April 2003                                              www.hermann-mensing.de           

mensing literatur

Der Friedensmonat  
 

Phase 2  

zum letzten Eintrag -

 

Di 1. 04. 03     8:00

Die Terminalphase hat begonnen. Unser Atem geht kurz und schnell. Wir scheinen im Koma, aber wir registrieren alles. Unter den halb geöffneten Lidern bewegen sich unsere Augäpfel von links nach rechts. Unsere Körper kämpfen. Unsere Körper sollen aufgeben. Unsere Körper sollen endlich Platz machen. Unsere Seelen wissen längst, wo ihr Platz ist. Stattdessen pumpen unsere Lungen Salve um Salve, um sich am Ende doch eingestehen zu müssen, dass es umsonst war. Unser Urin sieht aus wie Blut. Unsere organischen Defekte mehren sich. Der Verfall ist augenscheinlich. Aber wir kämpfen.

 

21.20   

Ist der Kampf dann vorüber, hat die Vernunft (die Seele, Gott, ???) Oberhand gewonnen und uns Kämpfer verlassen, bleibt nichts als Hülle. Wohin man schaut, was immer von uns erdacht und erbaut wurde, hat keinen Wert mehr. Es wird verfallen. Niemand wird eine Träne darum weinen. Andere werden übernehmen. Andere, die gelernt haben, sich anzupassen.

 

Mi 2.04.03    11:06bb

Neuer Verwendungszweck für eine als Freiheitssymbol unbrauchbar gewordene Flagge.

 

                      

© Jan Mensing 2003

http://www2.fotocommunity.de/pc/pc.php4?mypics=12238

14:36

American fighter plane came in under the smoke to see if anything was moving. They saw Billy and the rest moving down there. The planes sprayed them with machine-gun bullets, but the bullets missed. Then they saw some other people moving down by the riverside and the shot at them. They hit some of them.
So it goes.
The idea was to hasten the end of war. (1)

16:46

Ferner sind unbrauchbar geworden:
Die Glaubwürdigkeit. Der Glaube. Die Zuversicht.
Nicht vor Gericht gestellt werden: George W. Bush, Saddam Hussein.
All die andern Verbrecher auch nicht.
Gewinner:
Der Papst. Seltsam, oder?

 

Do 3.04.03     9:41

Natürlich gibt es auch in der Welt, die mir nicht medial vermittelt wird, Ereignisse und Personen, die ich liebe und hasse. Etwa die Flötistin der Session gestern. Ich gestehe vorab, dass mein Verhältnis zur Querflöte nie ein gutes war. Ich werde ungehalten, wenn ich Flötisten sehe. Wenn sie ihre Lippen zum Ansatz schürzen, möchte ich würgen. Ich glaube, das hat mit Wolf B. zu tun, einem Musiker, in dessen Band ich in den Siebzigern spielte. Er war Flötist. Seitdem verbinde ich Flötisten mit akademisch gebildeten Menschen aus gutem Hause. Menschen mit vornehmlich theoretischem Ansatz, selten mit den Füßen am Boden. Wie meine Flötistin. Schon ihr beleidigter Gesichtsausdruck macht mich unruhig. Und wenn sie dann glaubt, sie spiele ihr Thema den internationalen Gepflogenheiten entsprechend synchron zur Eins, steigt aber ständig aus und auf Zwei oder gar Drei wieder ein, werde ich böse. Dann verdichten sich meine Vorurteile zur erlebten Wahrheit, und ich denke an Mord. Und während sie sich entrückt in Ekstase wähnt, die doch nichts weiter als eingebildet ist, sozusagen gedachte Ekstase, summe ich The beat goes on and I'm so wrong aus dem Lied "Dancing fool" von Frank Zappa. Sie trägt naturgefärbte, gewundene Kopftücher, weite, fließende Leinenröcke, flache Gesundheitsschuhe und weht und wallt vom Vortrage ihrer jämmerlichen Flötentöne mitgerissen in viele Richtungen, wobei ihr linker Fuß orthopädisch bedenklich vorgestreckt und in sich verdreht mit der Spitze den Boden morst. Signale, die ich lieber nicht entschlüsseln möchte. Ja, es ist elend auf dieser Welt. Aber es ist auch schön. Und langsam kehre ich dem Krieg meinen Rücken. Schließe die Augen, wende mich ab und pflege mein kleines Glück. Ist es das, was ihr wollt, ihr Verbrecher? Ich würde es euch zutrauen.

 

Fr 4.04.03          8:20

Willkommen auf der Plattform für platten Anti-Amerikanismus.

Deutsche und französische Firmen sollen vom Wiederaufbau nicht profitieren

03.04.2003
Tagesschau-Ticker 22:47:27

US-Parlamentarier haben gefordert, dass Deutschland und Frankreich auf keinen Fall von US-Investitionen zum Wiederaufbau Iraks nach dem Krieg profitieren dürften. Der republikanische Senator Ensign verbreitete in Washington einen Antrag in dem es hieß, von den vorgesehenen US-Haushaltsmitteln in Höhe von 80 Milliarden Dollar für Krieg und Wiederaufbau dürften keine Mittel an deutsche und französische Staatsbürger oder Unternehmen aus diesen Ländern fließen.

Das finde ich auch.
Alles Geld, Goldzähne, Devisen, Effekten, alles soll an Amerika, England und Spanien gehen. Mögen Sie an ihrem Blutgeld ersticken. Dieser britische Arschkriecher, dieser verhinderte spanische Matador (der gerade von seinen Landsleuten wegen Verstoßes gegen das spanische Grundgesetz angezeigt wird, Bravo) und dieser debile amerikanische Cowboy.

11:00

Ich bin's, Flipper, der Freund aller Kinder!

12:30

dämliches aus dem hause men-sing:

hat der krieg auch viele seiten /
mich darfst du in frieden reiten /

 

Psssst, Saddam du Verbrecher, warum sprengst du nicht eines dieser Heiligtümer und schiebst es den Amis unter? - Ja, genau!!! Aber nicht weitersagen.

