fragte einen, ob diese Dichte etwa mit dem Vollmond zu tun habe? Angler sind Anhänger aller möglichen Theorien, weshalb der Fisch beißt oder nicht, aber der Gefragte schüttelte lächelnd den Kopf und sagte, das läge am Freundschaftsangeln, man sei aus Hemer im Sauerland angereist.

Nun stelle ich mir vor, dass man im Sauerland hier und da die Forelle angelt, den Hecht und den Zander, aber was angelt man im Aasee, und vor allem, wozu, denn essen kann man den Aaseefisch nicht, er ist ungenießbar.


Di 4.09.12 10:25

Drei Trinker links neben mir auf den Betonbänken am Hafen. Zwei Männer, eine rotgesichtige Frau, zwei Flaschen billigen Weins zwischen sich, Brotkrumen zu Füßen, im Hafenbecken vor ihnen zwanzig, dreißig Enten, die auf Fütterung warten.

Interessant sind die unterschiedlichen Techniken, die die Enten anwenden, um sich Vorteile beim Erreichen der Beute zu verschaffen. Eine, die ganz außen schwimmt, schafft es, sich vor allen anderen ein Stück zu ergattern, indem sie übers Wasser rennt und mit den Flügeln schlägt, den Hals weit vorgereckt. Was sie nicht weiß: die Brotkrumen sind mit Wein und Bier getränkt, denn der Trinker trinkt gern in Gesellschaft, und an diesem schönen Spätsommerabend erhofft er sich womöglich spektakuläre Fehleinschätzungen alkoholisierter Enten, verdaddelte Landeanflüge, schlangenförmiges Davonschwimmen, vielleicht sogar frohen Gesang.

Das bringt mich auf meine Lieblingsinsel im Herbst. Wir fütterten Heringsmöwen, die mit den kalten Augen und den kräftigen Schnäbeln. Fütterten sie, wenn vom Abendessen etwas übrig geblieben war, fütterten sie mit trocken gewordenem Brot, wenngleich man bei holländischem Brot kaum von Brot sprechen kann, es gleicht eher standardisierter Pappe mit der Aufschrift Brot. Dieses Brot hatten wir mit Rum getränkt. Der Herbst auf Ameland verlangte immer die Anwesenheit einer Flasche Rum, damit wir uns nach langen Spaziergängen mit einem Grog aufwärmen konnten.

Die Möwen mochten das, und wir gingen davon aus, dass sich eine Wirkung schnell zeigen würde, und tatsächlich, eine der gefütterten Möwen verpatzte ihren Anflug auf den Schornstein eines Nachbarhauses sehr gründlich, was unsererseits zu großer Freude führte und uns an Hans Huckebein erinnerte, der ja auch sehr betrunken war.

Die Abendsonne sank, die Schatten wurden lang und scharf, ich dachte, dass ich am Beach noch tanzen würde, zog es dann aber vor, heim zu fahren und einen schlechten Film im Fernsehen anzuschauen, Soul Kitchen.

13:12

es hatte alles sich in flaches land verwandelt
und himmel waren übervoll,
schwarzbunte kühe,
wiesen und von feuchtem wind behandelt,
der westen aller eichen, tiefgrün leuchtend, wundervoll,
es schnürten füchse durch den reifen mais,
und rehe ästen in der saat,
mit weiten flügeln, hier und da, ein himmelhoher apparat,
der wind in strom zu wandeln weiß,
auch kirchen, und das flache, tiefgezog'ne dach
der höfe, wo der kauz wohnt und ganz leis
reviergesang der amseln, ich bin wach
und froh, dass ich mich hier zuhause weiß.



Mi 5.09.12
19:40

Ich könnte noch ausgehen, in Billerbeck ist eine Akustiksession, aber nun habe ich mir zwei Bücher zur deutschen Geschichte besorgt, damit ich endlich ein bisschen mehr erfahre über dieses Land und seine Stämme, über diesen multikulturellen Schmelztigel seit Anfang an, und da, glaube ich, ist es besser, ich verlasse das Sofa nicht mehr.

Immerhin fuhr ich heute früh mit dem Rad stadteinwärts und trieb über den Markt, was ich mittwochs gern tue. Ich aß einen Matjes, den ich auf Niederländisch bestellte, kaufte Geflügel und merkwürdig geformte Tomaten, auch pinke und lilafarbene, ich trank Kaffee und hoffte, diesen oder jenen zu treffen. Aber die Besucher des Marktes werden immer jünger und ich immer älter, und die alten Bekannten haben kaum so viel Zeit.

Ich sitze also und schaue. Mütter schieben ihre multifunktionellen Kinderwagen herum, der ein oder andere Vater simuliert im Nachhinein Schwangerschaft mit dem Kleinkind im Tuch, so wie ich damals, ich sitze und denke über Dinge nach, die ich tun-, nicht tun will oder getan habe.

Hoffnungen und zerschlagene Hoffnungen, mehr zerschlagene eigentlich, die lagern in Kartons im Keller oder als digitale Bückware auf Festplatten, die erfüllten stehen in meinem Bücherregal. Noch immer bin ich nicht bereit, mich einem Roman auszusetzen, wenngleich es Ideen gibt. Ich warte, das wird das Beste sein.

Gestern habe ich ein 1000 Euro Gedicht geschrieben. Es bewirbt sich um den Euregiopoesiepreis für das schönste Gedicht. Da ich Westfalen umwerfend finde, fiel es mir leicht.

Ich denke auch über Gelderwerb nach. Ich habe nicht viel, aber genug, und das reicht mir. Nur um mehr zu haben, werde ich nicht arbeiten. Solange es geht, geht es.

Komfortabel, dachte ich, fuhr zur Stadtbücherei und lieh "Die Erfindung der Deutschen", eine Sammlung von Essays, herausgegeben von Klaus Wiegreffe und Dietmar Pieper, und "Kaiser, König, Edelmann" von Herbert Schmidt-Kaspar aus. Im ersten Buch stieß ich auf ein Zitat von Friedrich II, der sagt: "Alle Religionen sind gleich und gut, wenn nur die Leute, so sie professieren, ehrliche Leute sind. Und wenn Türken und Heiden kämen und wollten das Land peuplieren, so würden wir ihnen Moscheen und Kirchen bauen."

Da sollte man einigen hinter die Ohren schreiben.

Nun aber, liebe virtuell Unsichtbaren, verlasse ich euch, lege mich hin und lese.


Do 6.09.12
10:54

Treppenwitz




11:38

im abseits
steht ein graues licht
und vorn hängt eine
frisch gewaschene hose
das jenseits sagt es liebt mich nicht
uns're beziehung wär' zu lose

das hiersein aber feiert wild
hat farben aufgelegt und quillt vom himmel
mein magen und ich lachen mild
wir haben einen fimmel

mein vogel tackert's alphabet
er stirbt fast vor verlangen
wenn ihn auch mal der wind verweht
nichts hasst er mehr als bangen

schon viele sommer war'n vor ort
im herbst ist zeit zu gehen
mein vogel zieht trotzdem nicht fort
will weiter mit mir wehen


Fr 7.09.12
9:07

Draußen vor der Stadt, wo Abwässer früher in Sickerteichen biologisch geklärt wurden, ist heute ein großes Naturschutzgebiet, die Rieselfelder. Vögel nutzen es zur Brut, für Zwischenaufenthalte auf dem Weg von und in den Süden, andere bleiben einfach da.

Mittendrin ist ein Beobachtungsturm. A 18, wie ich gestern erfuhr. Der Turm ist hoch genug, dass er die Baumwipfel knapp überragt und den Blick freigibt in alle Richtungen. Abends versammeln sich die Vogelpopulationen auf den Teichen, große, weißgraue und schwarze Flächen, die sich bewegen, manchmal aufsteigen, Runden drehen, flattertende, rufende Wolken, Schwarmintelligenz, die sich wieder senkt, Möwen und Kibitze, Kormorane, Enten, Schwäne und Canadagänse.

