www.hermann-mensing.de

Hermann Mensing

Über Trauer und Ruhm

Der Anrufbeantworter blinkte. Endlich, dachte ich. Jetzt. Sofortiger, raketengleicher Aufstieg in den Himmel der Wahrgenommenen, um dort eine Weile zu kreisen (etwa 15 Minuten), und anschließend von irgendeinem Literaturheinz, dem nie ein originärer Satz über die Lippen gekommen ist, abgeschossen und in die Tonne getreten zu werden.

Egal, dachte ich.

In diesen fünfzehn Minüten würde ich soviel Euro einsacken, dass es mir egal sein könnte, denn die Welt, das weiß ich nach 60 Jahren, ist ein korruptes Arschloch, in das jeder kriecht, der eine früher, der andere später, er muss sich vielleicht ein bisschen überwinden, aber das macht nichts, der Schmerz ist nur kurz, danach wird es dunkel, es stinkt, aber das Bankkonto kumiliert zu vorher nicht gekannter Potenz.

Warum ich das dachte?
Weil ich so einen Anruf seit 60 Jahren erwarte.

Ich bin nicht resigniert, ich habe Pläne, ich weiß wie Schicksal geht, ich lebe in Trauer, ich stelle mit jedem Tag deiner Abwesenheit fest, dass es nie mehr sein wird, wie es war, aber das ist auch nicht mehr als ein Allgemeinplatz, der Schmerz ist eine reziproke Empfindung, je länger er anhält, desto leichter ist er zu ertragen, was schrecklich ist, denn man glaubt doch zunächst, dass er einen tötet, dass er einen würgt und den Schlaf raubt, das alles glaubt und spürt man, dann erwacht man und weiß, dass es nicht so ist, dass es nur eine Weile so geht, bis man ernüchtert, beschämt und ratlos feststellt, dass die Tränen, die man geweint hat, plötzlich spärlicher fließen, und dann gibt es sogar Momente, in denen man nicht mehr weiß, worum man eigentlich weint, und ob man nicht vielleicht nur das Mitleid der anderen will.

Grässlich das Leben, ein Ort, den ich nicht wollte, ein Ort, den ich nur betrat, weil Eltern, die ich nicht kannte, an jenem Tag nichts Besseres vorhatten, und schon bin ich da, werde bestaunt und beklatscht, werde eingeschult und muss rennen. Renne wie ein Idiot, und in dem Augenblick, wo ich mich entschließe, mein eigenes Tempo zu gehen und selbst zu denken, wird es noch komplizierter, denn das ist nicht gewünscht.

Macht aber
nichts, denn bei aller Verzweiflung habe ich gelernt, dass das Leben nicht dazu da ist, zu trauern, zu verzweifeln, das Leben will gefeiert werden, und so feiere ich still jeden Augenblick, der sich anbietet.

Der Anrufbeantworter sagt, kommen sie am Dienstagabend um 19:30 zum Hauptbahnhof.

Ich bin da. Und dann kommt die Schwester, die beiden Neffen kommen auch, der eine wird 45 und der hat das ausgeheckt, der sagt, wir gehen jetzt in die Table Dance Bar gleich um die Ecke, ich denke, dazu bin ich zu kleinkariert, das überstehe ich nicht, soll ich jungen Frauen Geldscheine in den BH schieben, aber dann stehe ich vor dieser Bar und sie hat geschlossen und der Neffe sagt, April April, war ein Scherz. Ich atme auf.

Eine halbe Stunde später sitze ich im GOP Varieté gegenüber und sehe drei junge Comediens auf der Bühne. Ich bin kein Schenkelklopfer, aber sofort stellt sich ein, was sich gern einstellt, wenn ich Menschen live beobachten darf, Menschen, die auf Bühnen Kopf und Kragen riskieren, ich beginne zu schmunzeln, ich lache und vergesse, dass ich diesen Anruf erwarte, ich vergesse, dass ich trauere, ich vergesse fast alles, um es in dem Augenblick, wo der Vorhang sich schließt und ich wieder hinaus muss in die wirkliche Welt, um so schmerzlicher zu erinnern, ich fahre mit dem Bus durch die Nacht und verstohlen rollen paar Tränen und ich lege mich ins einsame Bett und ahne, dass da nie wieder jemand liegen wird, wer sollte auch schon, und wie sollte das gehen, da müsste schon etwas geschehen, das nur selten geschieht, eine mächtige Bewegung müsste vorangehen, einem Erdbeben müsste das gleichkommen, dass ich akzeptieren könnte, dass es nicht nur einmal im Leben so etwas geben kann, sondern auch zweimal, dreimal, viele Male.

Nein, denke ich, mit mir wird das nicht funktionieren. Ich will es nicht, ich kann es nicht, ich fühle mich täglich wohler mit meinem Schmerz und der Einsamkeit, ich will die Idioten ringsum nicht mehr sehen, ich will ihre Fragen nicht mehr hören, ich will nicht hören, ob es mir gut geht und was ich so treibe, ich will nur still sitzen und nur noch ausgewähltes Personal an mich heranlassen, tausendprozentig vertrauenswürdige Menschen, und die gibt es nicht, mich eingeschlossen, jeder ist ein Verräter.

Und so schlafe ich ein. Und so erwache ich, sitze schon am Klavier, das jetzt neu gestimmt und gerichtet, wundervoll klingt, und so sitze ich also, der Morgen ist windig, ich dilettiere auf 88 Tasten und die Nachbarin glaubt, ich spiele Bridge over troubled water.

zurück