August 2022                     www.hermann-mensing.de      

mensing literatur 

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zum letzten eintrag

Di 2.08.22 22:55

Zwischen den toten Gleisen der Bahnhöfe im Pott wuchern Sommerflieder und Birken. Wir sitzen mit dem 9 Euro Ticket im ersten Stock erste Klasse des RE2 nach Duisburg. Wir sind allein. Die Klimaanlage funktioniert. Unten stehen und sitzen Menschen in Gängen und Ecken. Wenn sie uns erwischen, werden wir sagen, dass man da unten nicht sein kann, dass es eine Zumutung sei, Menschen, die Geld bezahlt haben, so zu transportieren, aber niemand kommt, niemand will uns erwischen. Als wir am Abend zurückfahren, ist der Zug nur halb so voll, ein Schaffner steht in der Tür, wir gehen nicht nach oben, unten ist genug Platz, aber kaum ist der Zug angefahren, sagt der Zugführer, er gebe die erste Klasse frei, die Menschen sollten die Gänge freimachen, das seien Fluchtwege. Wir waren mit Google unterwegs, mit diesem kleinen Punkt, der uns auf der errechneten Route folgte und dem wir folgten, er machte nicht einen Fehler. Unter den Platanen des Museumscafés tranken wir Cappuccino, rauchten und gingen ins Lehmbruck Museum. Ein flacher, übers Eck konstruierter Bau mit weiten Räumen und großen Fenstern. Kunst von Meistern aus aller Welt. Großartige Kunst, Lüpertz, Dali, Max Ernst, Giacometti, Chiricio, Lehmbruck selbst und wer weiß sonst noch. Dann mit Google hinunter zum Innenhafen, weil dort noch ein Museum ist, die Küppersmühle, aber wir wussten schon, dass ein Museum am Tag genug für uns war, wir gingen nur, um die Stadt zu erkunden. Unterwegs aßen wir Veganes, während uns Wespen umschwirrten. Auf den Straßen waren Menschen aus vielen Ländern. Erfolgreiche und Geschlagene, viele Geschlagene. Es war warm, aber der Wind, der den ganzen Tag wehte, rettete uns. Zuhause wollten wir in der Guten Quelle noch ein Bier trinken, doch die Terrasse war voll, es war wie im Zug, nur dass es keine erste Klasse gab. Also gingen wir heim.


Do 4.08.22 15:55 zum Sterben warm

Kurz im Freibad Havixbeck. Ansonsten keine Bewegung. Gestern Pflaumen gepflückt.


Sa 6.08.22 15:10 warm

Schlechter Schlaf. Desaströse Träume, die in Bilder nachklingen, die weder gemalt oder erzählt werden können. Sie hängen seit vorgestern überall.

21:55

Kleiderschrank entrümpelt, T-Shirts gebügelt, abends Pflaumenpfannkuchen. Boven is het still von Gerbrand Bakker zuende gelesen.

Sa. 22:55 -

So. 7.08.22 - 16:15 - 17:05 - 17:25 - 18:48 - 21:55 - 22:40

ein leben
lauschte er dem klang
er schlug in seiner brust
ein freund
auf den er baut
doch liebe kennt er nur
als wildes unberechenbares tier
dem er - mutlos -
nicht traut
als mann weiß er noch immer nicht
worum es geht
um es herauszufinden
trotzt er seinem untergang
läg dieses tier in seinem schoß
wäre ihm halb so bang


22:05

Kleine Radtour durch den Brook zur Burg Hülshoff, auf der Liegewiese unter einer Platane geruht, gelesen, Kräuter geraucht, geredet, nach Hause zurückgekehrt, unterwegs am Wegrand flockenstielige Hexen Röhrlinge gefunden, zum Abend Gänsebrust mit einer hervorragende Sauce, Kartoffeln und Gurkensalat. Sie kocht, ich mache dich Küche sauber. Das ist der Deal. Das ist die Liebe.