 

Sa 5.04.03     14:23

Es bleibt nichts als Lesen.
Romane eignen sich in diesen Tagen überhaupt nicht, da geht es um Menschen in ihrem Verhältnis zu sich und andern, um Väter und Mütter und Töchter beziehungsweise Söhne und Geliebte usw., um Seelen, hauptsächlich unglückliche, und um Gesellschaft uws., als sei das Gelände dafür gesichert, die Erde ein für allemal Erde, die Höhe des Meeresspiegels geregelt ein für allemal. (2)

 

So 6.04.03      11:12

Wie schön das damals gewesen sei, sagen alle. In der Bismarckstraße. Wie da alle zusammengehalten hätten. Und der kleine Hermann! Wenn der im Kinderwagen in der Sonne vorm Haus gestanden hätte, hätten sie mit ihren Hudora Rollschuhen nicht fahren dürfen. Das hätte ihn ja geweckt. Und wenn er im Garten von Lingemann in der Sonne gestanden hätte, hätte Herr Lingemann gesagt, der kleine Hermann ist zum Dienst erschienen. Und später, wenn die Mutter ihn gerufen hätte, Heeeeermann, dann hätte er so getan als höre er gar nicht, obwohl doch die durchdringenden Rufe seiner Mutter weit und breit zu hören gewesen wären, lauter noch als die Rufe der Hausmeistersfrau vom Rathaus, die immer Hääääänschen gerufen habe. Und wie man vor der Haustür gesessen habe an Sommerabenden. Wie schade es sei, dass man sich immer nur zu solch traurigen Ereignissen träfe, eigentlich müsste man mal ein Treffen veranstalten, nur so, aber das müsste schon jemand in die Hand nehmen, das ginge ja nicht so von heute auf morgen. Aber nun, es sei wie es sei, auch wenn es traurig sei, wenn man so alt würde, wie die Verstorbene, könne man nicht meckern. Da dürfe man ruhig sterben. Alle nicken. Dabei trinken alle Kaffee und essen Brötchen und Fotos werden herum gereicht, Fotos aus längst vergangenen Zeiten, als man sich noch Zeit nahm, sich herrichtete, wenn der Fotograf kam: keine Schnapschüsse aus der Hüfte wie heute, sondern sorgfältig arrangierte Stilleben: Tante, Tante, Mutter. Mutter, fremder Herr, Tante, fremder Herr, Heinz. Heinz, ja, der sei vor ein paar Jahren plötzlich aufgetaucht, um sich von der Tante und der Mutter zu verabschieden. Krebs. Der habe wohl geahnt, dass er bald gehen müsse und wollte alle noch einmal sehen. Und dann sei er ja auch bald gestorben.

 

Mo 7.04.03    8:58

dämliches aus dem hause men-sing:

stille brütend schaut der meister
auf sein umfangreiches werk
denkt demütig: scheibenkleister
finde keinen reim auf erk.

finde keinen reim auf leben
finde meine brille nicht
hab mein hirn längst abgegeben 
dopple täglich mein gewicht.

heißa, das ist eine freude
wenn sich tag auf tag nicht reimt
eine stille augenweide
hab wohl alles nur geträumt.

19:54

So sieht mein nächster Roman aus:



(Finde ich das Design gut? - Nein. 21.04.03 12:39)


Di 8.04.03   18:44

Las heute vor gut 150 Kindern aus zwei Romanen. War anschließend heiser. Fuhr beschwingt heimwärts, denn 1. hatte ich einen Scheck in der Tasche und 2. war ich glücklich. Oder war es umgekehrt? Hach, ich weiß gar nicht mehr.

 

Mi 9.04.03 9:16

Weiter so, Bush. Du schaffst das.

19:27

George W. Bush, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe. Wie im Himmel, also auch auf Erden. Amen. Und mach, dass wir so gut werden wie du, nach deiner Fasson, überall. Und vergesse uns dumme Deutsche nicht, wirft Krumen vom Tisch, lass uns in deinem Licht stehen, Verbrecher.

 

Do 10.04.03     15:52

Sieger können gut lachen. Aber das gibt ihnen nicht Recht.

19:48

Wie sagte der große Trainer: nach dem Krieg ist vor dem Krieg. Wenn wir die Massenvernichtungswaffen hier nicht finden, dichten wir sie einem anderen an. Und natürlich gratuliere ich den Iraki. Ich wünsche Ihnen alles Gute.

 

Fr 11.04.03      9:36

Liebe Friedensfreunde,
seid nicht traurig, dass alles nun doch so schnell gegangen ist.
Verdaut zu eurem Seelenheil diesen Satz.
Er möge euch an euren letzten großen Irrtum erinnern.
"Die unvergesslichen Bilder der Freude von versklavten Völkern, die die Freiheit kosten, zeigt die Weisheit gerechter Kriege!"
(William Safire, New York Times)

15:36

Harold Pinter im Februar:

Die Vereinigten Staaten bersten offenbar vor Verlangen, den Irak anzugreifen. Ich glaube, Sie werden es auch tun - nicht nur, um das irakische Öl zu kontrollieren, sondern weil die US-Regierung jetzt ein blutdürstiges wildes Tier ist. Bomben sind ihr einziges Vokabular. Wir wissen, dass die Haltung ihrer Regierung viele Amerikaner mit Entsetzen erfüllt, aber es scheint, sie sind hilflos. Wenn Europa sich nicht solidarisch, intelligent und mutig zeigt und die Macht der Vereinigten Staaten nicht in Frage stellt und sich ihr widersetzt, dann verdient Europa selbst die Definition von Alexander Herzen: 'Wir sind nicht die Ärzte. Wir sind die Seuche.'

 

Sa 12.04.03 18:21

Dänemark will sich auf Wunsch der USA am Wiederaufbau im Irak nach Kriegsende mit der Entsendung von Militärpersonal und Polizisten beteiligen. Ministerpräsident Anders Fogh Rasmussen teilte in Kopenhagen mit, er erwarte die Zustimmung des Parlaments zur Entsendung von 380 Militärangehörigen und bis zu 25 Polizisten. Ein Mandat der Vereinten Nationen (UNO) halte Dänemark nicht für notwendig, sagte Rasmussen.

Warum auch!!!
Was das heldenhafte Amerika darf, darf Dänemark auch, oder?

 

So 13.04.03     17:47

13.4.1962: Beatles im Starclub

"Die Not hat ein Ende! Die Zeit der Dorfmusik ist vorbei!" diese Zeilen prangen auf grell-orangen Plakaten, die im Frühjahr 1962 das Amüsierviertel St. Pauli erleuchten. Geworben wird da für den Star-Club, der - so heißt es - alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen wird.

Zur Eröffnung des neuen Clubs am 13. April spielte eine originelle, eher noch unbekannte Band - vier Jungs aus Liverpool.

Paul McCartney: "In Hamburg when we first arrived, very green, there was the manager, what they called the Geschäftsführer. His name was Willy and he said: Macht Schau! Make show! Do something!"

Erinnerungen von Paul McCartney. "Macht ne tolle Show" hatte der Star-Club-Geschäftsführer den Beatles geraten. Und Paul McCartney, John Lennon, George Harrison und Ringo Starr holten alles aus sich heraus, was in ihnen steckte. Vom 13. April an spielten und sangen sie viele Nächte hindurch bis zum frühen Morgengrauen auf der kleinen Bühne des ständig überfüllten Clubs. Und nicht nur das:

Paul McCartney: "The best memories? Oh, getting crazy on stage in the Star Club (…) may be John with a toilet seat round his neck, he had only his underpants on and he was very drunk; besoffen Mensch!"

