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Ich danke der Niehoff Holding (Gronau/Epe) für die finanzielle Unterstützung während der Arbeit an diesem Roman.

Hermann Mensing

 


1

Kurt Lamprecht - Freunde nannten ihn Kutte, Feinde schrien: „Lampe kommt, Licht aus!“, wenn sie ihn sahen - wohnte in einer großen Stadt. Sie war so groß, dass er kaum sagen konnte, wo sie begann oder endete.

Aber das war auch egal. Seine Stadt war überall. Tag und Nacht. Sie machte Krach, sie stank nach Benzin, aber Kutte war hier geboren und ließ nichts auf sie kommen.

Eines Abends, Kutte ließ Zeit verstreichen und tat dabei nichts, hörte er seinen Vater.

"Kutte!", rief er. "Kutte! Wo steckst du? - Ich hab eine Überraschung für dich."

Überraschung?

So etwas ließ sich Kutte nicht zweimal sagen. Er düste in die Küche.

"Was denn?"

"Tja", sagte sein Vater geheimnisvoll. "Rate mal!"

Ratenlassen war gemein!

Überraschungen sollten verkündet werden. Kutte wurde ganz aufgeregt.

"Du - äh - du fährst mit mir zum Schiffshebewerk", sagte er nach einiger Überlegung, denn da wollte er schon lange hin.

"Nein. - Viel besser."

Besser als das Schiffshebewerk?

Sein Vater war Überraschungsweltmeister. Vielleicht hatte er sich mit seinem Freund verabredet. Der war Ingenieur und kümmerte sich um die Kanalisation der Stadt.

"Das Rattenreich!", wie Opa Heini das nannte. Kuttes Vater hatte einmal gesagt, der Ingenieur, Kutte und er würden eines Tages hinabsteigen und sich die Stadt von unten anschauen.

"Wir steigen in die Kanalisation", sagte Kutte.

"Nein." Sein Vater lachte. "Noch viel, viel, viel besser!"

"Noch besser?"

"Ja."

"Sag schon ..."

"Diesen Sommer werden wir in Urlaub fahren."

"In Urlaub?"

Kutte atmete durch. Er war noch nie in Urlaub gefahren. Bisher waren es immer die anderen gewesen, die in Urlaub fuhren.

"Ja. Und rate mal, wohin?"

Kutte zuckte die Achseln.

"Aufs Land, Kutte! - Zelten! - Mit Feuerchen und allem Zick und Zack. - Freust du dich?"

Kutte sah seinen Vater lange an. Das Feuerchen und der Zick und Zack hätten ihn interessiert. - Aber das Land?

"Nööö", sagte er schließlich, nahm sein Butterbrot und schlich betreten zurück in sein Zimmer.

"Was hat er bloß?", sagte Herr Lamprecht.

"Lass ihn", sagte Frau Lamprecht. "Das wird schon."

Kutte wollte nicht aufs Land! Das Land lag hinterm Mond. Hinterm Mond bedeutet langweilig. Hinterm Mond ist jemand, der keine Ahnung hat. Hinterm Mond werden die Bürgersteige abends um zehn hochgeklappt, weil keiner mehr hinausgeht.

Gab es überhaupt einen Grund, an einen Ort zu fahren, wo Füchse und Hasen sich gute Nacht sagten?

Nein. Gab es nicht. Außerdem wurde es auf dem Land abends so still, dass man eine Stecknadel fallen hören konnte. Schrecklich!

Wie war sein Vater bloß auf so eine Idee gekommen?

Er war doch sonst nicht blöd! Er wusste doch, was Kutte gern tat und was nicht. Eigentlich war er doch der beste Vater, den man sich denken konnte.

Zwar war es nicht so, dass Kutte den Gedanken an Urlaub nicht aufregend fand - nein - der Gedanke war mächtig aufregend, denn seit er sich erinnern konnte, hatte es immer geheißen, wir können uns Urlaub nicht leisten.

Aber warum ausgerechnet aufs Land?

Fritz Langbein aus dem fünften Stock, der mit dem Baseballkäppi und dem Skateboard, war im letzten Jahr mit seinen Eltern auf die Kanarischen Inseln geflogen. Zu einem Robinson-Club. Mit Surfkurs und Tieftauchen. Hatte ziemlich angegeben damit.

Peter Bogatzki aus dem Hinterhaus wollte dieses Jahr nach Spanien, und Flötekesseldieter prahlte schon seit Wochen damit, dass er im Sommer ganz allein mit dem Flieger zu seiner Tante nach Australien düsen würde.