Mo 8.98.22 20:35 Sommer

ein leben
lauschte er
dem freund in seiner brust
die liebe kennt er nur
als wildes unberechenbares tier
er weiß noch immer nicht
worum es geht
und trotzt dem untergang
läg dieses tier in seinem schoß
wäre ihm halb so bang

20:45

#9Euro-Ticket heute früh nach Leer, Ostfriesland, einen Matjes gegessen, ein E-Bike gemietet und unterm Deich emsabwärts nach Ditzum gefahren, wo ich vor über zwanzig Jahren schon einmal mit meinem jüngeren Sohn war. Ein Dorf geduckt hinterm Deich, mit achteckigem Kirchturm, offenen Aufsatz aus Holz, rundum laufender Brüstung, Pfeilern, weiß, auf denen eine kupferne Kuppel mit Spitze, goldener Kugel und Wetterhahn ruht, mit einer Windmühle, einer kleinen Gracht, mit Cafes und einem Fischereihafen, von dem eine Fähre nach Petkum übersetzt. Die Fähre ist klein, die Schlange der wartenden Räder lang, aber der Kapitän sagt, dat moggt we. Kaum eine Viertelstunde geht es quer über die Ems, die sich hier schon in den Dollart weitet, es ist ablaufendes Wasser, ein Schilfgürtel liegt trocken, im Modder neben dem Anleger liegt ein versunkenes kleines Schiff auf der Seite, dahinter der Deich bei Petkum. Das Fahren mit dem E-Bike hat Spaß gemacht. Irgendwann werde ich mir eines kaufen. Das Schönste heute aber waren etwa zwanzig Schafe, die auf dem Radweg hinterm Deich im Kreis standen. Alle hatten die Köpfe gesenkt, es waren nur Leiber zu sehen, kein Laut war zu hören, und es gab nicht die geringste Bereitschaft, Radfahrern Platz zu machen. So eine innig wirkende Versammlung hab ich noch nie gesehen, und ich wüsste gern, was das zu bedeuten hat.


Di 9.08.22 10:11 Sommer

10. version

ein leben
lauschte er
dem freund in seiner brust
die gute haut
doch liebe kennt er nur
als wildes tier
dem er mißtraut
er weiß noch immer nicht
worum es geht
er trotzt dem untergang
läg dieses tier in seinem schoß
wäre ihm halb so bang

10:15

Ein Schäfer hat mir erklärt, dass sich Schafe bei großer Hitze und fehlendem Schatten im Kreis aufstellen, um Kühlung zu finden. Sie wechseln die Positionen, aber wenn Böcke dabei sind, stehen sie immer außen, ich nehme an, dass das etwas mit Schutz zu tun hat.




Mi 10.08 22 10:12 Sommer

11. Version

ein leben
lauschte er
dem freund in seiner brust
die gute haut
doch liebe kennt er nur
als wildes tier
dem er mißtraut
er weiß noch immer nicht
worum es geht
und trotzt dem untergang
dennoch - läg dieses tier in seinem schoß
wäre ihm halb so bang


Do 11.08.22 22:55 Sommer

als mich vor einer viertelstunde
am albersloher weg die rote ampel bremste
warst du gerade erst erschienen
als grün kam
folgtest du mir übern ring
und als ich das garagentor aufschob
sagtest du guten abend hermann
gut getanzt
oh ja trabant sagt' ich
ich hatte heut die beste tänzerin
die dänin
die mit beiden füßen auf der erde
mehr mumm hatte
als alle hüpfer ohne eier
als alle hochgezickten tu-als-obber
das studentenvolk
dass tanzen an der uni lernt
oh gott sagt der trabant die kenne ich
ich scheine nicht für die
ich scheine nur für dich
denn wir sind brüder
wir gehen auf und ab
und sind auf uns'rer bahn gefangen
wenn alles sich in wohlgefallen aufgelöst
und neu formiert auf einen bess'ren anfang hofft
sind wir längst da
denn wir sind ewig
danke trabant sagt ich
du bist ein freund
von denen ich nicht viele habe
du bist garant für jede stille träne
für jedes lob das ich mir selbst verweigere
heirate mich
ich sagte sofort ja
nimm mich mit haut und haar
wir sind doch älter als die welt
wir kommen von weit her
und niemand weiß was wir gesehen haben
wie wär es luna
komm sag ja
das wäre - endreim - wunderbar