Auf so einem Turm saß ich mit M. Wir hatten Rotwein dabei, wir sprachen, irgendwann sänke die Sonne und Nebel stiege über die Wiesen, dann würden wir heimfahren. Ein Mann kam die steile Treppe empor. Er war kakhifarben gekleidet, Ende sechzig, hatte Svarowski Gläser dabei und ein Stativ und erinnerte mich an Herrn Fischer und seine Chöre.

Er grüßte nicht, baute sein Stativ auf und beschäftigte sich mit Beobachtungen. Zwischendurch telefonierte er. Offenbar sprach er mit einem anderen Birdwatcher, um ihm zu sagen, dass er auf A 18 sei eine Tüpfelrallle im Visier habe, sie stehe im Schilf. Der Mann schwäbelte und hatte eine eher weibliche Stimme. Die Sonne sank. Als wir gehen wollten, fragte ich den Mann, ob ich einmal durch sein Glas schauen könne. Nein, das möchte ich nicht, sagte er. Gut, dachte ich, klare Frage, klare Antwort, aber wenn M. nicht dabei gewesen wäre, hätte ich ihm die Luft aus den Reifen gelassen, sein Rad stand unten am Turm.

Link zur biologischen Station


15:02

glocken - glöckchen - evangelisch,
herrisch gongt's den katholiken unterwegs,
tiefe wolken, außerstädtisch,
hin und wieder: plebs.

mensing sitzt auf dem balkon,
kaffee, brötchen, faz,
wind zerfleddert die fasson,
das' nich nett.

später, drinnen,
bügeln im akkord,
mittags sinnen,
über poltik und mord.

früher mittag: stille zeit,
wär' es trocken, wäre man bereit,
einen weiten weg zu gehen,
da es feucht ist, wird man sehen,

ob's nicht auch das sofa tut,
und dazu kaffee und kuchen,
still verraucht die heiße wut,
kraftlos, wie das letzte fluchen.


Sa 8.09.12 16:12

Nun ist schon wieder was passiert, zwischen Darfeld und Asbeck auf dem Asbecker Damm, der K61, eine Landstraße der dritten oder vierten Kategorie. Es war die blaue Stunde. Die Bäume hatten schon alle Farbe gelassen, der Himmel aber, der sich über der der Straße vor mir wie aus den Kronen der links und rechts stehenden Bäume geschnitten bis ausbreitete, war milchblau und zartrosa, taubengrau und nachtschwarz.

Ich fuhr langsam. Ich hörte keine Musik, ich hatte darüber nachgedacht, dass um diese Tageszeit Wild wechselt und war wachsam. Plötzlich tat es einen Schlag vorn rechts, keine schweren, eher ein leichtes Touchieren, ich sah etwas rotbraunes, rehbraunes, dann war es fort und ich weiter, verwundert, denn ich hatte nichts über die Straße rennen oder springen gesehen, und ich nehme jetzt an, dass das Reh vielleicht von rechts kommend die Straße überqueren wollte, mich im letzten Moment sah und die Flucht ergriff. Nach Richtung des rot- oder rehbraunen Fleckes, nach vergeblicher Spurensuche am Auto hoffe ich, dass es jetzt vielleicht auf einem Hinterhuf humpelt, mehr nicht.


So 9.09.12 9:45

Ständig will eine Stadt etwas zu feiern haben, sonst fühlt sie sich unwohl, nicht ausgelastet, fühlt sich verlassen und abgeschnitten vom Leben, denn nur das Ereignis garantiert, dass die Gegenwart für einen Augenblick wahrgenommen wird. Ansonsten ist alles Sorge um Gestern und Morgen.

Gleich rennen wieder die Marathonläufer. Jagen und schleppen sich über diese mörderische Distanz, die, wenn ich mich recht erinnere, der antike Bote in Athen damals nicht überlebt hat. Ich höre, dass diesmal leistungsstarke Japaner unterwegs sein sollen. In etwa einer Stunde werden die Ersten in hohem Tempo vorbeiziehen. Ich werde auf meinem Balkon sitzen und registrieren, ob die Übermacht der afrikanischen Läufer, die, sagt man, über den biologischen Vorteil eines längeren Bandes in den unteren Extremitäten verfügen, auch diesmal siegen oder nicht.

Letztes Wochenende war Schauraum, der Rathausinnenraum war illuminiert und mit rotem Teppich ausgelegt, letztes Wochenende war Kunst im Bahnhofsviertel, konzeptionelle Kunst, die man als Vorübergehender ohne nähere Information kaum begreift. Wenn aber jemand sagt, hier ist dieses und jenes, geht einem auf, was der Künstler intendiert hat, aber meine Kunst ist das nicht, meist bleibt davon nicht mehr als eine Idee, die für einen Augenblick leuchtet, ein Gefühl aber, ein ästhetischer Genuss, ist selten damit verbunden.

Von einer dieser Installationen will ich berichten. Der Rundgang bei Regen am vorletzten Donnerstag hatte um 19:00 Uhr begonnen, um 19:49, so unser kundiger Führer (nein, nicht der) müssten wir uns am Ende der Windhorststraße einfinden, die dort zum Bahnhof mündet.

Links ist das Hotel Conti, rechts ein schmuckloses graues Gebäude, in dem sich ein Fotogeschäft befindet. In Höhe des zweiten Stockwerkes etwa waren zwei blecherne Lautsprecher angebracht. Wir waren zur rechten Zeit vor Ort, als ein Muezzin zu singen begann. Gut, dachte ich, Muezzingesang in der Fußgängerzone, das wird den ein oder anderen kurz verstören, aber es hatte mit diesem Muezzingesang doch etwas auf sich, das ich nicht hätte entschlüsseln können, wenn man es mir nicht gesagt hätte. Der Muezzin nämlich, der dort oben sang (live, wie ich erfuhr, fünfmal, wie es bei den Muslimen religiöses Gesetz ist), sang nicht etwa eine Sure aus dem Koran, sondern die auf einer digitalen Uhr am Gebäude des Hotels Conti angezeigte Tageszeit und die aktuelle Temperatur.

Das ist ein Witz und dann ist der Witz vorbei.


Mo 10.09.12 9:03

Es ist lange her, dass ich einen Tag mit nichts als Schwimmen und Sonnenbaden verbracht habe, gestern war so ein Tag. Die Marathonläufer waren noch unterwegs, als ich schon auf dem Rad saß und zum Kanal fuhr. Das Wasser war über die letzten Tage mit seinen frischen Nächten kühl geworden, Yachten waren unterwegs, große und kleine, eine mit einer Bikini-Blondine am Bug, die mit einer gekühlten Flasche Weisswein winkte, als sei sie gekrönt, Schlauchbote mit und ohne Motor, eines mit Rettungsboot für die Kühltasche voller Bier, eines mit einer so dicken Frau darin, dass ich fürchtete, es würde jeden Augenblick sinken. Nicht zu zählen die Ruder- und Paddelboote, und immer wieder die großen Schiffe, die langsam vorbeituckerten, aus Warschau und Stettin, aus Holland und Berlin, auf einem ein Matrose, der die Reling strich, auf einem Pole ein Smutje, der Kartoffeln in Würfel schnitt und wohl glaubte, so gehe Schälen. Ich blieb bis in den späten Nachmittag, schwamm wieder und wieder und konnte mich kaum trennen, weil ich wusste, dass die Saison für dieses Jahr vorüber ist, und was nächstes Jahr kommt, weiß man nicht, denn der Kanal wird bald schon zur Großbaustelle, da man ihn breiter macht, dann wird das Schwimmen dort unmöglich.

15:44

Nach einer Vorauswahl aus meinen Gedichten habe ich 30 in drei Reihen mit der Schrift nach unten ausgelegt und Max gebeten, aus jeder Reihe eines auszuwählen. Das ist nun geschehen. Die Gedichte sind unterwegs. Max brachte eine Variante der Auswahl ins Spiel, die viel versprach. Er meinte, wir sollten auf jedes Blatt ein Brekkie legen und schauen, welche unsere Katze zuerst frisst, aber es waren keine Brekkies im Haus.