Flötekesseldieter war nicht besonders beliebt und der Klügste war er auch nicht. Er hatte nicht den leisesten Schimmer, wo Australien lag.

Kutte wusste das. Kutte hatte von Opa Heini zu Weihnachten einen beleuchteten Globus bekommen. Seitdem reiste er abends oft um die Welt. Er machte alles Licht aus, knipste den Globus an, drehte ihn und tippte bei geschlossenen Augen mit seinem Finger darauf.

Seltsame Orte hatte er auf diese Art und Weise entdeckt, Orte, die nicht einmal Opa Heini kannte, und der hatte die Welt schließlich gesehen.

Opa Heini hatte im Toten Meer gebadet und dabei Zeitung gelesen. Opa Heini war auf einem Elefanten durch den südindischen Dschungel geritten. Opa Heini hatte das Dach der Welt gesehen und die tiefsten Meere befahren. Am Amazonas hatte er Gummibäume gemolken, in Argentinien hätte eine wild gewordene Rinderherde ihn fast über den Haufen gerannt, und in Australien hatte er nach Edelsteinen gegraben.

Und Schnabeltiere gefangen.

Und Tasmanische Teufel gesehen.

Kutte hatte Flötekesseldieter vom Tasmanischen Teufel erzählt. Allerdings hatte er nicht gesagt, dass der Tasmanische Teufel ein recht harmloses Tier ist. Und so ganz nebenbei hatte er ihm auch noch gesteckt, dass man auf der anderen Seite der Erde mit dem Kopf nach unten hängt.

"Ehrlich?" Flötekesseldieter war bleich geworden.

"Natürlich, Flöte. Ist doch logisch! Wir sind oben, die unten."

Ja. Fremde Länder, das war Urlaub!

Meere, Tempel, Urwald, geheimnisvolle Musik.

Aber Urlaub auf dem Land?

Kutte biss lustlos eine Ecke aus seinem Brot, öffnete das Fenster und hopste auf die Fensterbank. Über der Stadt lag ein beruhigendes Summen und Brummen. Weit hinten konnte er die roten Lichter des Fernsehturms sehen.

Die Fensterbank war sein Lieblingsplatz.

Von hier aus hatte er sein Revier im Blick.

Es reichte vom Goethe-Platz bis hinunter zur Heuss-Allee, alles in allem vier Straßen. Hier kannte er jeden Winkel und jedes Gesicht. Oder sagen wir besser: fast jedes Gesicht.

Aber es gab auch Gesichter, bei denen er einfach so tat, als hätte er sie nie gesehen.

Das Gesicht vom Friseur Stöppler zum Beispiel.

Der Friseur Stöppler war ein griesgrämiger Mann. Wenn der Kinder sah - noch dazu Kinder, die auf einem Mountainbike über den Bürgersteig fuhren, schoss er aus seinem Friseursalon, ruderte mit den Armen und drohte mit der Polizei.

Als der 516 - ein Bus, der vom Flughafen fast bis ans andere Ende der Stadt fuhr - mit stöhnenden Bremsen vor dem Haus hielt, sah Kutte auf die Uhr.

19:25 Uhr.

Der Berufsverkehr war vorbei.

Die Stadt reckte sich und bereitete sich auf den Abend vor. Es roch nach Abendessen.

Um 19:27 Uhr - Kuttes Hunger hatte gesiegt, und er überlegte gerade, ob er sich noch eine Schnitte aus der Küche holen sollte, hielt drüben vor dem Juweliergeschäft Thorens ein schwarzer Mercedes.

Er kam Kutte komisch vor.

Irgendetwas war komisch an diesem Mercedes.

Um besser sehen zu können, streckte Kutte sich ein wenig.

Zwei Männer stiegen aus und gingen auf das Geschäft zu. Sie hatten die Türen des Wagens offen gelassen, und der Motor lief auch noch.

Was sie wohl wollten?

Noch ehe Kutte den Gedanken zu Ende denken konnte, schlug einer der Männer mit einem Hammer gegen die Scheibe. Die Scheibe zersprang. Sofort begann die Alarmanlage zu heulen. Die Männer rafften den Inhalt der Auslagen zusammen und warfen alles in eine Reisetasche.

Das ging in Windeseile vor sich.

Kutte traute seinen Augen nicht.

Das waren Räuber!

Richtige Räuber wie im Fernsehen!

Großstadträuber!

Er hatte es ja immer gewusst. Großstädte waren gefährlich und aufregend.


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