Sie aßen auf der Bühne, rauchten und fluchten, zerstörten die Bühne oder die Verstärkeranlage. John Lennon spielte gar mit einer Klobrille um den Hals.

Um ausgerechnet das Hamburger Publikum in Stimmung zu bringen, da mussten die Beatles sich schon was einfallen lassen. Ältere Zeitgenossen waren oft pikiert über die wüsten Auftritte der Jungs mit den - ihrer Meinung nach - viel zu langen Haaren. Und Günter Zint, früherer Hausfotograf im Star-Club, kann sich nur an einen einzigen Presse-Artikel erinnern, in dem die Beatles überhaupt mal erwähnt wurden.

Günter Zint: "Da wurden sie erwähnt als eine Gruppe, die eine fürchterliche Negermusik macht; es wurde gesagt, dass diese Musik den jungen Leuten die Ohren und die Knochen kaputtmacht."

Die jungen Leute sahen das anders. Viele von ihnen schwärmten schon 1962 für die Beatles, obwohl sie im April noch keineswegs DIE musikalischen Stars im Star-Club waren. Was den jungen Leuten imponierte war anfangs vor allem, dass die Musiker aus Liverpool frech waren, rotzig und respektlos, vor allem John Lennon.

"Ich wusste, dass er ein politisch interessierter Mensch war und auch sehr respektlose Äußerungen über die reaktionären Dummköpfe hier gemacht hat, was mir sehr gefiel, weil ich aus einem sehr konservativen Elternhaus kam und der Star-Club für mich so'n Befreiungsschlag war. (...) Ich versteige mich sogar zu der Behauptung, dass die 68er nicht möglich gewesen wären, wenn vorher nicht Elvis Presley oder die Beatles oder einige andere Musiker diese Bastion sturmreif geschossen hätten."

Die Beatles waren albern und frech; sie liebten das Amüsement und die Politik. Aber sie arbeiteten auch hart an ihrer musikalischen Karriere.

"Do you spend lots of money for girls? I mean, taking them out and so on."
"In Germany? I don't think so. Most of the time we are working. Every night we used to work in the Star Club."

Der neue Beatles-Song "Sweet Georgia Brown" erhielt in Hamburg den letzten Schliff, "Love me do", ihre erste Single, wurde im Studio aufgenommen und kletterte in England auf Platz 17 der Charts. Als die 'Fab Four' am 31. Dezember zum letzten Mal zwischen Nutten, Nepp und Rock'n'Roll im Rotlicht-Viertel St. Pauli spielten, da waren sie aus dem Star-Club eigentlich schon längst herausgewachsen. Der Abschied im Star-Club in den frühen Morgenstunden des 1. Januar war ein Abschied für immer. Die Beatles machten sich auf den Weg zur erfolgreichsten Rockband aller Zeiten.

Autorin: Klaudia Pape

 

Mo 14.04.03    9:37

Ich bin froh, in den letzten Wochen fest an der Seite unserer weitsichtigen amerikanischen Freunde gestanden zu haben. Gegen die uneinsichtigen Schwanzeinzieher dieser Welt habe ich von Anfang an Postition bezogen, das zahlt sich jetzt aus. Erste Schecks summieren sich auf meinem Konto, ich darf mittun, und man kündigte mir bereits an, man wolle mich bei der Vergabe besonderer Aufgaben bevorzugt behandeln. Das freut mich, zumal unsere Erstschlags-Doktrin bald an anderen Orten wiederholt werden muss, was zu erneuten Schecks und Aufgaben führen wird. Ja, ich bin froh. Ich kann sagen, ich bin geradezu glücklich.

 

Di 15.04.03   01:15

Bitte attackieren Sie das politische Amerika, wo Sie es es treffen können: bei seinen Einnahmen.

Lassen Sie sich von niemandem beirren. Amerika versucht Werte, für die lange gekämpft wurde und die noch längst nicht Wirklichkeit für alle Menschen sind, auszuhöhlen und umzukehren.

Das ist sein größtes Verbrechen.


Haben Sie also weiter Recht.
Ihr Gefühl täuscht Sie nicht.

8:46

"Wir glauben, dass es chemische Waffen in Syrien gibt." George W. Bush.

10:13

"Ich glaube, Sie gehören ins Gefängnis." Hermann Mensing

14:49

Strahlend der Tag. Seit dem Tod meiner Tante und meiner Mutter, die beide innerhalb von zehn Tagen einen Tag vor ihrem Geburtstag starben, ist eine Last von mir, die ich kaum beschreiben kann. Ich möchte schlafen und schlafen und schlafen.
Stattdessen rege ich mich über eine Hand voll amerikanischer Krimineller auf, denen es wieder und wieder gelingt, die Welt mit ihrer Propaganda zu täuschen und allen Profit einzustreichen.
Üble Burschen sind das, Verfechter der Todesstrafe, Missachter internationaler Abmachungen und Gesetze, Folterer und Unterdrücker.
Wie gesagt: eine Hand voll, mehr nicht, aber sie sind mächtig.

 

Mi 16.04.03    10:03

Enzensberger beklagt Heuchelei und Pharisäertum

Angesichts des Sturzes von Saddam Hussein hat der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger von "triumphialer Freude" gesprochen. Er sei zutiefst irritiert über den Umstand, dass "so viele Deutsche der Rhetorik des "Appeasement" anhängen, ganz so, als hätten sie nie unter einem totalitären Regime gelebt", schreibt Enzensberger in einem Beitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Neben diesem "Gedächtnisverlust" beklagt der Schriftsteller die "Heuchelei" und das "Pharisäertum" vieler Kriegsgegner.