Di 11.09.12 10:12

Ein breites, den im um sieben erwachten, noch im Bett liegenden Herrn M. beruhigendes Geräusch war das, Regen, Herbstregen, wenngleich er wenig später auf dem Weg zu den Mülltonnen feststellte, dass es noch mild war, aber alle hatten gesagt, damit sei es vorbei, jetzt käme die kühlere Jahreszeit. Ich habe nichts dagegen. Ich setzte Kaffee auf und frühstückte auf dem Balkon.

12:24

Es ist ein paar Wochen her, wir waren auf dem Heimweg aus der Pfalz und planten einen Abstecher nach Bonn, um Bilder und Skulpturen von Anselm Kiefer zu sehen. Kurz hinter der Moselbrücke meldete mein Navigator, dass es einen Stau gäbe, Sinzig, hörte ich und dachte, gut, es ist nicht mehr weit, biege ich ab.

Es war ein milder Tag, Sonne und Wolken, ich war das Autobahnfahren leid, weil die Landschaft immer Staffage bleibt und ich nie so recht weiß, ob ich mittendrin bin oder alles nur von flinken Kulissenschiebern bewegt wird.

Kaum auf der Abfahrt, die einen den Orientierungssinn verwirrenden Kreis beschrieb, waren wir auf dem Land, das Fahren wurde Vergnügen. Wir folgten einer schmalen Straße, Wiesen und Abhänge links und rechts, Buchen und Höfe, ein verschlafenes Dorf, ein Mann mit Hosenträgern im Vorgarten, hinauf, kurvig und wieder bergab, meist bergab, fanden zügig zum Rhein, setzten uns in ein Café am Ufer, schauten der diagonal über den Fluss treibenen Fähre zu, tranken Kaffee, fuhren weiter, folgten dem Fluss, fanden Bonn, von dem ich aus irgendeinem Grunde bis dahin geglaubt hatte, dass es rechtsrheinisch sei, bogen links ab und standen vor der Bundeskunsthalle.

Wer dort ausgestellt wird, stellt etwas dar. Wir zahlten und traten ein. Arbeiten von Anselm Kiefer sind Malerei, Collage und Skulptur, meist alles zugleich, was mir gefiel, aber ich habe nie Brachialeres gesehen. Nicht nur wegen der Formate und der erdähnlichen Farben und Materialien, nein, auch wegen der Übermacht der Zitate, die Kiefer in seine Arbeiten flicht, als sei er getrieben, als Einziger und Einsamer Zeugnis zu geben von dem, was ihn treibt, die deutsche Geschichte, die eine furchtbare ist.

Ich bin solcher Kunst schutzlos ausgeliefert, sie erschlägt mich, ich schlenderte, blieb hier und da stehen, setzte mich, staunte, beobachtete einen teigigen, sich zu Tode langweilenden Museumswärter, einen mit Doppelkinn, der sein Walkietalkie wortlos fluchtend auseinander nahm und wieder zusammen setzte und diese schöne Frau. Ich sah sie überall, sie war die Schönste und tat so, als sei ihr das egal. Ich glaube nicht, dass es ihr egal war. Ich glaube auch nicht, dass irgendein Besucher irgendetwas begriffen hat von dieser Kunst, ich auch nicht, ich glaube aber, dass Kiefer dort noch immer zu sehen ist und empfehle dringend einen Besuch.

14:00

feuchtes müdes grünes dämmern
schornsteine und langeweile
dächer und im herz ein hämmern
worte haben keine eile.

wenn sich alle niederlegten
für gewisse zeit,
drohten, sich nicht mehr zu regen
wär' es bald so weit.

weltweit gäb das eine wucht
dass die wirtschaft kollabierte
und nun würde ausgesucht
ob auch anderes funktionierte


file under: sinnloses Hoffen


14:50

Sinnloses Folgen des Landeanfluges einer KLM Boing 737 auf dem Flug von Mailand nach Amsterdam.

Der Landeanflug beginnt kurz hinter Münster, ich tracke die Maschine 14.25 zeitgleich ab Asbeck in 9624 Meter, zwei Minuten später fliegt sie 8848 Meter über Enschede, 704 KmH. 14:28 über Delden hat sie fast 1000 Meter Höhe verloren, 7847 Meter bei 691 KmH, eine Minute darauf über Rijssen, 7323 Meter bei 676 KmH.

Schalte auf Cockpitview, ein virtueller Cockpit natürlich, ich kenne die überflogene Landschaft, der Salandsche Heuvelrug, 14:31, Hellendoorn, 6454 Meter, 641 KmH., eine Minute später über Wijhe noch 5387 Meter bei 607 KmH.

Ich liebe Landeanflüge, ich mag, wenn es durch die Wolken geht, 14:33, Hoorn, 4961 Meter und 585 KmH., es rüttelt vielleicht, die Maschine ändert den Kurs, fliegt jetzt südwestlich auf das Ijsselmeer zu, ist um 14:38 über Lelystadt, 3063 Meter hoch, 469 KmH schnell, man kann sie deutlich hören, sie stört, sie sinkt, zwei Minuten später über Almere nur noch in 1783 Meter Höhe und 348 KmH schnell, jetzt heißt es, acht geben, vorsichtig vom Gas.

14:42 in Diemen, 730 Meter über Normalnull und 326 KmH., so schnell wie die Rennfahrer in Monza, Touchdown in ca. 5 Minuten, denke ich, Industrielandschaft unter uns, 14:44, Amstelveen, 480 Meter bei 237 KmH., das fährt der Porsche gern auf der Autobahn, 14:46 überm Amsterdamse Bos in 191 Metern Höhe, man sieht die Baumwipfel, 235 KmH., viel langsamer geht es jetzt nicht mehr, sonst sackt die Maschine ab, 14.47, Touchdown, alle gerettet

Flightradar


Mi 12.09.12 9:30

Das, was Herr M. gar nicht gern tut, tut er heute abend. Das Literaturland Westfalen hat zu einer Eröffnungsveranstaltung im Ruhrfestspielhaus Recklinghausen geladen, und da geht er hin. Das heißt, natürlich fährt er zunächst einmal, verfährt diesen täglich teurer werdenden Sprit, wird sich dann Reden anhören und humorvolle Moderationen, die Erdmöbel werden spielen, eine Band, die Herr M. früher einmal umwerfend fand, ihm aber über die Zeit entglitt.

Er ist gespannt, vielleicht überzeugen sie ihn ja wieder, ihre CD's, von denen er fast alle besitzt, hört er kaum noch, er weiß nicht einmal genau, wieso. Unter Umständen wird er Kollegen treffen, von denen er gar nichts hält oder Kollegen, die berühmt sind, wahrscheinlich beides, er wird hoffentlich nicht Dinge sagen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind, er wird das über sich ergehen lassen, und wer weiß, vielleicht findet sich ja ein Gesprächspartner, der an seiner Zukunft interessiert ist, einer, der schon immer darauf gewartet hat, ihn einmal von Angesicht zu Angesicht zu treffen, so etwas kann ja geschehen und wenn so etwas geschieht, springen manchmal Türen auf.

Also wird Herr M. sich die Taschen mit Visitenkarten vollstopfen, die er verteilen kann, falls sich so etwas abzeichnet. Und dann wird er nach Hause fahren, zwanzig Euro ärmer, denn soviel kostet das mittlerweile, einmal Recklinghausen hin und zurück, er wird daran denken, wie er damals, als er sein Referendariat in Bocholt absolviert hat, mit anderen darüber diskutiert hat, dass ein umweltverträglicher Preis für Benzin bei 5 DM liegen müsse, das hatten die Grünen in die Diskussion geworfen.

Vorgestern lag der bei 1,77 Euro.