Sa 13.08.22 13:45 Sommer

Immer hat man sich Sommer gewünscht, jetzt haben wir ihn, aber alle trüben ihn mit dem Klimawandel. Ein rotglühendes Gespenst, das uns vom Untergang erzählt, dabei sind meine Kindheitssommer genau solche Sommer. Bestimmt betrügen mich meine Erinnerungen. Sommer ist Sehnsucht. Für Sommer wie diesen bin ich tausende Kilometer in mit fünf Personen plus Gepäck und Gitarren beladenem Käfer gen Süden gefahren, geflogen, mit Zügen unterwegs gewesen. Jetzt muss ich nirgendwohin fahren, im Gegenteil, dieser Sommer zwingt mich zur Reduktion aller Bewegungen. Falls ich überhaupt vor die Tür gehe, sind Laufwege neu zu bedenken, Schlagschatten, Baumschatten, immer an der Wand lang, schnell durch die Glut auf die andere Seite zum klimatisierten Supermarkt, denn ich am liebsten nie mehr verließe. Erst abends kann ich genießen. Freizügig entkleidet sitze ich bis tief in die Nacht auf dem Balkon. Gestern stieß ich auf Arte auf das Flow Festival Helsinki, live: zuerst die Gorillaz, eine swingende Band, der zuzuhören und zuzusehen eine Freude war, und danach - Skepsis - jemand, der Burna Boy heißt. Ich hatte nie von ihm gehört, aber schon nach den ersten zwei Stücken war ich begeistert von diesem Mix auf Afrobeats, Hip-Hop und Reggae, ganz besonders von der wunderbaren, gar nicht stereotypen Rhythmik der Band und ihrer Spielfreude. Das Publikum - Finnen, wohlgemerkt - kannte die Texte, von denen ich nie recht wusste, ob es sich um Englisch oder um Nigerianisch handelte. Man sang, man tanzte, ohne die übliche Animation bei solchen Großereignissen. Jetzt sind alle Jalousien herabgelassen, die Temperaturen in unserer Wohnung sind erträglich, wenn nur der Kopf nicht so träge wäre. Die Hirnlappen scheinen verschmolzen. Die Sehnsucht der Zukunft hat sich in den Norden verlagert, sie liegt am Baltischen Meer, sie kreist um den Polarkreis, wer jetzt bucht, kann sparen. Und heute abend werde ich am Kanal Tango tanzen. Das Leben ist eine Freude. Der Klimawandel eine Last. Das Problem ist ein Problem und ich allein kann es nicht lösen. Aber wir können es. Und ich bin dabei.


Mo 15.08.22 11:56 eingetrübt

Eigentlich wäre jetzt die Zeit, dass sich das Comco Ikarus Leichtflugzeug meines alten Gronauer Freundes W. sich über das Watt der Insel Norderney näherte. Ich hätte sie von Münster Telgte bis hierher gesteuert, natürlich unter W.'s Aufsicht, der seit über 30 Jahren Fluglehrer ist. Wir sehr hatte ich mich auf dieses Abenteuer gefreut, denn das Fliegen mit so einem kleinen Flugzeug ist unvergleichlich schöner als eine Flugreise im Großraumjet, aber leider ist nichts draus geworden. W. musste den Flug verschieben. Er wird mich benachrichtigen. Ob das heute, morgen oder erst im nächsten Jahr ist, weiß ich nicht, aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben.


Di 16.08.22 20:22 Sommer

Der Sommer (#Klimawandel)
hat mir die Unterarme angesengt,
das Hirn verbleit
und jeden denkbaren Impuls
in Unlust abgelenkt,
ich habe ihm den Mittelfinger ausgestreckt,
im Freibad 1000 Meter Brust geleckt,
und bin nun, da der Abend naht,
nach einem Gin bereit für keine weit're Tat.


Mi 17.08.22 Sommer schwül

Briefe an Annette von Droste Hülshoff 45

Liebe Annette,

seit ich "Der Dichter" vertont habe, geht es mir nicht gut. Dein Text verfolgt mich, weil es mein Text ist. Ich habe es immer geahnt, nein, geahnt ist zu schwach, ich habe es gewusst, die ganze Zeit wusste ich, dass es besser wäre, die Finger vom Dichten zu lassen, es führt zu nichts, und wenn es zu etwas führt, ist es nicht das, was man wollte, falls man überhaupt irgendetwas wollen kann.

