Dezember 2019                      www.hermann-mensing.de      

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Mo 2.12.19 12.28 leicht bewölkt, Sonne

Bei Trotzki hat sich Erstaunliches zugetragen. Eine Frau ist eingezogen. Sie macht ihr Praktikum. Zu Ende des Jahres wird man entscheiden müssen, ob man ihr einen festen Vertrag anbietet. Im Augenblick spricht vieles dafür. Ansonsten nur Sinnverlust, der in den letzten Wochen des Jahres immer rapide zunimmt. Im Hause meidet man daher Verlautbarungen über politische Entwicklungen, und versucht sich an das zu halten, was fass- , sicht- , hör-, seh- und fühlbar ist. Trotzki hat damit alle Hände voll zu tun. Was den Austausch von Liebesgaben zur Wintersonnenwende angeht, ist er skeptisch. Nur vereinzelt hat er es in den letzten 50 Jahren geschafft, jemandem eine wirkliche Freude zu bereiten. Der häufig geäußerte Vorschlag, das Schenken von Nutzlosem ein für alle Male abzuschaffen, hat er trotz allem nicht durchsetzen können. Jeder hofft jedes Jahr aufs Neu, dass vielleicht doch etwas für ihn dabei wäre. Immerhin: die Weihnachtsdekoration ist seit langem abgeschafft, und im Stillen, aber das muss unter uns bleiben, arbeitet Trotzki an einer grundlegenden Veränderung der Gesellschaft. Das wird eine sein, in der alle willkommen sind, eine, die den Kapitalismus überwunden und durch ein System ersetzt hat, das die Welt und seine Menschen als Ganzes wahrnimmt. Sie sehen, es lebt sich gut im Hause eines Utopisten, während draußen die Realität wütet.


Di 3.12.19 feucht heute früh, sonnig am Nachmittag 17:29

Trotzkis Praktikantin saß häufig mit ausgestreckten Beinen auf dem Sofa, so dass für ihn wenig Platz blieb. Er vereinbarte daher mit einem befreundeten Orthopäden, dass man ihr die Unterschenkel amputiert. Das ging schnell und sauber. Endlich hatte er wieder den Platz, der ihm zusteht.


Mi 4.12.19 11:09 sonnig

Die Unterschenkelprothesen sind aus weltraumerprobten Material - Iridium - Panadium - Polonium - man weiß es nicht so genau. Trotzki hat drei Paar in verschiedenen Größen gekauft, so dass die Praktikantin, die u.a. für niedere Arbeiten zuständig ist (sie ist froh, endlich einen Praktikumsplatz gefunden zu haben, an dem sie sexuell nicht belästigt wird), jede Arbeit mit einem anderen Paar verrichten kann, was von Vorteil ist, denn nun muss nicht ständig eine Leiter in der Nähe sein.

21:45

Schöner Tag.


Do 5.12.19 frostig trüb

Man saust dem Enkel hinterher, der ständig den Turbo zündet und dabei Geräusche macht. Der Enkel hält sich an Verkehrsregeln, ist aber immer ein bisschen zu schnell, so dass man zurückbleibt und ruft, mach halblang, aber er braust über breite Straßen, durch Tunnel, zum Trommeln. Da sitzt er dann hinter einem Riesenschlagzeug und man weiß gleich, wenn er Schlagzeuger werden wollte, könnte er es, weil er Talent hat. Der andere Junge, der auch dort sitzt, könnte nie Schlagzeuger werden, weil er keines hat, und man sich fragt, wieso nimmt er überhaupt Unterricht, wollen seine Eltern das? Man kann Kinder auf vielfältige Art quälen.


Fr 6.12.19 trüb und feucht 13:45

Als man Trotzki fragte, wie weit weit sei und er eine sofortige Antwort verweigerte, kamen sofort weitere unbeantwortbare Fragen. Wie lang lang sei, etwa, wie alt alt, wie hoch hoch, und sei die Sonne wirklich so weit weg? Als Trotzki schon glaubte, alle Fragen seien gestellt und unbeantwortet geblieben, flatterten neue heran. Da Trotzki gern Unsinn pflegt, der ihn untauglich macht für die Welt, wird er oft Zielscheibe haltloser Vorwürfe wie Faulheit, Melancholie, Arroganz. Was aber nun Faulheit wäre, Melancholie, Arroganz und so weiter, darüber lässt Trotzki heute keine Fragen mehr zu, denn gestern gab er eine kleine philosophische Abendgesellschaft, die bis weit nach Mitternacht Drogen konsumierte und alles in Rauch aufgehen ließ, was nicht versprachlicht werden konnte. Das war anstrengend und schön, deshalb wird er heute den Vögeln zuschauen, die seit einiger Zeit auf seinem Balkon heimisch sind. Das ist eine vergleichsweise harmlose, jedoch gut dotierte Tätigkeit, für die er zweitausend im Monat kassiert.