Gleich aber wird er sich auf sein Rad setzen und in die Stadt fahren, über den Wochenmarkt streifen, wird einen Matjes essen, the same procedure as every wednesday and saturday, James, er wird denken, dass so ein Leben am Rande der Gesellschaft mit knappsten Mitteln nicht das Schlechteste ist, denn da hat er nichts zu verlieren. Was zu verlieren war, hat er verloren, aber er weiß, dass hinter jeder Ecke noch unsäglicheres Grauen wartet, er hat trainiert, er schaut nicht hin und denkt nicht nach, denn wo käme er denn da hin, wenn er Angst hätte, nirgendwo käme er hin, deshalb schaut er lieber vor seine Füße, denn falls irgendwo Glück liegt, dann dort.

14:16

Ein Kormoran stand mit ausgebreiteten Flügeln auf einem Steg der Segelschule am hinteren Aa-See. Möglich, dass er satt war und ausspannen wollte, die Federn im Wind trocknen, vielleicht aber machte er sich auch nur bereit für den Fang. Jedenfalls war er schön anzuschauen, ohne Arg und all die Verkrustungen, die wir mit uns herum schleppen wie Zentner, ganz gleich, was wir getan oder nicht getan haben, ob wir gegessen haben oder noch essen müssen. Ich grüßte, wie ich immer grüße, wenn ich höheren Lebensformen begegne, aber er ignorierte mich.

Auf einer Wiese kurz vor der Torminbrücke stand eine Lachmöwe. Sie trippelte auf der Stelle. Ich kenne dieses Verhalten von Amseln. Amseln simulieren mit diesem Trippeln fallenden Regen, der die Regenwürmer hervorlockt. Da die Lachmöwe aber eher für wassernahes Leben bekannt ist, fragte ich mich, woher sie diesen Würmertanz kennt? Hat sie sich den abgeschaut, oder gehört er zu ihrem genetischen Repertoire, wie zu meinem etwa der Trotz gehört, das Vorurteil und mein Talent für alles, was kein Geld bringt.

Ich konnte die Frage nicht beantworten und wäre dankbar für Aufklärung.

Vorm Kaffeestand am Markt war ein dunkelblonden Mittdreißiger nicht zu überhören. Er trug eine olivgrüne Outdoorhose mit aufgesetzten Taschen, einen beigen Blouson mit schmuddeligem Bund, silbrig glänzende Turnschuhe und einen Runners Point Rucksack. Seine Augenlider hingen wie seine Schultern, in seine Sätze flocht er langgezogene, nölige Jaoooos oder Neeees. Er sah aus, als hätte er Mundgeruch.

Eine junge blonde Frau, Pferdeschwanz, scharf geschnittenes Profil, kurzer Jeansrock, hörte ihm interessiert zu. Der Mann war in Indien gewesen. Und da hatte er natürlich etwas erlebt. Er hatte gesehen, dass es dort Bettler gibt, die sich keinen Rollstuhl leisten können, dass die Stadt Bangalore groß sei und schmutzig, dass die Straßen schlecht wären und man aufpassen müsse, es sei dort gefährlich. Ja, er habe erlebt, dass Menschen ausgeraubt worden wären, und in seinem Ashram habe nächtliches Ausgehverbot geherrscht.

Der Ashram werde von einem Guru geleitet, der Kräfte wie Jesus besäße. Tote habe er schon erweckt, das könne sie glauben oder auch nicht, Gelähmte geheilt, sich selbst auch schon mehrfach, aber nun habe er sich zum zweiten Male die Hüfte gebrochen, sitze im Rollstuhl und sei zu der Überzeugung gelangt, dass er einen natürlich Alterungsprozeß erleben wolle, wie alle Menschen, sagte der Mann, neeeee, und dann wolle er als Baby wiedergeboren werden. Und wenn dieses Baby dann zwei Jahre alt wäre, sagte der Mann, wolle er wieder nach Indien reisen, um es zu sehen.

Die blonde junge Frau machte sich Notizen. Der Guru hatte nämlich auch ein Buch geschrieben. Yogi Soundso, sagte der Mann, neeee, mit Y.


Do 13.09.12 11:58

Als ich in den siebzigern mit der Band Korn bei den Ruhrfestspielen vorm Festspielhaus Recklinghausen spielte, rannten die Antilopen aus dem benachbarten Tiergarten von unserer Musik verstört in die Zäune ihrer Gehege, sodass wir aufhören mussten.

Seitdem war ich drei oder vier Mal dort. Gestern wieder.

Ein Polizeiorchester eröffnete die Veranstaltung Literaturland Westfalen mit einem Stück von Leonhard Bernstein, schöne Musik, ich staunte. Später spielte das Orchester Birdland von Weather Report, das war nicht ganz so schön, zuviel Legato, die messerscharfen Kicks schaffte es nicht.

Zwischendurch wurde moderiert und Kollegen sagten Gedichte auf. Da ich mich bei Ereignissen, bei denen ich nicht auftreten darf, zurückgesetzt und in meiner Eitelkeit verletzt sehe, können Sie in etwa ermessen, wie wenig Chancen so ein Gedichte lesender Kollege bei mir hat. Nur einen ließ ich gelten, bei anderen überlegte ich, dazwischen zu rufen, mich vor Scham vom Balkon zu stürzen, aber ich bin nicht nur peinlich, ich bin auch ein Schisser.

Aufmerksam wurde ich nur noch ein einziges Mal, als ein Schauspieler einen Auszug aus "Scherz, Ironie und tiefere Bedeutung" des deutschen Dramatikers Christian Grabbe sprach.

...

Ach, die Gedanken! Reime sind da, aber die Gedanken, die Gedanken! Da sitze ich, trinke Kaffee, kaue Federn, schreibe hin, streiche aus, und kann keinen Gedanken finden, keinen Gedanken! – Ha, wie ergreife ichs nun? Halt, halt! was geht mir da für eine Idee auf? – Herrlich! göttlich! eben über den Gedanken, daß ich keinen Gedanken finden kann, will ich ein Sonett machen, und wahrhaftig dieser Gedanke über die Gedankenlosigkeit, ist der genialste Gedanke, der mir nur einfallen konnte! Ich mache gleichsam eben darüber, daß ich nicht zu dichten vermag, ein Gedicht! Wie pikant! Wie originell! (Er läuft schnell vor den Spiegel.) Auf Ehre, ich sehe doch recht genial aus! (Er setzt sich an einen Tisch.) Nun will ich anfangen! (Er schreibt.)

Sonett.

Ich saß an meinem Tisch und kaute Federn,
So wie – –

Ja, was in aller Welt sitzt nun so, daß es aussieht wie ich, wenn ich Federn kaue? Wo bekomme ich hier ein schickliches Bild her? Ich will ans Fenster springen und sehen, ob ich draußen nichts Ähnliches erblicke! (Er macht das Fenster auf und sieht ins Freie.) Dort sitzt ein Junge und kackt – Ne, so sieht es nicht aus! – Aber drüben auf der Steinbank sitzt ein zahnloser Bettler und beißt auf ein Stück hartes Brot – Nein, das wäre zu trivial, zu gewöhnlich! (Er macht das Fenster wieder zu und geht in der Stube umher.) Hm, hm! fällt mir denn nichts ein? Ich will doch einmal alles aufzählen, was kauet. Eine Katze kauet, ein Iltis kauet, ein Löwe – Halt! ein Löwe! – Was kauet ein Löwe? Er kauet entweder ein Schaf, oder einen Ochsen, oder eine Ziege, oder ein Pferd – Halt! ein Pferd! – Was dem Pferde die Mähne ist, das ist einer Feder die Fahne, also sehen sich beide ziemlich ähnlich – (jauchzend.) Triumph, da ist ja das Bild! Kühn, neu, calderonisch!