Ich glaube nicht an deinen katholischen Gott, ich glaube an überhaupt keinen Gott, aber (und das ist das irre an der Geschichte) ohne ihn kann ich nicht einen Schritt tun. Könntest du, adliges Fräullein, mir nicht mal einen Brief schreiben, in dem steht, dass du die Dornes Spalten doch irgendwie weggesteckt hast mit deinen Schwärmereien für Levin, der in Meersburg doch nur einen Job gekriegt hast, weil du deine Mutter belogen und gute Verbindungen hattest. Er hat dich inspiriert, okay, eine Muse ist unbezahlbar, aber Musen sind flatterhaft, und schließlich hat er ja nicht dich, sondern eine andere geheiratet.

Ich hocke hier, und frage mich, ob diese verflixte Dichterei nicht nur ein Vorwand ist, dem "real life", so nennen wir das, den ausgestreckten Mittelfinger zu zeigen, eine obszöne Geste der Gegenwart, tiefe Verachtung, inflationär von jedem und zu jeder Zeit gebraucht. Hattet ihr Biedermeier Gesten, den anderen (oder so gut wie allen) zu zeigen, dass ein Geisteskrösus nichts anderes ist und je war, als ein Mensch, der sich an einen Strohhalm klammert, und will, das man ihn endlich in Ruhe lässt.

Das Glück, Droste, ist immer das Glück der anderen, und wenn es dich erreicht, erschreckst du derart, dass du dein Ende siehst. Liebe Droste, ich wüsste gern, wo ein neuer Anfang ist. Ich rette mich über die Woche, indem ich darauf warte, Gästen im Rüschhaus von dir zu erzählen. There's no business like showbusiness, und es wird auch noch schlecht bezahlt. Ich erzähle ihnen von jemand, den ich nur von einigen seiner Texte kenne, also überhaupt nicht. Und du, der ich diese Briefe schreibe, diese Fiktionen, kannst mir natürlich nicht anworten, denn du bist seit über zwei Jahrhunderten tot.

Glück ist posthum. Wie wäre es damit? Glück ist den Lebenden nicht hold, man kann es nicht kaufen, man sollte seinen Namen nicht einmal aussprechen, dann wird schon mal überhaupt nichts damit. Übermorgen also, Freitag ist showtime im Rüschhaus, da verlasse ich mich wieder darauf, dass die Geschichten aus mir herausfließen, als würde ich kotzen. Ich weiß nicht mehr ein noch aus, Droste, und bin wieder da, wo ich angefangen habe. Ich schau euch zu, wie ihr beim frohen Mahle lacht und eure Blumen zieht in Scherben.
Verdammt, Annette, ich will, dass das aufhört, aber es hört nicht auf, denn einmal Dichten heißt immer dichten. Ich hätte es machen sollen, wie das Blumenmädchen, das ich mit 18 geliebt habe. Das ist immer noch glücklich, die kümmert sich um ihre Blumen und um sonst nichts. Ich hingegen trage die Welt auf den Schultern.


Sa 20.08.22
11:50 angenehm

Wegraim.
Geplant: Reiminterventionen im öffentlichen Raum.


Mi 24.08.22
14:35 Wüste

Es hatte sich angedeutet. Auf dem Weg von Leer nach Ditzum kommt der Wind immer von vorn, bei 22 Kilometern kann das mühsam sein, ich wusste es aus Erfahrung. Da ich gegen 17 Uhr zurück nach Münster wollte, mietete ich mir ein E-Bike. Kein besonders elegantes, auch kein high-tech-bike, wie ich sie gestern in Fahrradläden in Münster gesehen hatte, SUV's auf zwei Rädern zum Preis von 6tausend Euro, eher eines, das man im Baumarkt kauft. Dennoch machte es die Reise hinterm Deich angenehm und schnell genug war es auch.


Vor etwa drei Tagen begann ich im Netz nach E-bikes zu suchen. Die, die mir gefielen, kosteten in der Regel deutlich über 3000 Euro. Das ging mir gegen den Strich. Nicht einmal mein gebrauchter Mitsubishi Galant, ein dreiste Kopie einer BMW Viertürer Limousine, hatte soviel gekostet. Ich meine, was ist denn schon dran an so einem E-Bike. Elektromotoren sind die effektivste Art von Antrieb, sie halten im Grunde ewig, dann gibt es noch ein wenig Elektronik, einen Rahmen, eine vernünftige Nabenschaltung, zwei hydraulische Schreibenbremsen.