Sehr geehrter Herr E.,

viele Heuchler und Phrarisäer, die in den letzten Wochen in aller Welt auf die Straße gegangen sind, waren sehr jung. Auf die kann ihre Kritik also nicht zutreffen, die sind groß geworden mit Cola, Popcorn, amerikanisierter Kultur und den Segnungen des weltweiten Kapitalismus.
Von der Rhetorik des "Appeasement" werden Sie kaum gehört haben, und wenn, würden Sie vielleicht den einen (Hussein) nicht mit dem von ihnen gemeinten anderen (Hitler) in Verbindung bringen wollen.
Ich ganz sicher nicht, und auch Sie werden bei genauerem Nachdenken zu dieser Einschätzung kommen müssen, andernfalls möchte ich Ihnen Gedächtnisverlust vorwerfen.
Ich will Ihnen von einer Sozialisationserfahrung berichten, die meine Haltung zum politischen Amerika tiefgehend geprägt hat: in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren bin ich durch Europa, Israel, Nordafrika, Nordamerika, Südamerika und Asien gereist. Wie man das damals tat: ohne Ziel, ohne viel Geld, mit einem Schlafsack, den man ausrollen konnte, wo immer es einen beliebte.
Fast überall gab es ein latentes Misstrauen gegen Amerika.
Überall wurde Cola getrunken, aber als Gringo war man nicht gern gesehen.
Dieses Misstrauen gegen ein Land, das einem nichts getan hatte und dennoch unheimlich war, teilte ich mit vielen, auch mit jungen Amerikanern.
Ein Misstrauen, das gespeist von amerikanischem Handeln von Vietnam bis Chile und allen undurchsichtigen Umsturzversuchen in Südamerika bis in die Gegenwart angehalten hat.
Mein auch daraus erwachsener Protest gegen diesen völkerrechtswidrigen Krieg hat nichts mit "Heuchelei" zu tun.
Mit so einem Unbehagen macht man zwar keine Politik, aber ich bin kein Politiker. Ich bin Dichter, und das zwingt mich, wieder und wieder zu sagen, was ich vom politischen Amerika halte.
PS.
Triumph über den Sturz Saddam Husseins empfinde ich nicht.
Stattdessen empfinde ich Freude für die Menschen dort.
Die aber ist gedämpft, wenn ich daran denke, dass z.B. im Staatshaushalt der USA für die Wiedererrichtung einer tragbaren politischen Struktur in Afghanistan schon im nächsten Haushaltsjahr kein Cent mehr zur Vergügung steht.
Das sollen wohl die UN Partner bezahlen.
Außerdem glaube ich, dass jedem Volk seine "Idioten" zustehen, und es letztendlich besser ist, wenn man sich selbst von ihnen befreit, statt von ihnen befreit zu werden.
Will man dennoch militärisch forcierte Lösungen, kann ich diesen nur im Rahmen einer UN geführten Streitmacht zustimmen, aber davon sind wir noch weit entfernt.

In diesem Sinne, Herr Enzensberger, grüßt Sie ein Heuchler und Pharisäer.

PPS.
Natürlich macht es sich für Intellektuelle immer gut, die Position des einsamen Rufers zu besetzen, in diesem Falle aber, Herr Enzensberger, sind Sie auf dem falschen Dampfer. Schade, ich hatte Sie bisher immer geschätzt.

 

Do 17.04.03    9:29

Now to something completely different:

Letzte Woche hörte ich auf dem Weg zu Lesungen in Bochum im Radio, zwischen Bochum Stahlhausen und Essen Soundso erstrecke sich ein 12 Kilometer langer Stau. Au! dachte ich und diese Unruhe, die mich immer befällt, wenn ich auf deutschen Autobahnen unterwegs bin, wuchs noch, denn mir war nicht klar, ob ich, um an mein Ziel zu gelangen, genanntes Stahlhausen würde passieren müssen. Ich verließ die A 43, fuhr auf der Bundesstraße 51 Richtung Bochum Zentrum, dort auf die A 40 und wusste sofort: Aha, Stahlhausen. Zum Glück stand der Verkehr nicht still, er bewegte sich im Laufschritt und da die nächste Abfahrt schnell in Sicht kam, beschloss ich, die A 40 in Bochum Hamme zu verlassen. Tat das, versuchte mich mit meinem mir angeborenen Orientierungssinn parallel zur Autobahn zu halten und gelangte in den Wendehammer einer Industriebrache. Wendete, fuhr wieder Richtung Autobahn und geriet in ein Wohnviertel.

An einer Straßenecke standen mehrere junge Frauen, Mütter, wie ich gleich feststellen sollte, Streckenposten zur Beaufsichtigung ihrer die Fahrradprüfung ablegenden Kinder. Kaum auf ihrer Höhe, langsam fahrend, nicht einmal die erlaubten 30, begannen dieses Frauen mit den Armen zu schwenken und mir mit überkippenden Stimmen zuzurufen, hier sei 30, was ich mir einbilde, Kinder führen hier Rad etc. pp.. Ich hatte anderes im Sinn als mich mit hysterischen Müttern anzulegen und fuhr weiter. Gelangte wieder in eine Sackgasse und hatte für Augenblicke Zweifel an meinem oben genannten, mir angeborenen Orientierungssinn. Ich wendete also und näherte mich erneut genannten Frauen. Wieder begann dieses hysterische Schreien, als wäre ich der Gottseibeiuns. Ich begann um mein Leben zu fürchten, denn die Frauen drohten mir.

Viel entspannter dagegen ein Polizist zwanzig Meter weiter. Der hatte offensichtlich nicht die geringsten Einwände gegen meine Fahrweise, antwortete jedoch auf meine Frage, wie und ob es möglich sein, parallel zur A 40 nach Höntrop zu gelangen, das sei schwer über die Dörfer, und auf meinen Einwand, auf der A 40 sei alles dicht, sagte er, das wäre aber immer noch einfacher als die von mir favorisierte Lösung. Ich hatte ein Einsehen, fuhr zurück zur A 40, und siehe, der Stau löste sich gerade auf und zehn Minuten darauf hatte ich die Realschule Höntrop erreicht. Las dort vor zwei Gruppen aus "Flanken, Fouls und fiese Tricks" und "Große Liebe Nr. 1".

Sollten Sie also je in die Nähe von Müttern kommen, die ihre Kinder bei Fahrradprüfungen beaufsichtigen, seien Sie gewappnet. Solche Frauen sind zu allem fähig.

14:17

Höchsten, dass da ein Staunen in ihrem Gesicht war, als sie vom Leben in den Tod überwechselte, ein Staunen, ja, aber keinerlei Zeichen von Angst. Seit sie fort ist und mit ihr die Sorge, hat mich die Trauer um sie schwer und schwerer gemacht. Schlafen will ich nun, in einem fort schlafen, und ich schlafe auch, tief wie seit Jahren nicht mehr, und ich werde so lange schlafen, bis wieder Kraft da ist, die mich trägt. Und dann nehme ich sie und verstreue sie und die Tante und den Vater, der seit Jahren auf meinem Klavier steht und wartet, und dann fängt das Leben da an, wo es immer anfängt, wenn etwas


Sa 19.04.03        10:13

Machen wir uns nichts vor: Die normative Autorität Amerikas liegt in Trümmern. Sagt Jürgen Habermas, ein Philosoph. Die Iraker wissen das auch. Sie sagen es in ihren Worten: Nein zu Amerika. Nein zu Saddam. Amerika aber hat schon seine Marionette einfliegen lassen, den Herrn Chalabi, der auf einer Pressekonferenz das sagen muss, was Donald Rumsfeld sich öffentlich nicht traut: Durch die Weigerung, Amerika bei seinem heldenhaften Kampf gegen das Böse beizustehen, haben sich Deutschland und Frankreich zu Handlangern Saddams gemacht.
Und damit das Böse auch in richtigem Licht strahlen kann, werden statt der UN-Kontrolleure jetzt eigene Kräfte ins Land gebracht, Militärexperten und Geheimdienstexperten, und dann wollen wir doch mal sehen, ob die diese verdammten Massenvernichtungswaffen nicht finden.
Ich nehme an, zur Not bringt man selbst ein paar mit.
Dass die normative Autorität Amerikas auch auf anderen Ebenen kräftigst beschädigt wurde und wird, mag der Sportsfreund ermessen, der erfahren muss, dass US-Sportverbände sich schon seit Jahren weigern, Daten des Dopings verdächtiger US-Sportler heraus zu geben.
Und so wünscht sich Herr M. von ganzem Herzen, dass dieses politische Amerika eine Demütigung erfährt, die schlimmer ausfällt als die in Vietnam.