Ich saß an meinem Tisch und kaute Federn,
So wie (indem er hinzuschreibt) der Löwe, eh der Morgen grauet,
Am Pferde, seiner schnellen Feder kauet –

(Er liest diese zwei Zeilen noch einmal laut über und schnalzt mit der Zunge, als ob sie ihm gut schmeckten.) Nein, nein! So eine Metapher gibt es noch gar nicht! Ich erschrecke vor meiner eignen poetischen Kraft! (Behaglich eine Tasse Kaffee schlürfend.) Das Pferd eine Löwenfeder! Und nun das Beiwort »schnell«! Wie treffend! Welche Feder möchte auch wohl schneller sein als das Pferd? – Auch die Worte »eh der Morgen grauer!« wie echt homerisch! Sie passen zwar durchaus nicht hieher, aber sie machen das Bild selbstständig, machen es zu einem Epos im kleinen! – O, ich muß noch einmal vor den Spiegel laufen! (Sich darin betrachtend.) Bei Gott, ein höchst geniales Gesicht! Zwar ist die Nase etwas kolossal, doch das gehört dazu! Ex ungue leonem, an der Nase das Genie! ...

Der Nachthimmel war gestochen scharf, als wir heimfuhren, sie und ich. Vor uns der Große Wagen, Kassiopeia über uns, die Milchstraße auch. Ich hatte das Schiebedach geöffnet, konnte aber den Kopf nicht in den Nacken legen und schauen wie sie. Einmal zischte eine Sternschnuppe herab, konnte aber die tiefen Missverständnisse, die uns augenblicklich plagen, nicht beseitigen. Man wird nicht klüger, dachte ich, man wird nur älter und das einzige Ziel ist der Tod. Bis dahin sollte man sich vergnügen.

15:50

Mein Beitrag zur Eröffnung des Literaturlandes Westfalen

Annette von Droste-Hülshoff



Der Knabe im Moor


O schaurig ist's übers Moor zu gehn,
Wenn es wimmelt vom Heiderauche,
Sich wie Phantome die Dünste drehn
Und die Ranke häkelt am Strauche,
Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,
Wenn aus der Spalte es zischt und singt,
O schaurig ist's übers Moor zu gehn,
Wenn das Röhricht knistert im Hauche!

Fest hält die Fibel das zitternde Kind
Und rennt, als ob man es jage;
Hohl über die Fläche sauset der Wind -
Was raschelt drüben am Hage?
Das ist der gespenstische Gräberknecht,
Der dem Meister die besten Torfe verzecht;
Hu, hu, es bricht wie ein irres Rind!
Hinducket das Knäblein zage.

Vom Ufer starret Gestumpf hervor,
Unheimlich nicket die Föhre,
Der Knabe rennt, gespannt das Ohr,
Durch Riesenhalme wie Speere;
Und wie es rieselt und knittert darin!
Das ist die unselige Spinnerin,
Das ist die gebannte Spinnlenor',
Die den Haspel dreht im Geröhre!

Voran, voran! nur immer im Lauf,
Voran, als woll' es ihn holen;
Vor seinem Fuße brodelt es auf,
Es pfeift ihm unter den Sohlen
Wie eine gespenstige Melodei;
Das ist der Geigemann ungetreu,
Das ist der diebische Fiedler Knauf,
Der den Hochzeitheller gestohlen!

Da birst das Moor, ein Seufzer geht
Hervor aus der klaffenden Höhle;
Weh, weh, da ruft die verdammte Margret:
»Ho, ho, meine arme Seele!«
Der Knabe springt wie ein wundes Reh;
Wär' nicht Schutzengel in seiner Näh',
Seine bleichenden Knöchelchen fände spät
Ein Gräber im Moorgeschwehle.

Da mählich gründet der Boden sich,
Und drüben, neben der Weide,
Die Lampe flimmert so heimatlich,
Der Knabe steht an der Scheide.
Tief atmet er auf, zum Moor zurück
Noch immer wirft er den scheuen Blick:
Ja, im Geröhre war's fürchterlich,
O schaurig war's in der Heide!


Fr 14.09.12
15:26

Als ich am Waldhotel vorbei fuhr, eine Siebzigerplatte mit trostlosen Gardinen, fiel es mir wieder ein. Wir waren den ganzen Tag gewandert, hatten uns einmal verlaufen, und stolperten am späten Nachmittag vom Berg hinunter ins Dorf.

Das erste Hotel war das Waldhotel, in das wir eincheckten. Wir hatten Franzbranntwein im Rucksack, wir duschten in einem beige-braunen Ambiente, das uns als Zimmer verkauft worden war, wir waren glücklich zu zweit, aber allein hätte keiner von uns dort schlafen mögen. Allein hätten wir womöglich den glücklichen Freitod gewählt, vom zweiten Stock Zimmer 26 hinunter auf die Waschbetonplatten zwischen immergrünen Rabatten. Womöglich hätte man uns wiederbelebt.

Egal. Wir waren zu zweit.

Heut war ich allein. Ich kam von zwei Lesungen und hatte mich entschlossen, über Land heimzufahren. Ruhiges Drömmeln, hatte ich gedacht, und so drömmelte ich ruhig, bis mich bei Gelmer eine Kelle zum Anhalten zwang. Ein Motorradpolizist. Ich dachte, was will er, was hab ich denn falsch gemacht? Er sah gut aus in seiner grünen Lederkluft, er war freundlich, aber er wollte 20 Euro, denn ich war 11 Kilometer zu schnell gefahren. Ich dachte, warum immer ich, und immer bei so marginalen Verstößen, warum straft der Herr nicht mal die Wahnsinnigen, die auf Autobahnen, Bundesstraßen, im Überholverbot oder sonstwo an mir vorbei fliegen, warum nicht die? Und warum lobt die Polizei nicht auch mal, hält mich an und sagt, Sie sind vorschriftsmäßig gefahren, hier, haben Sie zwanzig Euro?

Ich hatte keine zwanzig Euro, aber der bargeldlose Zahlungsverkehr funktioniert mittlerweile auch bei der Polizei, ich zahlte, erzählte ihm, dass ich vorgestern das Polizeiorchester gesehen hätte, die wären ganz ordentlich, sagte ich, und er, freundlich, wir sprachen freundlich und entspannt miteinander, sagte, tja, aber ich muss Ihnen leider den Marsch blasen, worauf ich sagte, dafür müsste ich Sie eigentlich hassen. Na ja, sagte er, aber nur kurz, oder? Ich nickte. Der Kartenleser sagte, dass alles in Ordnung sei, und so fuhr ich ungelobt weiter.

PS.

Na ja, gelobt hat er mich schon, irgendwie. Den ersten Preis für den Superraser bekäme ich nicht, hat er lächelnd gesagt.


Sa 15.09.12
11:15


hach, schon wieder,
da, zitronenfalter flattert,
hier, vorm rechner:
mensing, leicht verdattert.

hat den morgen noch im stuhl
und den vortag nicht begriffen,
sitzt vor einem sündenpfuhl,
kann ihn nicht umschiffen.

gleichsam oben und doch unten,
jederzeit nur einer treu,
leckt er seine liebsten wunden
und macht alles neu.

seltsam, wie doch alles alt bleibt
und sich alles wiederholt,
und sich immer noch am leib reibt
und sich unerschrocken polt.

hätte lieber süd statt nord
und ergreift die volle büste,
wetzt den stahl für einen mord
und für seine lüste.

hach, schon wieder diese melodei
gehn's mir weg mit diesem mist
lecken sie mich doch am ei
wo's am wärmsten ist.


So 16.09.12
13:28

Nun ist schon wieder etwas passiert. Die Leser unter Ihnen werden wissen, dass dieser Satz geklaut ist. Der Brenner sagt ihn immer her, Wolf Haas hat ihn erfunden, Sie sollten Haas unbedingt lesen.