23:19

Ich war als Nikolaus unterwegs. Es war stockdunkel, es regnete, es war windig, und das Schutzschild meines Rollers, das ja eigentlich Schutz bietet, ist bei Regen immer so voller Tropfen, dass mir fünf entgegen kommende Autos wie zehn vorkommen. Ich musste sehr konzentrierzt und langsam fahren, das ist kein Problem, aber ein Spaß ist es nicht. Als Nikolaus hatte ich ambitioniert eingekauft: Äpfel, Clementinen, Datteln, Fudge, Trauben, Gummibären und Lakritze in jeder Tüte, vier Mal. Die beiden Jüngsten waren zuhause, als ich kam. Dem Jüngsten las ich ein bisschen vor. Der Zweitjüngste legte mit Papa ein Puzzle. Dann kann der zweitälteste mit einem Freund. Der Älteste käme gar nicht, der bliebe bei jemandem, erfuhr ich. Okay. Also, dann packe ich mal den Nikolaus aus. Ich gebe jedem seine Tüte. Der Zweitälteste guckt rein und sagt: Hab keinen Hunger. Der Jüngste sagt: Mag ich nicht. Der Zweitjüngste mag weder Obst noch Lakritz.


Sa. 7.12.19 13:05 trüb, man bewegt sich nicht

es muss text her,
sehr geehrte damen und herren,
text für divers,
für dahergelaufene,
text für gestrauchelte,
für die angsthasen,
die alles anderen in die schuhe schieben,
text für tango
und frauen mit scharfen titten,
die wissen, wie sie sie einsetzen können,
text für die jungs,
die noch mit hundert den kopf darüber verlieren,
text für text
kunst für kunst
text für den samstag im regen
und die dunkle zeit,
der man die dummheit nicht anlasten kann.


So 8.12.19 14:10 windig, bisschen Sonne

Kaum aufgestanden ist Mittag. Trotzki trinkt Kaffee, fantasiert Zukunft, hängt einen Meisenring vors Küchenfenster, duscht und und wirft den Rechner an. Aber der Rechner fährt nicht hoch. Immer und immer kreist dieses Wartesignal, aber nichts geschieht. Trotzki trennt ihn vom Strom, startet im gesicherten Modus, fährt runter und hoch, aber nichts. Verdammte Scheiße, geht das wieder los, denkt er, geht weg und spielt Tennessee Waltz. Als er zurückkehrt, ist der Rechner hochgefahren. Hatte sich wohl verschluckt gestern. Irgendein Update nicht verdaut, man weiß so etwas nie. Aber im nächsten Jahr steht eh ein Rechnerwechsel an.


20:43

Irgendwann ist es mit dem Planeten Erde vorbei. Aber bis dahin ist noch Zeit. Wir haben noch alle Chancen.


Mo 9.12.19 11:13 feucht, trüb

Sie sitzt abseits. Sie ist eine hervorragende Tänzerin, aber niemand fordert sie auf. Liegt das an ihrem strähnigen Haar. Riecht sie schlecht? Ist sie falsch angezogen?


15:40

Trotzkis Rechner macht noch immer seltsame Dinge. Kein Wunder, denkt er, vielleicht spiegelt er nur, was von außen kommt, und was ebenfalls seltsam ist, jedenfalls seltsam genug, um es nicht zu verstehen.


21:52

Gerade hatte Herr M. noch gedacht, wie schön es sei, nicht zu den Darmgestörten zu gehören, als er, vom Glück überwältigt, einnickte und vornüber vom Klo stürzte. Jetzt sieht er aus wie ein Boxer.


Di 10.12.19 15:08 sonnig

Mein Lesebuch ist erschienen.



Kaufen kann man es hier.