17:52

Der Mensch bleibt ein Laie. (3)

 

So 20.04.03    16:39

Alle Einträge dieses Tages wurden gestrichen.

 

Mo 21.04.03      9:44

Wie seltam das Sich-Erinnern funktioniert oder auch nicht, zeigte sich gestern, als wir spazieren gingen. Wir sprachen über Wohnungen, die wir bewohnt haben, seit wir G. verließen, um auf eigenen Beinen zu stehen. Zu jeder Wohnung gab es Bilder. Ereignisse. Personen, die mit uns dort wohnten, Nachbarn, die sich uns eingeprägt hatten. Die Wohnung in N. am Stiftsplatz. Die Wohnung in der Marienthalstraße. Die in der Erphostraße. Und dann die in der .... Keine Meldung. Unser ältester Sohn war dort geboren, wir erinnerten uns an die Nachbarn, ich hätte hersagen können, wie die beiden Zimmer eingerichtet waren, nur der Name der Straße fiel uns nicht ein. Wir hatten unseren Spaziergang gerade begonnen und mussten fassungslos hinnehmen, dass in unseren Speichern ein verschlossenes Tor war. Wir versuchten zu assoziieren. Wir sagten die Straßen her, die in der Nachbarschaft lagen. Die Gartenstraße. Die Eckener Straße. Die Kanalstraße. Aber eben nicht die Straße, auf die es uns ankam. Vergessen wir es. Tun wir einfach so, als würden wir nicht händeringend nach ihrem Namen suchen. Aber so sehr wir auch zu vergessen suchten, draußen am Ortsrand, wo die ersten Osterfeuer gezündet wurden, Fackeln mit meterhoch züngelnden Flammen, bei unseren Pferden, die auf mein Schnauben von fern die Köpfe heben und dann heran stürmen, weil sie wissen, dass wir immer einen Apfel oder ein paar Zwiebäcke für sie mitgebracht haben, dieses nagende Versagen wollte nicht weggehen. Erst auf dem Heimweg, fünf Minuten vor Erreichen der sicheren Lösung durch Nachschauen im Stadtplan der gelben Seiten, fiel mir der Name ein. Maximilianstraße, sagte ich, und wir mussten lachen. Eine Dreiviertelstunde hatten wir diesen Ort in Gedanken eingekreist, ohne ihn stellen zu können. Eine Wohnung in dritten Stock. Sehr schön war es dort. Aufregend auch, denn wir kämpften um jede Position, die Männer und Frauen besetzen können oder auch nicht. Maximilianstraße. Jetzt darf sie wieder versinken. Darf dahin zurück, woher sie gekommen ist.

12:41

Sinnvolle Tätigkeiten? Nein, lieber nicht. Seit "Arbeit macht frei" meine Vorfahren ins Verderben führte, bin ich zurückhaltend mit sinnvollen Tätigkeiten. Lieber langweile ich mich zum Fenster hinaus.

 

Di 22.04.03   10:57

Wenn die Wirklichkeit durchbricht/
Werden/
Heere hündischer Führer, Aufpasser und all die großen Sachverständigen/
Mit ihrem schneckenartigen Geschnüffel weggewischt. (4)

 

Mi 23.04.03 7:54

Hier also: zweieinhalb Stunden vor meiner Lesung, hier also sitze ich voller Gedanken an sie. Wie im Leben ist ihre Schwester auch im Tod hinter ihr verschwunden, spielt als zu Betrauernde nur eine untergeordnete Rolle, ist auch noch da, eine, die zehn Tage vorher starb und doch schon viel weiter fort ist als ihre ältere Schwester: meine Mutter.
Hier also sitze ich. Tiefen Schlaf hat mir der Tod gebracht. Nahezu sorglos erwache ich. Denke an Sie. An die Eine und an die Andere. Noch längst nicht erledigt hat sich das Leben der beiden, so lange ich bin, sind sie auch, aber eben: hierarchisch gestaffelt. Das Leben: der Tod: alles eins.
Zum Welttag des Buches lese ich gleich aus der "Sackgasse 13". Es ist ein wenig verhangen heute, das kommt mir entgegen. Bei strahlendem Sonnenschein wäre es nicht ganz leicht, Kinder schon um 10:30 das Gruseln zu lehren.
Ein seltsames Haus war das, das Haus in der Bismarckstraße 22... Meine Straße. Meine Leute. Fort jetzt. Ihre Hüllen sind Asche. Ich bin der Nächste.

13:40

Natürlich nicht heute. Vielleicht aber morgen. Oder in dreißig Jahren. Der Tod lehrt, den Augenblick zu leben.

In der ersten Reihe in der Leseoase der Stadtbücherei Emsdetten saß so ein kleiner blonder Westfale mit Pustebacken und aufgeworfenen Lippen, ein Lieber, aber bestimmt nicht der Klügste. Saß da und hörte aufmerksam zu, und als die Stelle kam, in der darüber gesprochen wird, ob das Wiesel, das im Verdacht steht, das Kaninchen gebissen zu haben, ein kluges oder ein doofes Wiesel sein müsse und der Vater die rhetorische Frage stellt, und dieses Wiesel war .... schaute ich fragend erst in die Runde und dann auf ihn: Klug! antwortete er im Brustton der Überzeugung. Die erwartete Antwort jedoch war Doof und in der Regel höre ich auch nichts anderes. Hmmm, macht ich und las die betreffende Stelle noch einmal, aber er wollte sich nicht wiederholen. Er wollte gar nichts mehr sagen.

Und so las ich gegen die Trauer des Morgens, die Trauer für die Eine, in die ich die Andere einschließe, die Trauer, die mich selbst betrauert. Ich bin gespannt, wie sie auf- und abschwillt und mich umkreist, wie sie darauf wartet, meine schwachen Momente zu kosten, denn Trauer ist Trost und köstlich sind Tränen, sie lösen die dicken Knoten und hinterlassen mich leer und bereit, wieder anzufangen. Da anzufangen, wo ich die Falte des leichten Erstaunens in ihrem Gesicht mit meinen Fingern glättete, ihr über die Stirn strich und fasziniert sah, wie das Leben in meiner Mutter endete. Ich bin glücklich, dass ich bei ihr war. Ich rate jedem Sohn und jeder Tochter, nicht von der Seite der Eltern zu weichen, wenn diese ihre letzte Stunde durchleben. Es tut den Sterbenden wohl. Den Lebenden gibt es Kraft und Einsicht.