Alles begann, als ich gegen neun die Gardinen zurück zog und den Himmel sah. Es war noch frisch, aber ich dachte gleich, dass ich es in einer oder zwei Stunden wagen könnte. Also frühstückten wir und tranken Kaffee auf dem Balkon, dann nahm ich ein Badetuch und den Bademantel meines Vorgängers und fuhr zum Bennohaus. Versteckte mein Portemonnaie unterm Autositz, legte meine Zähne ins Konsolenfach und ging zum Kanal.

Ein paar Ruderer bereiteten ihre Ausfahrt vor, ansonsten weit und breit niemand und nichts. Ich zog mich aus und stieg ins Wasser. An der Anlegestelle des Bootshauses ist eine unter Wasser liegende Stufe. Man steht da bis zu den Oberschenkeln und hätte jetzt noch die Chance, alles abzublasen, aber da war der strahlende Himmel und die Sonne und meine Vorfreude, also fackelte ich nicht lang.

Ich hätte auch nicht lang fackeln dürfen, denn sonst wäre ich wieder herausgestiegen. Kaum drinn kam der erste Schock, der ein paar Schwimmzüge lang anhält, also beschloss ich, in der Nähe des Anlegers zu bleiben und immer ein wenig auf und ab zu schwimmen. Falls mich dann der Herzkasper träfe, hätte ich vielleicht eine Chance.

Dann aber war der Schock abgeklungen und dieses herrliche Prickeln auf der Haut setzte ein, so dass ich hin und her und hin und her schwamm, und sogar in den Genuss des Soges eines Schiffes kam, das vorbeifuhr und den Schwimmer gegen die Fahrtrichtung des Schiffes treibt. Ein angenehmes Gefühl, so mit dem wegfließenden Wasser zu treiben. Gegenan kommt man nicht, das Wasser hat Kraft.

Ich blieb, so lang es ging, weil ich dachte, dies ist nun aber wirklich das letzte Mal dies Jahr, und jetzt, wo ich das Kanalschwimmen lieben gelernt habe, fiel es mir schwer, mich zu trennen.

Dann aber doch raus, abtrocknen, den Bademantel umgelegt, auf die warme Treppe gesetzt, eine Zigarette geraucht, angezogen und dahin zurückgefahren, woher ich gekommen war.


Mo 17.09.12
10:09

Nein, mit Janes Austens Stolz und Vorurteil hat diese Geschichte nichts zu tun. Obwohl der Grieche natürlich stolz ist und alles, was ich über ihn sagen kann, mit Vorurteilen zu tun hat. Ich saß auf der Bank am großen Holztisch vorm Hot Jazz Club, die Sonne schien, auf der Rampe spielte ein Trio ruhige Musik: Gitarre, Geige, Kontrabass. Vor mir ein Stück Apfelkuchen mit Sahne, ein Cappuccino und ein Glas Wasser.

Ich hatte eine Radtour hinter mir. Ich hatte gesehen, dass schon Mais abgeerntet war, früh für das Jahr, fand ich, aber was interessiert das den Städter, der in seinen Schluchten herumgeht, von Lärm überfallen, wo immer er sich aufhält. Der tritt höchstens in Hundescheiße und bedauert den Stadtbaum. Mais also, und der gestrichelte Himmel, ein Gasballon, der in einer Wolke verschwand und der Hafen schließlich, das Ziel meiner Rundfahrt.

Der stolze Grieche sah aus, wie stolze Grieche aussehen. Dichtes, schwarz-graues Haar, eine gewaltige Hakennase, Dreitagebart, ein Profil wie aus Marmor geschlagen, Kette rauchend, auf der anderen Seite der Bank.

Urplötzlich sprang er auf, war an meiner Seite und nestelte hektisch an meinem Kragen herum, linksseitig, ich spürte seine Hand am Nacken, und noch eh ich irgendetwas denken oder in einen Zusammenhang bringen konnte, saß er schon wieder, zeigte aufgeregt auf den Boden, wo sich ein schwarzer Käfer in höchster Eile davon machte.

Er hätte ihn gerade noch davon abhalten können, mir ins Hemd zu kriechen, sagte der Grieche, den ich von Ansehen kannte. Danke, sagte ich, und stellte mir vor, dass ich jetzt ebensogut tot hätte sein können, mal angenommen, es hätte sich um einen Auftragskiller gehandelt. Er hatte schnell und konsequent gehandelt, und ungewöhnlich war es allemal, fand ich.

Als ich mich von ihm verabschiedete, bedankte ich mich für die Lebensrettung. Beim nächsten Mal könne ich ihn ja retten, sagte er. Ich versicherte ihm, das würde ich tun und fuhr heim.


Di 18.09.12
12:06

Furchtbare Risse gibt es im Leben, und was Mütter und Väter aushalten müssen, bleibt oft ohne jede Erklärung. Gestern etwa, beim Geburtstag der alten Dame. Sie wurde 85. Ehemalige Nachbarn waren gekommen, Freunde, Bekannte, der Sohn aber ließ sich nicht blicken, er hatte nicht einmal eine Karte geschrieben. Dahinter steckt ein Drama, so viel ist mir klar, aber wie es begonnen hat, wer und ob überhaupt irgendjemand schuldig ist, das bleibt dunkel.


14:14

Ob man, wenn man die Schuhe eines Toten trägt, stirbt? Etwa, weil man gezwungenermaßen seine Schrittfolge, seine Art, die Füße zu setzen und die Erde zu spüren, übernimmt. Und wenn man dann auch noch seine Hosen trägt, seine Mäntel, seine Socken und Schals, was dann?

Ich glaube, man stirbt.
Ja, natürlich stirbt man, aber nicht deswegen.

Die Anästhesistin, die ihr Leben lang nichts anderes getan hat, als Menschen in dieses seltsame Zwischenreich zu schicken, in diesen erinnerungslosen Raum zwischen Leben und Tod, die also eine Menge wissen müsste davon, meinte, das sei ein Omen.

Als ich protestierte, lachte sie und sagte, das sei natürlich dummes Zeug, sie habe das nur so dahergesagt. Aber ich glaube, insgeheim hat sie dieses Omen ernster genommen, als sie zugeben wollte, denn erst, als ich ihr sagte, dass ich ja wegen vieler Sachen, die ich mir bei Oxfam kaufe, zusätzlich gefährdet sei, denn zu Oxfam bringen die Menschen nicht nur Kleidung, die sie nicht mehr wollen, sondern viel eher Kleidung, die hinterlassen wurde, schließlich habe ich das ja mit der Kleidung meiner Frau auch getan, erst, als ich ihr das sagte, sagte sie, klar, natürlich.

Trotzdem interessant, wie verhaftet unser Denken ist, wie wir Realität und Fantasie oft kaum voneinander trennen können und wie uns Irrationalstes für Augenblicke verunsichert.


Mi 19.09.12 12:55

Die Gläser meiner Lesebrille haben immer Flecken. Manchmal haben sie so viele Flecken, dass ich glaube, meine Augen versprühen irgendeine Flüssigkeit, aber das kann ja nicht sein. Es ist wohl eher so, dass ich sie bekleckere. Schließlich hängt sie tagein tagaus vor meiner Brust, und ich kleckere eben gern.

Letzte Woche war sie plötzlich verschwunden. Alle in Frage kommenden Plätze waren abgesucht, als mir einfiel, dass sie mir im Hot Jazz Club aus der Jackentasche gefallen sein könnte. Also sandte ich eine Mail und fuhr, noch eh Antwort kam, zum Club und fragte nach.

Hübsche Blonde hinter der Theke, einsfünfundsechzig, vierzig Jahre zu jung.

Aha, Brille? Sie schaut nach. In der ersten Schublade findet sie nichts. Aber es gab eine zweite, und da lag sie, jemand hatte sie gefunden und abgegeben. Ich war erleichtert. Meine Lesebrille ist eine renitente Brille. Sie hat schon einmal ein Jahr auf Ibiza gelebt. Ich hatte sie damals im Mietauto verlegt, es von oben bis unten durchsucht und sie nicht gefunden. Kaum war ich zurück im Deutschland, erhielt ich eine Mitteilung vom Autovermieter, dass die Brille dort zur Abholung bereit läge. Schicken wollte man sie mir nicht, was ich dem Vermieter noch heute ankreide. Schlechter spanischer Service ist das, hatte ich gedacht. Im Jahr darauf fuhren Bekannte nach Ibiza und brachten sie mir zurück. Jetzt hängt sie wieder vor meiner Brust und ist bekleckert. Dagegen muss ich dringend etwas unternehmen.