Mi 11.12.19 11:21 Regen

silberne tropfen
an den ästen der forsythien
sperlinge, heckenbraunellen,
kohl- und blaumeisen,
rotkehlen, amseln,
eine taube,
jedoch keine krähen,
und keine elstern, erstaunlich,
der himmel, mal blau, mal grau,
eine straße, die busse vorm haus,
mein 70 jähriges leben,
mein sturz vom klo
mit dem kopf voran,
das alles gefällt mir
und gibt mir zu denken.


Do 12.12.19 14:34 wechselnd bewölkt

Zack. Heute Rücken.
Strafe für Nachlässigkeit,
Brüten,
Quittung für Leben
und Jugendsünden.
Reminder für Endlichkeit.
Stellen Sie sich dahin,
soll ich Ihnen die Augen verbinden?
Nein? Bitte. Ganz wie Sie meinen,
Sie werden nichts spüren.
Vielleicht hören Sie noch den Knall.


Fr. 13.12.19 8:57 man muss nicht vor die Tür

Nach Stunden hatte Trotzki noch immer kein Feuerzeug gefunden, aber währenddessen seine Lieblingsbrille verlegt. Die anderen drei waren schon seit langem nicht mehr zu finden. Ob sie die Wohnung verlassen hatten oder sich verbargen, wusste er, als man ihn verwirrt am Ufer des großen Flusses fand, nicht zu sagen, beschuldigte aber die Rettungskräfte, die sich ihm vorsichtig näherten, lauthals, sie seien für ihr und das Verschwinden einiger anderer Dinge verantwortlich.

An Alkoholikern, Nazis, Wirtschaftskriminellen und sonstig Verwirrten geschult, warfen sie ein Netz über ihn, fixierte ihn und brachten ihn in ein Krankenhaus. Dort stellte man fest, dass er unter fehlenden Feuerzeugen, Brillen, verlegten Socken und Kugelschreibern litt, und konzipierte eine Theraphie. Man würde ihn eine Weile in karg moblierten Räumen unterbringen, damit die Synapsen seines Gehirns sich neu orientieren könnten. Seine Frage, ob er rauchen dürfe, wurde bejaht, allerdings seien dort keine Feuerzeuge, er müsse, wolle er sich selbst und die Gesellschaft weiterhin schädigen, das Feuer neu erfinden, wie, sei ihm überlassen, man habe jedoch gute Erfahrungen mit dieser Theraphie gemacht, fast vierzig Prozent aller Probanden hätten uralte Kulturtechniken neu entdeckt, viele seien Barfußläufer geworden, manche Nichtraucher, wieder andere hätten auf das Schreiben unsinniger Texte verzichtet und sich aufs Reden verlegt, eine audiophile Bibliothek stünde zur Inspiration zur Verfügung.

Als man ihn nach vierwöchigem Aufenthalt entließ, machte er sich als erstes daran, die Verwaltungszentrale des Lügenkonsortiums Facebook in Asche zu legen, was weltweit zu einigem Murren und antisemitischen Vorwürfen führte. Das bekümmerte ihn nicht, denn angespornt durch seinen bescheidenen Erfolg legte er auch andere kapitalistische Großkonzerne in Schutt und Asche, denn die Theraphie hatte ihn nicht nur die archaische Kunst des Feuermachens gelehrt, sondern auch die Herstellung von Schwarzpulver, so dass es hier, da und dort in Folge gehörig rummste, krachte und loderte.

Eines Tages, mitten im schönsten Schaffensrausch, er hatte gefrühstückt, Kaffee getrunken und über die dunkle Jahreszeit meditiert, fand er plötzlich alle über die Jahre verlegten Gegenstände, als hätte sie immer dort gelegen. Endlich war er glücklich.


Sa 14.12.19 13:21 windig, wechselnd bewölkt

Godot hatte sich zu Beginn der Schöpfung die Rechte für ein Phänomen gesichert, das die bürgerliche Gesellschaft erst vor etwa 200 Jahren in romantischer Wallung plötzlich aufs Tapet brachte, Liebe nannte, in Romanen und Gedichten verklärte, um sich oft schon nach kurzer Zeit darüber zu entzweien. Godot verdiente sich dumm und dämlich den Verwertungsrechten.
Godots Mitarbeiten waren neidisch, überlegten, dem etwas entgegen zu setzen sei und hatten schließlich eine Idee. Sie nannten sie Klimawandel, ein Phänomen, das die Welt seit Beginn ihrer Existenz mit lebensfeindlichen Eiszeiten, Hitzeperioden, wechselnden Wasserständen, auf- und wieder untertauchenden Kontinenten, verheerenden Vulkanausbrüchen und Ählichem zu einem unsicheren Ort gemacht hatte.
Dieses Phänomen, der Welt sowohl inhärent als auch von seinen Bewohnern befeuert, verwirrte die Betroffenen derart, dass überall Dummschwätzer auftauchten, Rettung versprachen und Heilslehren in die Welt setzten, in deren Folge Kriege ausbrachen, die das Experiment Homo Sapiens beendete. Godot, der es gut gemeint hatte, berief eine Vorstandssitzung ein, um über neue Konzepte nachzudenken.