Der Hochnebel hat sich gelichtet. Die Lesung ist Vergangenheit. Zukunft ist jetzt. Noch immer ohne die leiseste Ahnung, wie es nun weitergeht mit dem Dichter M., aber das kennt er ja aus langen Jahren: es geht immer weiter. Er ist aufgehoben. Aufgehoben in der Gegenwart, der einzige Ort, an dem sich Vergangenheit und Zukunft treffen. Aloha!!!

20:44

Der Abend zieht auf, wir wollen Rückschau halten. Als Plattform des politisch korrekt handelnden Bürgers liegt es uns am Herzen, darauf hinzuweisen, dass es nicht nur in Amerika Idioten gibt. Auch hierzulande sind sie verbreitet, aber die Idiotenfanfare, die Bush und seine Hintermännern anstimmten, hat nun spanische Tüftler inspiriert, folgenden Gesetzentwurf "anzudenken". Wer "in einem bewaffneten Konflikt internationalen Ausmaßes, an dem sich Spanien beteiligt, öffentlich Handlungen vornimmt, um diese Beteiligung in Mißkredit zu bringen", heißt es dort, "kann mit bis zu sechs Jahren Gefängnis bestraft werden."
Das ist fair. Dagegen kann man nichts sagen.

Und noch etwas für Sie (ja, für Sie) zum Welttag des Buches:
Lesen macht dumm.
Wer zu viel liest, verblödet.

 

Do 24.04.03 13:19

Es war im Vorüberfahren. Links sah ich ein Mehrfamilienhaus mit einem Balkon. Diese Art Balkone, die auf voller Länge des Hauses entlang laufen und von denen man in die einzelnen Wohnungen gelangt. Hinter einem der Fenster dann dieses Gesicht: weiblich, bleich, alt, mit der Nase fast an der Scheibe, Brille, sehr stark. Mehr Informationen waren in der Eile nicht zu sammeln, aber die Geschichte dahinter brauchte nicht mehr. Einsamkeit. Verwirrung, Misstrauen. Armut. Dann war ich schon weiter, wieder konzentriert auf den Verkehr achtend, mit dem Vorsatz, auf dem Rückweg noch einmal hinzuschauen, was ich aber vergaß. Das war vor der Lesung. Gestern. An diesem Mittwoch, der so lange Jahre mein Muttertag war. Und der nun wieder zurück in meinen alleinigen Besitz übergegangen ist.

17:08

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Haben sich einen Hof gemietet in Tinge, Sandstein, mit Land, Stall, alles noch in guter Verfassung, haben sich ihre Bärte abgeschnitten, sich der Zeit gemäß gekleidet, haben falsche Zähne, Toupets und Brillen, und einer trägt sogar ein Tattoo, leben auf diesem Hof, nennen sich untereinander zwar immer noch gern bei ihren wirklichen Namen, aber wenn sie dann von Tinge nach Schöppingen fahren, zum Lidl oder zum Aldi, achten sie darauf, dass niemand Zwerg Nase zu Zwerg Nase sagt, höchstens, dass einem einmal "Nase" rausrutscht, und natürlich achtet auch jeder darauf, dass Schneewittchen nicht wieder, wie sie das so gern tut, von den Zwergen zu erzählen beginnt. Nachher, auf der Rückfahrt, darf sie das Auto fahren, dann darf sie erzählen so viel sie will, dann ist man ja wieder unter sich, schließlich ist es nicht einfach in Tinge, die Einheimischen haben sowieso schon ein Auge auf sie geworfen, sie müssen also vorsichtig sein. Aber sie sind nicht gestorben, und der ein oder andere denkt schon über ein Come Back nach.

 

Fr 25.04.03 9:41

Liebes Unwohlsein,
denk nur, die Nachbarn bauen sich eine hölzerne Überdachung für ihre Veranda. Sie sägen und schleifen und tackern seit Tagen. Ihr Wohnzimmerfenster liegt schon in tiefem Schatten. Sie sargen sich ein.
Meckeroma, die damals aus Breslau floh und lange glaubte, unsere Kinder seien die, die sie täglich ärgerten, dann aber einsehen musste, dass es gar nicht unsere waren, Meckeroma, die direkt neben den Nachbarn wohnt, die sich eingesargt haben, um schon mal auszuprobieren, wie man sich fühlt, wenn es selbst an einem herrlichen Frühling nur noch dämmrig wird, Meckeroma sitzt jetzt immer auf der Bank der Bushaltestelle, und wenn ich vorbei komme, frage ich jedes Mal, ob der Bus nach Breslau noch käme. Dann lacht sie.
Und denk nur, alle grüßen mich jetzt, seit sie mich im Fernsehen gesehen haben. Und weißt du was, alle denken, ich müsste doch mehr Geld haben, als ich nach außen dringen lasse. Insgeheim glauben sie, dass Schreiber, die sechs Romane veröffentlicht haben, gar nicht mehr arm sein können.
Liebes Unwohlsein, ich bin ja so froh, dass ich dir schreiben darf.

Wem sollte ich sonst sagen, dass mein Plan reif ist. Überall habe ich heimlich Bohrlöcher angebracht. Seit Jahren schon habe ich Silversterraketen gehortet, nun endlich werde ich die Bohrlöcher damit stopfen und dieses Viertel in die Luft jagen.
Ich sehe es schon vor mir.

Wie zuerst die fetten kleinen Hunde mit verwundert aufgerissenen Augen empor geschleudert werden; wie Herrchen und Frauchen besorgt bis zum letzten gleich hinterdrein fliegen; die armen Kinder, die nun nicht mehr in die vorschulischen Tanz- Musik- pädagogischen Gruppen zur allgemeinen Verwirrung ihrer selbst und ihrer Eltern müssen, die Mütter, die ewig an Ecken stehenden, mit anderen jungen Frauen palavernden Mütter. All diese nutzlosen Alltagsverwirrungen werden mit einem Mal ausgelöscht und danach wird aller Voraussicht für einige Zeit tiefe Ruhe herrschen.

Nun wirst du mir vorwerfen, ich spräche der reinigenden Kraft der Apokalypse das Wort, aber dem ist nicht so. Die Apokalypse, liebes Unwohlsein, hat ja längst alles verschlungen und alles miteinander aufs Unentwirrbarste verwirrt, so dass all meine Hoffnungen sich auf einen Neubeginn richten. Darauf, dass wir vielleicht lernen, das Leben zu ertragen wie es ist, statt ihm täglich mit neuen Aktivitäten den Saft abzugraben.
Liebes Unwohlsein, alles könnte so schön sein hier.