Do 20.09.12 12:56

mich deucht, mir scheint, mir dämmerts dunkel,
mich geht ein zweifel an im schritt,
ich fühl, ich seh zu viel gefunkel,
ich weiß, ich will,
ich mach nicht mit,
ich schließe ab, hör nicht mehr zu, ich türme barrikaden,
ich bitte, lasst mich jetzt in ruh, beißt mir nicht in die waden, 
ich heiße hermann, zweifle gern,
ich greife gern zum morgenstern,
ich hasse euch, ich liebe dich,
ich übe, doch ich fliege nich (t),
ich raste nie, ich ruhe schlecht,
ich habe immer niemals recht,
ich bin die hüpfburg auf dem berg,
erscheine nachts als irrer zwerg,
ich rate, wer der nächste ist,
ich habe mich so lang vermisst,
ich hätte alles gern von vorn,
ich wäre gestern erst gebor'n,
begänne wie es damals war,
und wünschte es wär' wunderbar.



Fr 21.09.12
11:53

Der Flughafen Münster Osnabrück, 1972 eröffnet, hat seit einem Jahr sogar einen eigenen Autobahnzubringer. Wenn man, wie L. und ich, gestern gegen 18 Uhr dort zu einer Flughafenführung antritt, melden die digitalen Anzeigtafeln sechs Arrivals und acht Departures bis in den frühen Morgen. Die meisten Flieger transferieren Urlauber nach Mallorca, Antalya, Hurghada oder sonstwohin. Sogar nachts darf geflogen werden, Slots sind dann billiger.

Ein Millionengrab, dieser Flughafen, nicht mehr als ein Prestigeobjekt der Region, aber man träumt davon, die Landebahn auf über 3000 Meter zu verlängern, um Transatlantikflüge anbieten zu können.

Die Flughafenführung war der Gewinn eines Preisausschreiben, das die Dorfzeitung ausgelobt hatte. L. hatte mitgemacht, gewonnen und mich eingeladen. Dreißig Menschen etwa, die sich um zwei junge Mitarbeiterinnen der Zeitung scharen. Wir werden begrüßt, erhalten Passierscheine, die uns als Teilnehmer der Besuchergruppe ausweisen, und hängen sie uns um wie Backstagepässe. Eine Frau vom Airport begrüßt uns und führt uns herum. Schon nach zehn Minuten wird klar, die Dorfzeitung hat alles auf ein Mindestmaß der Glückseligkeit reduziert. Kein Empfangsgetränk, kein kaltes Buffett, nur dieses Herumgehen und Betrachten eines gähnend leeren Terminals. Wir überlegen, ob wir abbrechen und nach Hause fahren sollen, aber es gibt ja noch Give-aways.

Nach etwa einer halben Stunde gähnender Langeweile geht es durch die Passagierkontrollen. Es wird ein wenig interessanter. Wir fahren übers Rollfeld, wir hören, wie viele Menschen mit der Aufrechterhaltung des Betriebes beschäftigt sind, erfahren, wie die Sicherheit gewährleistet wird, und dann kommt tatsächlich ein Flugzeug aus München. Wir beobachten, wie es andockt, ausgeladen und betankt wird, wie die Spezialisten mit Taschenlampen herumgehen und nach Schäden suchen. Dann schauen wir uns die vollcomputerisierte Gepäckanlage an. Als wir wieder aufs Vorfeld kommen, ist die Maschine startbereit und fliegt nach München zurück. Die Führung ist beendet.

Die Mitarbeiterinnen der Dorfzeitung händigen kleine Tüten aus. Jeweils eine für zwei Personen. Darin ein Skatspiel, ein Labellostift, vier Tütchen mit jeweils fünf Tic-Tacs. Vom Flughafen erhalten wir zusätzlich einen Schlüsselanhänger. Gut, Schlüsselanhänger kann man immer gebrauchen.


13:31

um fünf strahlt sonne durch sein fenster,
die vögel brüllen wie ein cargo-jet,
der meister denkt, er hört gespenster,
und findet nicht zurück ins bett.

um sechs ist wieder alles totenstill,
zum aufstehen ist es dennoch viel zu früh,
jetzt kann er machen, was er will,
die schönen träume sind perdu.

um sieben wankt er duhn zum topf,
entledigt sich verschied'ner abfallstoffe,
zupft sich den bart, streicht übern kopf,
und eine tote sagt, komm, hoffe.

um acht uhr steht er splitternackt,
duscht, salbt sich, und weiß wieder, wie er heißt,
um viertelnach hat er den tag gepackt,
die kleine welt ist schön und gleißt.

Sa 22.09.12 11:35


Schwerwiegendes Gedicht über Gottes Werk

Obgleich immer in der Lage,
dickste Äste abzusägen,
hatte Gott an diesem Tage,
schwerstes Unwohlsein im Brägen.

Hatte einen flotten Stuhl,
und im Anschluss Unwohlsein,
legte sich in seinen Pool
und vergab dem Sein.

Als die Physiotherapeuten
ihn auf ihre Liege baten,
fingen Glocken an zu läuten
und er aß Oblaten.

Duchgeknetet fasst er neuen Mut,
glaubte, wieder hell zu sehen,
bat die Cherubim um einen Hut,
denn er wollte gehen.

Seitdem lebt er nur noch als Gerücht
in den Köpfen einiger,
taugt vielleicht noch für'n Gedicht,
und als Schreck für Peiniger.

14:00

Schwer wiegendes Gedicht über das Sein

Menno, sagt das fette Schwein,
das entblösst bis aufs Kotelett,
schwer enttäuscht vom Hier und Sein,
gern ein zweites Leben hätt.

Zweifellos ist das nicht machbar,
denn sein Filet ist verkauft,
und das Eisbein in der Schlachtbar,
hatte sich den Fuß verstaucht.

Bliebe vielleicht etwas Hirn,
das in einer klugen Lösung
mit Elektrik, Nadel, Zwirn,
noch zurück fänd auf die Schonung.

Aber halt, was sollt es dort,
wäre gruselig, oder nicht,
wäre doch nur Geist vor Ort,
statt ein schmackhaftes Gericht.


So 23.09.12
12:03

Die münstersche Aa, ein
Flüsschen, das von Südwest nach Nordost durch die Stadt fließt, hat vieles gesehen und noch mehr ertragen. Kloake war sie, von Gerbsäure und Fäkalien verschmutzt, versumpft machte sie es Angreifern schwer, ins Zentrum zu gelangen, als Kriege Alltag waren und Straßenraub üblich, regelmäßig hat sie die Stadt geflutet, dann wurde sie kanalisiert.

Vorgestern wurde ein Abschnitt zwischen Zwinger und Neubrückenstraße zur Versuchsstrecke einer Lichtinstallation. Ich hatte davon in der Zeitung gelesen. Licht ist wundervoll, und die Idee, das Bett der Aa mit Licht zu verschönern, gefiel mir. Von Kunst war die Rede, und wenn von Kunst die Rede ist, ist auch immer von Sehen die Rede, von Wahrnehmung.

Als M. und ich den Zwinger erreichten, scharten sich viele Menschen um ein Podest, zweihundert bestimmt. Auf dem Podest hielt ein Mann Rede. Der Künstler, soviel war klar. Im Publikum die Verdächtigen einer mittelgroßen kleinen Großstadt. Der Künstler sprach von der Geduld der städtischen Verantwortlichen, die es ihm ermöglicht habe, diese Installation zu entwickeln, geradezu beispielhaft sei das, man arbeite mit Umsicht, er könne das sagen, er komme herum. Dann sprach er von unglaublichen Wattagen, die er noch vor wenigen Jahren für so ein Projekt benötigt hätte, doch heute, heute seien durch Einsatz von LED's mit 3,5 Watt unerhörte Dinge möglich, er dankte allen, und sagte, nun solle man einmal den Fluss hinauf schauen.