Mein Preis lag bei maximal zweitausend Euro, gebraucht. Ich suchte weiter und stieß auf ein Gazelle Citizen C8+ für 1899 in einem Fachgeschäft in Greven, 1 Jahr Garantie. Auf die Merkliste damit. Um den örtlichen Fachhandel nicht zu umgehen, fragte ich in vier Läden, ob man gebrauchte E-Bikes habe. Niemand hatte eines. Und so kam es, dass ich gestern nach Greven fuhr, um mir die Gazelle anzuschauen.

Der erste Blick, der Griff an den Lenker, das Aufsitzen, schon war die Sache entschieden. Ich fuhr einmal die Straße hinauf und hinunter, der Sattel müsste ein wenig höher, kein Ding, nach einer Viertelstunde hatte ich es gekauft. Meinen Motorroller stellte ich im Hof des Geschäftes ab, der Besitzer schenkte mir ein einfaches Baumwollcap, damit es mir auf dem Rückweg nicht den letzten Rest Hirn wegschmölze, dann fuhr ich los. Das Display versicherte mir, dass ich bei gemacher Fahrt im Eco-Modus gut 180 Kilometer zurücklegen könne. Bis nach Hause waren es 22. Ich war eine Stunde unterwegs. Heute bin ich mit dem Bus nach Greven gefahren, habe ich mir noch ein Extraschloss gekauft, bin mit dem Roller zurück, habe das Rad polizeilich registrieren lassen und glaube, dass ich einen guten Deal gemacht habe. Ein Jahr Garantie für ein Qualitätsrad mit 4986 KM Laufleistung, fast soviel, wie ich in einem Jahr fahre.



Do 25.08.22 13:00 Wüste

man meint sich zu erinnern
dass da hirn war
eh die hitze kam
man gibt das passwort ein
doch nichts geschieht
man geht
in die stabile seitenlage
transpiriert
und weiß zum schluss
nicht einmal mehr
ob es nicht besser wäre
man erfröre

man löst sich still
in strömen auf
fettflecken bleiben
seufzer overkill


Fr 26.08.22 10:15 deutlich kühler

eines tages erinnert er sich
an sein leben als tänzer
als er sich in halensee
mit einem gewaltigen sprung
unter die klimaanlage der disco schraubte
und in einem krankenhaus erwachte
sein name sagte ihm nichts
seine tage waren verschwunden
nur seine nase roch
und befahl
unverzüglich abzuhauen
die u-bahn erschreckte ihn
die menschen erschienen ihm
roh und gewalttätig
doch seine nase befahl
sie zu lieben
er stieg ein und fuhr
die menschen der ganzen welt
saßen und standen
dicht bei dicht er fuhr und fuhr
er schlief und schlief
und erwachte in einer halle
voll schlafender züge
die züge träumten von
menschen der ganzen welt
ihre federn quietschten
ihr türe wanden sich
am morgen erwachte er
am oranienburger tor
jetzt wusste er wieder
wohin sein tanz ihn geführt hatte
und beschloss
auf immer weiter zu tanzen
komme was wolle

22:35


eines tages erinnert er sich
an sein leben als tänzer
im park in halensee
kracht er nach einem sprung
unter die klimaanlage
und erwacht in einem krankenhaus
sein name sagt ihm nichts
seine tage sind verschwunden
seine nase riecht
und befiehlt
abzuhauen
die u-bahn erschreckt ihn
die menschen erscheinen ihm
roh und gewalttätig
doch seine nase befiehlt
sie zu lieben
er steigt ein und fährt
die ganze welt
sitzt und steht
dicht bei dicht
er fährt und er liebt sie
er fährt und schläft
er schlief und schlief
erwachte in einer halle
voll schlafender züge
ihre federn ächzten
ihr türe wanden sich
ihre fenster barsten vor liebe
am morgen erwachte er
am oranienburger tor
jetzt wusste er wieder
wohin sein tanz ihn geführt hatte
und beschloss
weiter zu tanzen


