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Hermann Mensing: Flanken, Fouls und fiese Tricks

1
Schon die Art wie Tuxe die Treppe stürmte, verriet, daß er wütend war. Und als Mama hörte, wie er den Schlüssel ins Schloss rammte, ahnte sie Schlimmes. Tuxe polterte in die Wohnung, schleuderte seine Sporttasche in die Garderobenecke und kam in die Küche. Sein Kopf war hochrot.
"Was ist?" fragte Mama.
Tuxe setzte sich, schaute sie an und begann zu weinen. Dicke Tränen rollten seine Wangen herab. Mama strich ihm über den Kopf, aber das war Tuxe nicht recht. Er war ja schon groß. Später vielleicht. Jetzt wollte er keinen Trost, er wollte nur sauer sein, stinksauer. 
Mama fragte noch einmmal, was los sei.
Tuxe wischte sich Rotz ab, der aus der Nase getropft war, stieß Verwünschungen aus und trat gegen ein Tischbein.
"Die ticken nicht frisch!" zischte er.
"Hat dich jemand gefoult? Bis du verletzt?"
Tuxe schüttelte den Kopf.
"Gottseidank."
Mama hatte immer gesagt, Fußball wäre nichts für ihn, aber Tuxe war hartnäckig geblieben. Hatte gesagt, das wäre es wohl, außerdem könne er gar nicht anders, er hätte das vom Opa Hermann geerbt, der auch Fußballer gewesen sei, ein sehr guter sogar.
Dagegen hatte Mama nichts einwenden können.
Mit der Zeit hatte Tuxe sie sogar so weit gekriegt, daß sie sich Fußball im Fernsehen anschaute. Dabei war sie gern für die Schwächeren und Wiederholungen in Zeitlupe liebte sie heiß und innig. Wenn ein Torwart heranschwebte und den Ball im letzten Moment aus der Luft pflückte, war sie begeistert. Aber Fußball mit kaputten Knien, Dreck am Hintern und Wut im Bauch fand sie nicht witzig.
Der Gedanke, daß ihr Tuxe da mitwuselte, machte sie unruhig, und für ihre Anfeuerungsschreie, wenn Tuxe spielte, schämte sie sich.
Tuxe spielte Linksaußen. Sein Job war es, Bälle aufzunehmen und wenn möglich mit geschinkten Flanken vors Tor zu befördern. Seine Spezialität waren angeschnittene Eckbälle. Wenn er gut traf, drehte er sie ins Tor, noch eh der Torwart etwas gemerkt hatte.
Tuxe legte sich den Ball zurecht.
"Los Tuxe, mach ihn rein!" schrie Mama. Sie glühte vor Aufregung. Sie zündete sich eine Zigarette an. Sie trat von einem Bein auf das andere. Sie war genauso verrückt wie die anderen Mütter, auch wenn sie das nicht wahrhaben wollte. Sie wäre vor Scham am liebsten in die Erde versunken, aber die anderen Mütter schrien jetzt Vorwärts vor, noch ein Tor! und Mama stimmte mit ein.
Ja, so war das mit Mama und Fußball.
Tuxe hatte aufgehört zu weinen. Er hatte keinen blauen Fleck, keine Platzwunde, keinen Muskelfaserriss, keine dieser grausamen Verletzungen, die sich Fußballer am Wochenende zuziehen.
Aber irgendetwas mußte geschehen sein.
Das einzige, was Mama aus ihm herausholen konnte, war, daß einer spinnt. "Der", sagte er, "der spinnt doch total!"
"Na gut", sagte Mama, "dann wollen wir erst mal essen."
Papa hatte Pfannkuchen gebacken, richtig rund, richtig dick, nicht zu braun und nicht zu hell.
"Ich hab keinen Hunger", sagte Tuxe.
"Nicht mal einen halben?" fragte Mama. "Papa hat sie gemacht. Deine Lieblingspfannkuchen."
"Später vielleicht", sagte Tuxe und ging in sein Zimmer.
Papa warf ihm einen mißbilligenden Blick nach.
"Was ist los mit ihm?" fragte er, als Tuxe die Küche verlassen hatte. "Soll ich ihm mal auf den Zahn fühlen?" "Nein", sagte Mama, "laß ihn eine Weile in Frieden. Wenn Zeit ist, wird er schon rausrücken mit der Sprache." "Soll ich nicht einfach mal hingehen und ihm über den Kopf streichen? Das hat immer Wunder bewirkt."