Wir konnten ihn vor lauter Menschen nicht sehen.

Wir ließen den Mann reden und machten uns davon. Die Aa fließt durch ein Sandsteinbett, maximal 10 Meter breit, vom Straßenniveau drei bis vier Meter tief, meist ein Rinnsal. Links und rechts stehen Bäume und Büsche. Buchen, so viel kann ich erkennen, von den Büschen weiß ich nichts Näheres.

Auf der kurzen Strecke zwischen Zwinger und Neubrückenstraße waren fünf oder sechs LED's angebracht, deren Licht Licht die Ufermauern, verwitterter Sandstein, hinableuchteten und sich im Wasser spiegelten.

So viele Menschen für so wenig Licht.
Ich dachte daran, wie wenig Menschen zu Lesungen kommen.

M. und ich folgten der Aa bis zum Juridicum. Dort haben Architekten eine temporäre Holzbrücke errichtet, blank gehobelte Balken quer übers Flüsschen, in der Mitte ein breiter Steg mit zur Flussrichtung gelegten Brettern, links und rechts davon die begehbaren Balken, die Durchsicht aufs Wasser ermöglichen. Unter der Brücke zu beiden Seiten LEDs in einem runden Strahler. Die Farben wechseln.

Wir saßen eine Weile, redeten, rauchten und landeten schließlich in einer Gaststätte, um unseren Spaziergang mit einem Whisky abzurunden. Arran, ein sehr milder, wärmstens empfohlener Whisky von den Arran Islands, schottischer Single Malt, 32 Euro die Flasche.

Weihnachten naht. Man darf sie mir schenken.

16:50

Sie hörte viel, nachts. Schließlich lebte sie schon lange auf dem Land und da hört man, wer übern Hof schnürt, streicht, trippelt oder Brunftschreie ausstößt, man hört, wie die Bäume seufzen und Flügel schlagen, das alles machte ihr nichts, aber in dieser Nacht hörte sie etwas anderes.

Ihr Mann schlief. Sie aber saß senkrecht. Vielleicht liegt das an dem Roman, dachte sie, sie las diesen Schmöker, doch draußen röchelte etwas. Es röchelte heiser, es röchelte stoßweise und zwischendurch schrie es erbärmlich. Sie mochte nicht ans Fenster gehen. Also weckte sie ihren Mann. Der hatte auch schon vieles gehört, aber das kannte er auch nicht. Er zog den Bademantel an, nahm eine Taschenlampe, ging zur Verandatür, öffnete sie vorsichtig und schlüpfte nach draußen. Das Röcheln und Schreien kam von der hinteren Scheune. Er machte die Taschenlampe an, und dann sah er sie. Ihre bleichen, herzförmigen Gesichter, ihre Augen, die Federn gesträubt, hockten sie auf einem Balken und schrien sie sich an.

20:01

ich habe es beschlossen
und bin unterwegs,
belasse's
bei der dunkelheit im flur
ich taste, öffne, trete ein
ich mache licht,
die taschen, koffer
meine große pauke, das gestänge
ich komme in die gänge.


dann stelle ich
und schraube,
ich richte, schiebe,
messe höhen ein,
ich freu mich auf den ersten ton
ganz leise, und ich glaube.


21:45

erstes herbstgedicht 2012

da ist es,
das geräusch,
das viele fürchten,
ein feuchtes tropfen, fadenlanges fallen,
ich bin der glücklichste von allen.

ich habe eine decke umgelegt,
ich lausche dieser jahreszeitmusik.
ich trinke pflaumenschnaps,
und paffe bühnennebel für mein glück

nicht,
dass ich drauf gewartet hätte,
das singen aber schmeichelt dem gemüt,
es ist und war und bleibt mein freund,
bis alles wieder blüht.


Mo 24.09.12
14:33

Kein Text wird je fertig. Er verändert sich ständig. Jeder Leser liest anders.


Di 25.09.12
11:30

Jeder Leser liest anders. Er verändert sich ständig. Kein Text wird je fertig.

18:57

Jeder Leser verändert sich. Es liest ständig anders. Kein Text wird je fertig.


Fr 28.09.12
18:23

diesen ort
merke ich mir
an diesem ort gibt es worte
die man nicht sagen darf
es gibt das zimmer 8
mit einem tapetenmuster
das zu leben beginnt
wenn man drauf starrt
so dass jeder
der dort länger
als einen tag wohnt
zu halluzinieren beginnt
so ein zimmer ist das
in einem schönen hotel
hinter der hohen düne

das zimmer
das hotel
die worte
die rolandsdüne ums dorf
die nachts
die wie manhattan leuchtenden
hochofentürme verbirgt
und die kunst
diese see aus stahl
das alles habe ich mir gemerkt
es ist schön dort
gefährlich


19:49

Vorgestern an der Nordsee




Sa 29.09.12
10:31

Der kleine Hund will nicht mehr herumstreifen. Er war am Strand, er hat geschnüffelt, Marken gesetzt und einen Haufen gemacht, jetzt will er heim. Will sich aufs Sofa legen, Leckerlie noch, das reicht ihm. Dem anderen aber, dem größeren Hund, reicht das nicht. Der verschwindet im Busch, da kann Herrchen bitten, soviel er will. Auch er hat markiert und einen Haufen gemacht, aber jetzt hat er Wichtigeres vor, irgendwo da in den Tiefen der Büsche muss er riechen und pissen und riechen, und als Herrchens Rufe dringlicher werden, läuft er einmal kurz über die Mauer, damit Herrchen Bescheid weiß. Gleich danach ist er wieder verschwunden. Herrchen setzt sich, Herrchen raucht und wiederholt seine Bitten, nichts geschieht. Dann ist es Herrchen genug. Er steht auf, steigt über die Mauer, verschwindet um Busch, zerrt den größeren Hund am Halsband hervor und davon.

11:53

Ach, ein Mann mit Bart, sagt ein Mann mit Bart an der Bar. Er hat langes, fettiges Haar, ist so alt wie ich und riecht wie ein Trinker. Ja, sage ich. Männer mit Bärten sind gefährlich. Er lacht. Später treffe ich ihn auf der Terrasse. Wir rauchen. Wo ich herkäme, fragt er. Ich sage, er solle raten. Er tippt auf Friesland. Das freut mich. Mein Holländisch funktioniert also noch wie früher. Dann aber verrate ich's ihm. Wir sind Rot Moffen, sage ich. Er weiß nicht recht, ob er lachen soll. Ich frage ihn nach den Hochöfen hinter den Dühnen, ein Riesenkomplex. Wie viele Menschen arbeiten dort, frage ich. 25000, sagt er, aber das glaube ich nicht. Tags drauf erfahre ich, dass es 2500 sind. Vielleicht hatte er das gemeint.

13:09

Die Möwe schaut zu, als ich Erdnüsse esse. Ich werfe ihr eine zu. Sie verschluckt sie. Essen ist Schlucken, Genuss ist nicht ihre Sache. Ich werfe ihr noch eine zu, diesmal liegt sie ganz nah bei mir. Die Möwe zögert. Sie schaut hierhin und dorthin. Sie weiß nicht, ob sie mir trauen soll. Ich wende den Blick, aber aus den Augenwinkeln kann ich sie sehen. Sie zögert einen Augenblick, versichert sich, dass ich nicht schaue, dann holt sie sich die Nuss. Wenig später, ich will gehen und habe mich einen Augenblick abgewandt, macht sie sich über meinen Rucksack her, in den ich die Nüsse verpackt habe.

 

 

 

 

 

 

 

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