Mo 29.08.22 15:22 wechselnd bewölkt, frisch

Übermorgen ist es vorbei mit dem 9 Euro Ticket. Meine Frau und ich haben sie genutzt. Wir waren in Wuppertal, Bielefeld, und Duisburg, eine Museumstour. Vorgestern waren wir in einem Dorf in der Nähe von Coesfeld. Dort gibt es kein Museum. Dort wohnt eine Tante, die ein aufregendes Leben lebt und gelebt hat. Aufgewachsen im renommiertesten Gasthof des Dorfes, mit allen Wassern der Gastronomie gewaschen. Sie hatte Liebhaber, einen aus der Finanzwelt, der von der RAF ermordet wurde. Als sie dessen Grab Jahre später vernachlässigt fand, schrieb sie Helmut Kohl einen Brief und forderte ihn auf, sich daraum zu kümmern. Was Helmut auch tat. Sie heiratete einen reichen Mann, der sie schlug, betrog und schließlich Haus und Hof versoff. Sie kennt Udo Lindenberg und dessen verstorbenen besten Freund Herm Eiling. Wie Herm hat sie in den besten Hotels gearbeitet und Renè Collo in Unterhosen getroffen. Jetzt ist sie über 80, lebt mit einem Witwer zusammen, der vor fünfundvierzig Jahren ihr Liebhaber war, sie trägt atemberaubende Ohrringe, das Dorf tratscht, und ihre Geschichten wollen erzählt werden. Man braucht Kraft, um einen Tag mit ihr durchzustehen, sie redet in einem fort, zuhören kann sie nicht. Wir haben in dem Gasthof, in dem sie aufgewachsen ist, gegessen, waren Wassertreten in einem Artesischen Brunnen bei Heiden, Kaffeetrinken in der Hölle, und sind gegen Abend mit der Bahn wieder heimgefahren. Landeisenbahnen haben etwas Herzliches, Familiäres. Sie rasen nicht, sie müssen vor unzähligen ungesicherten Bahnübergängen Signal geben, sie schaukeln und halten an jeder Milchkanne. Wieder zuhause konnten wir nur noch schweigen. Wir setzten uns auf den Balkon. Der Abend war frisch. Wir zogen Strickwesten an, tranken Gin-Tonics, rauchten Selbstgezogenes und freuten uns fröstelnd. Die Höllenkraft des Sommers scheint gebrochen. Ich hatte in der Dorfkapelle eine Kerze angezündet und hoffe auf Regen, Regen und noch einmal Regen. Ich freue mich auf die kommenden Lesungen. 11. September im Kulturgut Nottbeck, 21. September auf der Burg Hülshoff, am 28. September in der Stadtbücherei Gronau-Epe und auf eine Intervention im öffentlichen Raum mit Ruppe Koselleck. Im November werde ich mich für ein Stipendium in der Villa Massimo in Rom bewerben. Chancen? - Kaum eine. Aber ich bewerbe mich und schaffe das auch. Und wenn ich es nicht schaffe, habe ich mich zumindest beworben. Ich bin noch lang nicht am Ende. Zezo van Dam hat einen Text von mir vertont, das Lied wird ein Hit. So it goes, sagt mein langjähriger Freund Kurt Vonnegut Jr.


15:42

Trabrennbahn Drensteinfurt




Di 30.08.22 12:15

Wir sind wir digitalisiert. Jeder Klick im Internet beschert uns innerhalb kurzer Zeit die dazu passende Werbung, aber wehe, man klickt ein Amt an. Ich hatte mein neues Rad vor ein paar Tagen online registriert, Namen, Telefonnummer, e-mail, Angaben zum Rad, Marke, Rahmennummer, Akkunummer. Den entsprechenden Aufkleber für das Rad könne man mir allerdings nicht zusenden, der müsse abgeholt werden. Gut. Formular absenden. Formular abgesendet.