Oder glaubst du, dass es nur mir so geht, wie es mir geht? Dass all die anderen es witzig finden, wenn sie von früh bis spät rackern für nichts und wieder nichts, dass sie sich sorgen um ihre läppischen Fonds, ihre Renten und was sonst sie für Sicherheit halten? Glaubst du? Meinst du, ich sollte mich statt der Nachbarn einsargen? -
Nein, das will ich nicht! Ich liebe das Leben, liebes Unwohlsein, weißt du. Ich bin geradezu versessen auf jeden Atemzug.
Also werde ich jetzt erst einmal sprengen...

21:50

Liebes Unwohlsein,
hast du gesehen, wie er kackendreist behauptete, nun habe man das Böse endlich entmachtet und es könne Amerika nicht mehr mit Massenvernichtungswaffen bedrohen. Mit welchen? hätte ich gern gefragt, und dann auch: wohl mit Raketen, die hunderfünfzig Kilometer weit fliegen, wie, du Lügner?
Wie du siehst, alles Sprengen hat nicht geholfen.
Mein Zustand hat sich nicht gebessert.
Und dann kommt auch diese tiefe Trauer hinzu.
Heute vor vierzehn Tagen um diese Zeit ist sie gestorben. Ich denke an sie, alle Zeit. Ich flüchte mich in Schlaf, wann immer es geht.

 

Sa 26.04.03 10:27

Nun nageln sie Dachlatten. Wahrscheinlich werden sie ihren Sargdeckel mit oberbayerischen Schindeln decken. Das Hämmern hallt durch die Nachbarschaft. Da sie zu zweit arbeiten und nicht synchron hämmern, ergeben sich merkwürdige Hall- und Echoeffekte. Die zu behämmernde, überhängende Fläche hat eine Größe von ca. drei mal fünf Metern, man kann sich also vorstellen, dass das eine schöne Resonanzfläche abgibt. Möchte gern vulgär werden, "hämmert doch auch am Sonntag, ihre Wichsärsche" rufen, halte mich aber zurück und denke, Hermann, diese Menschen verbringen ihre Freizeit mit Sinnvollem, ganz im Gegensatz zu dir, der du nur sitzt und die Tage verstreichen lässt und alles auf deine verstorbene Mutter schiebst. "Ihr Bratärsche!" "Ihr gottverfluchten Fickfressen! (Lieblingsvulgarität, die mir auch beim Autofahren ständig über die Lippen kommt). "Ihr Schweinepriester!" "Leckt mich doch alle am Arsch, ihr Idioten!" Leider fallen mir im Augenblick keine weiteren schlimmen Ausdrücke ein, sollten Sie jedoch kraftvolle kennen, wäre ich dankbar, wenn Sie sie mir mailten. kontakt

 

So 27.04.03 11:22

Woher die Schatten kamen, diese Schemen im äußersten Blickwinkel, drei- viermal gestern, in der Tür, im Flur, im Wohnzimmer und dann vorm Fenster im Garten, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass mein Herz danach schneller schlug und ganz langsam die Ahnung aufstieg, dass sie in der Nähe sein könnte. Dann, tief in der Nacht - und da bin ich wieder bei meinen Lieblingsfreunden, den großartigen Amerikanern, die mit ihrer Hollywood Propaganda selbst tiefe Träume besetzen und die Wahrnehmungsfähigkeit der Menschen zumüllen-, vereinten sich diese Schemen mit banalem Horror aus gerade genanntem Ort und führten zu halbwachem Schreien, ohnmächtigem Herumwerfen, um die nicht nennbaren Bilder abschütteln zu können. So also ist das Leben danach, so nah kommt sie mir, und nun endlich beginne ich zu ahnen, was sie bedeutet hat und immer bedeuten wird.

14:15

En schoon is het op de aarde te zijn als de zon schijnt voor groot en klein, dan zingen wij Hoera, alhoewel, nog steeds en zelfs steeds meer, de eenzaamheid en de armoede en de wanhoop van de moderne mens vele namen dragen, die van mij Pafke uitputting, die van Harold razernij, die van Peder Pedersen verdriet, die van de rotte hond ten slotte wie zal het ooit zeggen, misschien gewoon het woord alleen op zichzelf: eenzaamheid, niets of niemand te hebben, geen geld voor smak, geen bekommernis om z'n lot, het dolen en dwalen langs de straten van Harmonie, binnenkort de ene of de andere Grauwzone, ten slotte het Reservaat, waar we sowieso me z'n allen heen zullen gaan. (5)

Dies war Niederländisch.

 

Mo 28.04.03     9:04

Stand der Dinge: 8141 Besucher.

11:07

Es scheint, der erste Berg ist überwunden. Es werden noch viele kommen, aber die schrecken mich nicht. Ab heute geht es weiter. Ich weiß auch schon wie.

20:33

Und Sie, Sie, Sie und Sie, glauben Sie nicht, Sie kämen so einfach davon.
Es gibt Recht. Jeder Mensch spürt das. Jeder spürt, wer dagegen verstößt und wer nicht.
Auch wenn Siegesfahnen flattern.
Das Recht kriegt sie. Früher oder später.

 

Di 29.04.03   9:53

Zum Wohle, liebes Unwohlsein,
der Tag wäre lang genug, um sich schon jetzt von ihm zu verabschieden, aber das ist nicht unser Stil. Stattdessen sagen wir kurz, was ist und gehen dann an die Arbeit.

Ist-Zustand:
alles, was zu verkaufen war, ist verkauft. Bis auf drei Arbeiten sind alle verkauften Arbeiten der Öffentlichkeit zugänglich, sprich: erschienen. Die zugänglichen Arbeiten sind durchgängig gut bis sehr gut besprochen.
Dennoch ist bisher niemand auf die Idee gekommen, mir die Ehrendoktorwürde, ein gesichertes Einkommen, eine sonstige Pfründe etc. pp. anzubieten.
Ergo schließe ich, dass man mich nur dann uneingeschränkt lieben wird, wenn die aus mir erpressbaren Einkünfte ein gewisse Höhe überschreiten.
Daher bete ich nun jeden Abend, es möge mir gehen wie Frau Harry Potter. Ich könnte dann den englischen Hof kaufen und Elisabeth würde alt aussehen . Ich könnte mit Valuta um mich werfen oder mich still verhalten. Ich könnte mit Fingern auf Verlage und Lektoren zeigen und ihnen nachweisen, was ich auch jetzt schon weiß, aber nicht laut sage.
So also steht es mit M.
Während der ersehnte Regen niedergeht, macht er sich auf den Weg, den ersten Verlust im Leben eines Menschen, den Verlust seiner Milchzähne, in eine atemberaubende, siebenteilige Radio-Erzählung zu verwandeln.
Falls einer meiner täglichen Leser mir seine Erinnerung an diesen tiefgreifenden Schritt ins Leben mitteilen möchte, bitte sehr, niemand hindert ihn. Ich würde mich sogar freuen.
Im Übrigen verbleibe ich mit freundlichem Gruß.