So 15.12.19 15:00 bewölkt, recht mild

immer muss man auf sie warten
immer hält sie irgendetwas auf
will man gehen
muss sie noch im garten
die tomaten gießen
oder plättet einen maulwurfhauf
will man ausgehn
braucht sie stunden
um die patina zu frischen
zwischen tür und angel ist ihr hut inzwischen
nicht mehr erste wahl
ihn zurückzuhängen
um den neuen aufzusetzen
dauert und man darf nicht drängen
will man dieses
muss sie jenes noch
also wird man messer wetzen
und macht ihr ein loch


Mo 16.12.19 8:35 bewölkt

Gegen Mitternacht geriet ich einen Traum, der mich nicht loslassen wollte, als wäre da ein Innen und Außen, und beide Sphären auf ewig voneinander getrennt. Meine Mutter kam vor, ein Kind war in der Nähe, das gefüttert werden musste, mit Haferflocken, sagte jemand, mir schien, ich müsse nach E. fahren, weil dort eine Tanzveranstaltung sei, ich hörte mich Mutti rufen, lallend, eher lallend, Mutti, warum hilfst du mir nicht, hätte ich gerufen, erfuhr ich am Morgen, ich kämpfte, um dem Traum zu entrinnen, spürte den Arm meiner Partnerin, die mich beruhigen wollte, wurde wach, ging in die Küche und trank ein Glas Wasser.

Gegen Morgen noch ein Traum: ich bin in London unterwegs, meine Kinder und meine Frau sind bei mir, wir gehen durch Straßen auf der Suche nach Mulholland Drive, da müssen wir hin, das weiß ich, ich weiß auch, dass ich schon einmal in diesem Traum war, und an gleicher Stelle, da, wo die Kuppel einer großen Kirche aufragt, falsch abgebogen bin, und biege dennoch wieder falsch ab. Wir geraten in einen luxuriös gestalteten Garten, werden von mehreren Cockney sprechenden, rüden Sicherheitsleuten angehalten, ich rede mich heraus, ich sage, wenn sie uns durchließen, würde ich sie zu Romanfiguren machen, was sie akzeptierten.

Und dann noch ein Traum, den ich gestern träumte. Da steht eine mir nicht bekannte Frau vor der Tür und sagt, sie wolle ihre Tochter zurück. Über den Hof kommt ein Mann mit erhobenem Krückstock, der das gleiche sagt, und dann taucht noch ein Mann in beiger Lederjacke auf, der von zwei Söhnen begleitet wird und sagt, er käme aus Garage im Westen der USA.

Möglich, dass der Vollmond das alles initiiert hat, ich weiß es nicht, ich habe jedenfalls lange nicht mehr so intensiv geträumt, wenngleich man natürlich ständig träumt, ohne sich zu erinnern.


Mi 18.12.19 23:07

Die Stadt ist im überfüllt. Wie ein Sog zieht es die Menschen hinein, die sich rote Mützen mit weißem Bommel und LED kaufen, übern Weihnachtsmarkt drängen, denn der Kapitalismus feiert sein Rettendes Fest. Alles Gut, fragen sie, wenn sie Bekannte treffen. Alles Gut, sagen die Bekannten, und selbst? Man schaut auf Smartphones, die aufregender scheinen als die Welt mit ihren Geräuschen, Gerüchen, mit Himmel, Hölle und Wetter. Frauen formen ihre Lippen zum Kussmund, fotografieren sich und jagen die Bilder in Echtzeit hinaus, man trinkt Glühwein, es ist 13 Grad, es ist Winter. Mir hilft nur noch Kästner. Blablablablablablabla, die Konferenz der Tiere, Sie erinnern sich. Man macht sich über Greta Thunberg lustig, weil es einfach nicht angeht, dass eine Fünfzehnjährige der Welt die Leviten liest, alles ist Verschweigen, Verschieben und Lüge, jeder weiß es, aber niemand weiß, wo der Ausgang ist.