"Ich weiß", sagte Mama. "Trotzdem. Laß ihn einfach in Ruhe."
"Bitte", sagte Papa, "dann nicht."
"Jetzt sei du nicht auch noch beleidigt", sagte Mama.
"Ich bin nicht beleidigt", brummte Papa. "Ich frage mich nur, was passiert ist. So ist er doch sonst nicht." "Hmm", machte Mama, und rief: "Tuxe, soll ich dir eine Wanne einlaufen lassen?"
Tuxe ließ ein bejahendes Brummen hören, und Mama prophezeite ihm, daß er sich danach bestimmt besser fühlen würde. Tuxe brummte wieder irgendetwas, nur um nicht ja sagen zu müssen.
Ja Mama. Ja Papa.
Tuxe liebte es, nach einem Spiel zu baden. Das Wasser mußte lauwarm sein, die Wanne voll bis an den Rand, Schaum sollte darauf sein, und dann wäre es auch nicht schlecht, wenn auf einem Hocker vort der Wanne Glas Kako stünde.
Drei Löffel Kakao, Milch, ordentlich umgerührt.
Manchmal taucht er ab.
Wenn Mama in der Nähe war, blieb er so lange unter Wasser, bis sie unruhig wurde und gegen die Wanne klopfte, damit er wieder hochkam.
Ach ja, noch etwas: er hatte es gern, daß die Badezimmertür offen stand, damit er alles mitkriegen konnte.
Als Oskar nach Hause kam, war Tuxe gerade erst in die Wanne gestiegen. Oskar war im letzten Jahr mächtig gewachsen. Er überragte Papa um einen Viertelkopf, Mama wirkte neben ihm wie eine kleine Schwester und allem Anschein nach war er noch lange nicht fertig mit Wachsen.
Was Tuxe manchmal neidisch machte. 
Oskar ging zur Badezimmertür, machte sie zu und knipste das Licht aus. Stockdunkel war es jetzt da im Bad, man konnte die Hand nicht vor Augen sehen, und das war etwas, was Tuxe rasend machte.
Oskar wußte das. Aber er hatte ja nicht mitgekriegt, mit welcher Laune Tuxe vom Spiel nach Hause gekommen war, und so erwischten ihn Tuxes Flüche völlig unvorbereitet.
Tuxe sagte Dinge, die man besser nicht aufschreibt.
Papa hörte es, Mama hörte es, beide waren für Augenblick bereit zu glauben, daß die Welt jeden Tag schlechter wird, aber andererseits war ihr Tuxe doch überhaupt nicht der, der da fluchte.
Nein, das war irgendein anderer Tuxe.
Tuxe war ein geborener Schauspieler. Wenn er gefoult wurde, kam es vor, daß er allen sein Lieblingsfoul aus dem letzten Ligaspiel vorspielte. Er rollte auf der Erde herum, er verzerrte das Gesicht, er krümmte sich, als würde er jeden Augenblick den Geist aufgeben, um dann wie ein Hase aufzuspringen und davonzurennen.
Das war alles nicht wahr. Alles nur Teil dieses Spiels und doch war ein Fünkchen Wahrheit daran, denn manche Fouls waren wirklich gemein. 
Oskar knipste das Licht wieder an, öffnete die Tür und entschuldigte sich. Tuxe akzeptierte. Sein großer Bruder konnte ganz schön cool sein. Jedenfalls fand Tuxe es cool, daß er sich entschuldigte. Voll cool.
Was Papa übrigens gar nicht gern hörte.
"Gibt es auch leer cool?" hatte er mal gefragt.
Tuxe hatte ihm ein müdes Lächeln geschenkt.
Oskar verschwand in die Küche. Tuxe hörte, wie Papa ihm einen Pfannkuchen backte. Dann hörte er, wie Mama ein Lied sang, er hörte, daß Papa Pipi machte, er sah, daß Oskar in sein Zimmer abschwirrte und seine Lieblings-CD einschob, er hörte all die Geräusche, die ein Mehrfamilienhaus zwischen sechs und acht abends macht, und seine Wut begann zu verrauchen.
Später - Mama und Papa saßen auf dem Balkon, tranken ein Glas Rotwein, Mama rauchte ihre Zigarette und der Abend strich über die Hausdächer - war er fast so weit, Mama und Papa alles zu erzählen, aber er beschränkte sich auf das Wesentliche: daß der Schiedsrichter ein Idiot sei, und der Trainer ebenso.