Am nächsten Tag fahre ich zum Revier neben der ehemaligen Dominikanerkirche. Die Tür ist verschlossen. Ich muss klingeln, über die Gegensprechanlage fragt man nach meinem Anliegen, dann werde ich aufgefordert, zurückzutreten, die Tür öffne sich nach außen. Ich trete ein. Noch eine verschlossene Tür. Haben die Angst, überfallen zu werden? Guten Tag, sage ich zu einer jungen, blonden Beamtin mit Pferdeschwanz. Schicke Uniform. Steht ihr. Ich habe gestern mein Rad online registriert und möchte gern den Aufkleber abholen, sage ich. Haben Sie eine Kopie des Registrierungsformulars? Nein, habe ich nicht. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass man es hätte ausdrucken können. Dann könne Sie mir den Aufkleber nicht geben, sagt sie. Wie? Haben Sie denn keinen Zugriff auf die online-Registrierung? Kopfschütteln.

Ich müsste also mit der Rechnung, auf der alle Fahrraddaten aufgeführt sind, noch einmal zur Polizei und wiederum registrieren. Doppelt moppeln, nennt man das. Na danke, Polizei. Und was macht ihr, wenn mein Rad tatsächlich geklaut würde? Den Ordner suchen? Ich hatte mir das anders vorgestellt. Ein Klick, hatte ich gedacht, und schon hätte die Polizei die entsprechenden Daten. Der gestellte Dieb würde dumm kucken. Ja, offenbar Fehlanzeige. Danke Polizei. Danke, digitales Entwicklungsland Deutschland.


13:40

ob es stimmt
dass der erwachsene
sich seine kindheit nur ausgedacht hat....


Mi 31.08.22 12:45 bisschen windig, knapp über 20 Grad

Als Non-Digital-Native habe ich lange geglaubt, ich müsse nur Darknet eingeben, dann entfalte sich die böse Blume vor meinen Augen. Das Böse hat Strahlkraft. Man muss nur fernsehen oder Zeitung lesen, dann ist es für jeden sichtbar. Aber das wirklich Böse, das verbrecherisch Böse, eröffnet sich mir nur, wenn ich es mit Hilfe des Tor Browser suche. Der Tor Browser ist nicht das Darknet. Der Tor Browser ist ein open-source Projekt, das es ermöglicht, die Spuren, die ich mit jedem Klick im Netz hinterlasse, zu verbergen. Das macht ihn langsamer als Firefox oder Chrome, denn jeder Klick wird über weltweit verstreute Server gejagt. Er reist von A nach B, von B nach C undsoweiter, und schon die erste Station verbirgt meinen Ausgangspunkt A, mit dem Ergebnis, dass ich, bei - sagen wir Drogen online kaufen - nicht mehr als Urheber der Suche zu identifizieren bin. Da ich mir in den heißen Tagen, an denen kein Gedanke möglich war, die Zeit mit Netflix vertrieben habe (Drogen online kaufen - Fast), habe ich also als erstes Drogen online kaufen in die Suchmaske eingetippt. Ja, es stimmt. Netflix hat nicht gelogen. Ich könnte Gras kaufen, Amphetamine, MDMA, Ecstacy, Kokain, Opium, Heroin, ich könnte es in den Warenkorb legen, dann wäre die Ware innerhalb weniger Tage bei mir. Allerdings müsste ich mit Bitcoin bezahlen. Auch da gibt es eine Platform, die, wen wundert es, in der Schweiz beheimatet ist. Angenommen, ich kaufte dort Bitcoin, stünde einer Bestellung nichts mehr im Wege. Als zweiten Versuchsballon gab ich "Waffen kaufen" ein. Zunächst erschienen Schreckschußpistolen, Luftgewehre, Armbrüste. Bei weiterer Suche stieß ich auf tödliche Waffen. Eine Glock für 1100 Euro. SSG 8 Schnellfeuergewehr. Als "Blaufichte" apostrophiert. Tretminen. Sprengfallen.


18:15

ich bin ein wuchtiges Paket
entlaste in der ganzen Breite die Gesellschaft
ich bin mit meiner dreisten Art Prophet
der brüderlichen Weltgemeinschaft
ich habe immer einen Zaubertrick parat
den klaren Blick zu trüben
beobachte das Weltgeschehen akkurat
was keiner weiß, ich muss noch üben
so seid denn ruhig, deutsches Fußvolk
sogar den eat an apple Trick beherrsche ich
ich spiel für euch die Volkmolk
eine Polka im 2Viertel-Takt
so lang, bis euch Entsetzen packt
und dann, ihr Trottel, werdet ihr
sediert von einem Kasten Bier
mir, Lindner, jeden Unsinn glauben.