13:26

Auch ein Hörspiel über Milchzähne liegt im Bereich des Möglichen. Augenblicklich scheint es sogar näher als die Erzählung. Aber warten wir ab. Warten wir, was die Verteiler öffentlich rechtlicher Gelder und Weichensteller öffentlich rechtlichen Kulturgeschehens davon halten. Sagen Sie, oh, das ist interessant, wird es interessant für den kleinen M., der nichts weiter hat, als sich anzubieten. Sagen Sie, na, das hatten wir schon, kann er einpacken. Finden Sie, dass M. beim letzten Kontakt ein zu großes Maul hatte (hatte er, hat er immer), braucht er gar nicht erst auszupacken, um danach wieder einzupacken. So oder so ist das Leben, so oder so ist die Welt, sang Herwig Mitteregger, den kaum noch jemand kennt, der aber eine ganze Weile ein populärer Sänger und Schlagzeuger war und wahrscheinlich immer noch Schlagzeuger ist. Spielte in der Nina Hagen Band damals. Wie kam ich drauf? Ach ja, wegen des Zitats. Zitat Ende also und Aufruf an die Radiomacher der Republik: M. brütet etwas aus, seid Geburtshelfer, ihr Menschen mit sicherer Rente und monatlichem Einkommen. Ihr Besserwisser!

14:43

Aus dem Netz gefischt: Christoph Lauber braucht für gute Bratkartoffeln.....

2 Raummeter frisch geschlagenes Buchenholz
12 Pfund Kartoffeln aus frischer Ernte, "festkochend" (idealerweise in einheitlichem Format, vorzugsweise in mittlerer bis kleiner Größe)
50 + 30 + 30 Liter gekühltes Faßbier
1400 Gramm Rettichsalat
1000 Gramm Zwiebelsalat
1200 Gramm Heringssalat
1 Faß Salz
4 Stück Butter à 250 Gramm
6 Pfund Lewwerworscht
1 Blase Lewwerworscht (für den Bratmeister)
12 Mettwörschtcher geräuchert (Knowelincher)
12 Mettwörschtcher ungeräuchert
24 Hackbraten gemäß Biedenkopfer Metzger-Standard
2 Liter Kümmel (32 Vol. %)

Die Erfahrung zeigt die Notwendigkeit des Hinweises, daß z. B.
- Ketchup
- Kartoffelsalat
- Tomatensalat
- Obstsalat
ausdrücklich nicht als Zutaten gelten.

Gerätschaften
1 "Stihl" Motorkettensäge (sowie die dafür erforderlichen Betriebsstoffe)
1 Spaltaxt
2 - 3 Spaltkeile, geschmiedet
1 Steingabel (wie sie im Straßenbau verwendet wird)
1 Schippe mit "Mannheimer Blatt"
1 Satz Altpapier (z. B. "Hinterländer Anzeiger")
1 Packung Zündhölzer oder 1 Feuerzeug

 

Mi 30.04.03     10:12

Lieber Zähne im Unterkiefer,
ihr hattet eure Chance. Ich habe euch mit feinsten Essenzen gereinigt, ich habe eure Umgebung mit Ratinha Mundwasser gespült und euch jeden Wunsch vom Schmelz abgelesen, aber ihr habt es mir nicht gedankt. Ihr seid wankelmütig geworden über die Jahre, ihr seid das Gegenteil von mir, daher müsst ihr jetzt gehen. Ich habe - seit es Norm geworden ist, ein Ereignis, das eines Tages eintreten könnte (aber nicht muss), schon weit im Vorfeld prophylaktisch zu bekämpfen - beschlossen, euch den Garaus zu machen. Entsprechendes Werkzeug ist sterilisiert, eure im Exil lebenden Nachfolger sind aufgerufen, sich für ihren prothetischen Einsatz bereit zu machen, es wird ein wenig Blut fließen wie immer bei solchen Einsätzen, aber nachher wird nur ein vollständiger Sieg über euch akzeptiert werden können. Nur Siege zählen, das hat die Geschichte immer wieder bewiesen.

So wird es auch dieses Mal kommen.
Ihr wackligen Kandidaten habt lange genug gewackelt, habt euch verbissen an harten Brotkrusten oder saftigen Äpfeln, habt Schmerzen verursacht und mich alt aussehen lassen. Das ist nun vorbei.
Wird werden eure Festungen mit nadelspitzen Injektionen sturmreif spritzen und euch ausreißen. Die Ordnung, die wir dann implantieren, wird die Ordnung der freien Welt sein, die Ordnung der von langer Hand manipulierten Prothese.
Ein wenig trauern wir um euch, hatten wir uns doch gewünscht, immer beisammen bleiben zu können, aber ihr wolltet es ja nicht anders.
Darum Adieu!!

15:53

Liebe Fans,
im Hinblick auf euer massenhaftes Erscheinen in der nächsten Woche (sechs Lesungen in Bochum, eine in Bielefeld) habe ich sechshundert Autogrammkarten signiert. Ich hoffe, dass zumindest jeder zweite ein Buch von mir kauft.
Falls nicht, nehme ich euch die Autogrammkarten wieder weg.
Was neuen Lese- bzw. Hörstoff von M. angeht, gibt es jetzt Namen für die Helden eines neuen Ohrenbären. Sie heißen Tilli und Geige. Ich weiß zwar noch nicht, was sie im Zusammenhang mit den schon genannten Milchzähnen erleben, aber es wird mir schon einfallen. Nicht umsonst nennt man mich Dr. Ohrenbär.

19:05

Lieber April,
du hast gemacht, was du wolltest. Insofern war alles im Lot. Am Schönsten aber war wohl der große Sieg, den du unseren Förderern und Freunden geschenkt hast. Dass auch der Tod in diesem Monat getan hat, was er wollte, fällt dann kaum noch ins Gewicht. So ist das nun einmal. Es wird gelebt und gestorben. Für den Mai wünsche ich mir jedoch eine etwas ruhigere Gangart.

 

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1. Kurt Vonnegut jr. "Slaughterhouse Five" New York 1969 // 2. u. 3. Max Frisch "Der Mensch erscheint
im Holozän" Frankfurt 1981 // 4. Lucebert (1924-1994) aus dem Gedicht: "Was das Auge malt" //
5. J.M.H. Berckmans "Bericht uit klein Konstantinopel" Amsterdam/Antwerpen 1996 //

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