Mehr hatte er nicht sagen wollen, aber dann spürte er, daß die Worte Schiedsrichter und Trainer das Feuer seiner Wut erneut entfachten, und hast du nicht gesehen, loderte es wieder wie vorhin.
Papa stellte sein Glas auf den Tisch.
"Wieso? Was ist mit ihnen?"
Mama tippte Asche von ihrer Zigarette.
Tuxe sah Papa an, Tuxe sah Mama an, Mama sah Tuxe und Papa an, dann schauten alle irgendwohin, die Luft knisterte, denn jetzt mußte etwas geschehen, das spürten alle, jetzt war die Zeit, und so erzählte Tuxe die ganze Geschichte.
Es war in der zweiten Halbzeit geschehen. Und es war so unglaublich, daß Papa am Ende bereit war, sofort den Trainer anzurufen, um ihn zu fragen, wieso er so etwas durchgehen lassen könne, ein derartiges Fehlverhalten, so eine Sauerei, aber da war es schon halb zehn und Mama hielt ihn zurück.
Also von Anfang an. Die erste Viertelstunde hatte keine der beiden Mannschaften etwas Vernünftiges zustande gebracht. Viel Kleinklein und hier und da unnötiges Beinchenstellen.
Eintracht Rinklage hatte keinen guten Ruf. Aber sie spielten nicht schlecht. Sie waren insgesamt schneller. In der 33. Minute gingen sie durch ein Tor ihres türkischen Stürmers in Führung. Kai hatte versucht, ihn zu stoppen, aber der Schiedsrichter hatte Vorteil gelten lassen.
Bodo der Torwart, kein großer Flieger und am Boden auch nicht besonders schnell, hatte keine Chance. Der Ball fegte einfach an ihm vorbei. Tuxe fühlte sich schlecht. Schließlich war die Eintracht durch seinen Fehlpass in Ballbesitz gekommen, und er sah, daß der Trainer ihm Blicke zuwarf. Einmal noch, und Ferdi ist drin, hieß das wohl.
Ferdi, nicht gerade sein innigster Freund und Anwärter auf den Linksaußenposten.
In der vierundvierzigsten Minute schoß Phillip den Ausgleich. Er hatte zwei gegnerische Abwehrspieler umspielt und den Torwart getunnelt.
Eins zu eins.
Torwarte tunneln ist wunderbar.
Noch wunderbarer war, daß Phillip den Ball von Tuxe bekommen hatte. Sauber geflankt, akkurat angekommen, getrickst, getunnelt, drin! Tuxe warf dem Trainer Blicke zu.
Der Trainer reckte den Daumen.
Noch dreißig Sekunden, dann war Halbzeit.
Große Besprechung.
Wer macht wo die Räume eng, wer passt auf wen auf, wer hat was gut gemacht, was kann man besser machen, achtet auf den kleinen Türken.
"Den kleinen Türken, wenn wir den hätten, hätten die keine Chance. Aber wir packen das auch so. Also. Viel Glück."
Während der Halbzeit hatten sich die Wolken, die über den Baumbergen hingen, gelöst, trudelten nun überm Stadion ein, machten ein Päuschen und pieselten alle nass. Unangenehm das, aber schließlich waren die Spieler reihum Westfalen, und die wissen, was Regen ist. In der sechzigsten Minute hatten die Wolken sich ausgepieselt und zogen ab. Messerscharfes Spätnachmittagslicht schnitt die Umrisse der Baumberge schwarz in den Horizont. Wie von der zurückgekehrten Sonne entflammt stürmte Vorwärts nun mit allem, was rennen konnte, verwirrte die Eintracht, riss die Abwehr auseinander, aber als Stefan in eine Flanke rannte, die von der Strafraumlinie geflogen kam, hatte die Eintracht eine gute Idee und Stefan rannte ins Abseits.
Abseits ausgeführt.
Irgendwie kriegte der Ausführende den Ball so gut auf den Schlappen, daß er flog und flog und flog, und der Konter schon vorm Strafraum angekommen war, eh die ersten Vorwärtsler begriffen hatten. Bodo kam aus dem Kasten.
Sein Stellungsspiel war nicht schlecht, aber wie gesagt, am Boden fehlte ihm die Schnelligkeit.
Der Rinklager Stürmer schien das zu wissen. Er täuschte links, Bodo tauchte, der Ball war auf dem Weg zum Tor, aber natürlich passierte er Bodo rechts.
Zwei zu eins.
Manchmal ist Fußball gemein. 

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