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Hermann Mensing: Der zehnte Mond

1
Fast alles war, wie es sein musste: das Tipi am Waldrand, das Lagerfeuer, Tscho-tschon, der Indianer mit Pfeil und Bogen, die Sonne, die über dem sanft gewellten Land unterging.
Krikke hatte Stunden gebraucht, seine Playmo-Figuren so aufzubauen.
Letzte Sonnenstrahlen fielen durchs Fenster und trafen Tscho-tschons Gesicht. Tscho-tschon legte die Hand über die Augen und spähte zum Horizont. Der neunte Mond war vergangen und er hatte noch einen weiten Weg vor sich.
Ohne Pferd würde er es vor Wintereinbruch kaum schaffen.
Ohne Pferd war vielleicht alles vergebens. Aber noch hatte er die Hoffnung nicht aufgegeben. Manchmal geschahen merkwürdige Dinge und oft passierte genau das, was man sich insgeheim erhofft hat.
Die Sonne versank. Abendwind strich über die Prärie und irgendwo heulten Schakale. Es wurde kühl. Tscho-tschon legte sich eine Decke um die Schultern und machte es sich am Feuer bequem.
Krikke knipste sein Licht aus. Nach einer Weile kam seine Mutter, wie jeden Abend.
„Na“, fragte sie, „alles in Ordnung?“
„Hmmm“, machte Krikke.
„Dann schlaf schön!“
Krikke nickte und Mama drehte seine Bettdecke um. Die kühle Seite lag jetzt auf ihm. Das war erfrischend. Krikke liebte das. Er zog sie sich über den Kopf, bis auch die letzte Haarspitze verschwunden war, und buddelte sich ein Atemloch.
Der zehnte Mond stieg gelb wie Holländerkäse und krumm wie eine Banane an den Himmel.
Krikke seufzte und schlief ein.
Mitten in der Nacht erwachte er schweißgebadet.
Tscho-tschon braucht ein Pferd, dachte er.
Alles, was Tscho-tschon braucht, ist ein Pferd!
Krikke setzte sich auf.
Das Lagerfeuer war niedergebrannt. Tscho-tschon schlief tief und fest.
Der Mond war von Krikkes Bett aus nicht mehr zu sehen. Bis auf das Rauschen der nahen Autobahn war es so still, dass man das Ticken der Küchenuhr hören konnte. Eine Weile zählte Krikke mit, dann verlor er sich zwischen fünfundfünfzig und dreiundsechzig und schlief ein.
Am Morgen war Tscho-tschon fort.
Krikke fragte Mama, ob sie den Häuptling vielleicht zur Seite geräumt hätte, aber Mama verneinte.
„So früh räum ich noch nicht auf!“, sagte sie lachend. „Bin ja nicht wahnsinnig. Hab auch andere Sachen zu tun!“
Krikke rollte sich aus dem Bett und machte sich auf die Suche. Bei den Dinos war alles ruhig. Kein Indianer in Sicht. Auf dem Rummelplatz, da, wo die weißen Mäuse seines großen Bruders manchmal turnten, war auch noch nichts los. Und die Ritterburg, die er von Opa zum Geburtstag bekommen hatte, stand verstaubt in der hinterletzten Ecke unterm Bett.
„Frühstück!“, rief Mama.
„Komme gleich!“  
Krikke robbte unterm Bett vor um noch bei den Autos nachzuschauen, die im Regal parkten. Und da saß er! Na ja, sitzen kann man das eigentlich nicht nennen: Tscho-tschon hing kopfüber in einem feuerroten Ferrari.
Krikke musste lachen.
Tscho-tschon sah ihn an ohne ein Wort zu sagen.
„Entschuldigung“, sagte Krikke, trug ihn ins Lager, blies das Feuer für sein Frühstück an und zischte ab in die Küche.
„Gewaschen? – Zähne geputzt?“, fragte Mama.
Krikke schüttelte den Kopf und biss in ein Käsebrot. Indianerhäuptling brettert mit Ferrari durch die Prärie!, dachte er plötzlich, kriegte einen Lachanfall und prustete halb durchgekautes Käsebrot über den Tisch. Als Mama fragte, was so lustig wäre, kniff er und sagte: „Ach nix!“

2
Krikke war wütend. Bernd Bulli hatte behauptet, niemand könne ihn umwerfen, er wette zwei Dickmanns. Krikke hatte es trotzdem geschafft. Hatte nur einen einfachen Trick gebraucht, fertig. Statt Krikke die Dickmanns zu geben, war Bernd mit zwei anderen über ihn hergefallen.
Blödmann, der.
Zum Glück war gleich Schulschluss. Frau Guttermann hielt gerade eine ihrer gefürchteten Gardinenpredigten. „Gruppenarbeit heißt nicht, rumzuschwänzen“, sagte sie. „Und wer in der Indianergruppe forscht, sollte nicht glauben, dass es reicht, auf einem Pferd durch die Gegend zu reiten und Skalps zu erbeuten.“
Krikke träumte zum Fenster hinaus in den Regen.
Als Frau Guttermann fertig war, ging er zu seinem Fach, um seine Sachen zu verstauen. Er kam am Indianerlager vorbei, an dem seine Gruppe die letzten zwei Stunden gearbeitet hatte.
Neben dem Feuer stand ein schwarz-weißer Hengst.
„Steck ihn ein!“, sagte plötzlich eine innere Stimme zu ihm, „das ist doch genau der, den du brauchst!“
Noch bevor Krikke nachdenken konnte, war der Hengst in seiner Hosentasche verschwunden. Heiß wie die heißeste Glut fühlte er sich dort an, aber zurückstellen mochte Krikke ihn nicht mehr.
Frau Guttermann wünschte allen einen guten Heimweg, dann war tatsächlich Schulschluss.

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