Do 19.12.19 fast Frühling heute

ich gehe
höre vögel
denke: früher frühling
sehe blauen himmel
hoffe
habe alle hoffnung
habe keine
habe alles
habe nichts
wüsste
hätte
hätte ich doch


17:19

Erinnerung an das europäische Übersetzer Kollegium Straelen:

Mein Zimmer zum Hof, Zimmer 1, das Philosophenzimmer. Ich habe die Tür zum Garten geöffnet. Mein Schreibtisch steht vor einem Doppelfenster mit Rundbögen, dahinter ein kleiner Wildgarten, Verblühtes, von einer Backsteinmauer begrenzt. Allein mit Strohblumen, Philosophen in Bücherregalen, Bleistiften, Radiergummi, Anspitzer und den schmalen Glockenschlägen zur vollen Stunde. Wenn ich den Kopf schräg lege und nach links oben blicke, sehe ich einen Buchrücken, der "Denker der Zeit" verspricht. Vor meinen Gedanken ist alles Gegenwart, grausame Gegenwart, die fortlaufend Zukunft und Vergangenheit vereint. Vor meinen Gedanken, der Ruhe hier, der Fremdheit und der Tatsache, dass alles, was von nun an entsteht, mit Kopf und Hand entsteht.

Refugium, dachte ich, als ich eintrat und durchs Haus ging, klösterlich, dachte ich, oder dachte ich nichts, sondern war darauf bedacht, einen guten Eindruck zu machen? Ja. Ein Lichthof. Arbeitsplätze. Computer. In der Küche treffe ich eine junge Iranerin, eine ebenso junge Polin, einen Mann um die sechzig, der vor einem Teller sitzt, auf dem eine Mandarine liegt. Die Küche mit großem Tisch bietet viel Platz. In den nächsten Tagen werde ich mich hier versorgen. Mache ich Obsttage? Der Mannn zieht die weiße Haut vom Fruchtfleisch der Mandarine. Ich mache mich auf die Suche nach Tasse und Löffel, ich suche, ich finde, ich gieße mir Kaffee ein. Der Mann fragt, ob der Dom noch in Münster stehe. Ich bejahe. Und ob ich mit der Universität Verbindung hätte. Ich verneine. Die Iranerin spült. Kocht man zusammen? Gibt es eine Kaffeekasse?


So 22.12.19 11:05 leicht bewölkt

Drei Tage kam die Taube jeden Morgen zwischen neun und halb zehn und setzte sich auf die Brüstung, traute sich aber nicht zum Tisch mit dem Vogelfutter. Am vierten Tag war es so weit, sie stellte sich auf den Rand des Tellers, der unter ihm Gewicht hochklappte und pickte in Eile, während ringsum die Spatzen saßen, die immer in Gruppen kommen, fünf, acht, manchmal zehn. Während eine der weiblichen Amseln, die regelmäßig kommen, (ich glaube, zwei identifizieren zu können) die Spatzen gern vertreibt, sind die männlichen friedlicher. Die Kohl- und blaumeisen sind, während andere fressen, zwar in der Nähe, warten aber lieber ab. Die Rotkehlen hingegen kommen nur, wenn alle anderen fort sind.


Mo 23.12.19 8:40 grau

Alles wird Sprache, der Schatten meiner Schreibhand, das Nießen, das Warten auf die Vögel, die sich heute verspäten. Und wenn alles Sprache wird (da kommen die ersten), also ein vereinbarten Zeichensystem für die durch Gaumen, Zunge und Rachen erzeugten Töne, muss es Sprachmusik sein, sonst taugt es nichts. Weihnachsmusik wird es jedenfalls nicht. Falsche Töne können mir gestohlen bleiben. Ich will Wirklichkeit, falls sie irgendwo steckt.


Di 24.12.19 13:53 grau, Regen

schau, dieses grau
das weihnachtlich mich feuchtet,
das hoffnungslos und froh mir leuchtet,
schau doch, wie sinnlich es sich gibt,
ich glaube fast, dass es mich liebt.



Do 26.12.19 13:00 trocken, grau

Willkommen im gustatorischen Paradies. Sein Koch, auch als Jazzmusiker, Rudelsinganimateur, Spinnen- und Falterzüchter tätig, hatte geladen. Sieben Gänge mit Weinbegleitung. Die Gäste, Professoren der Ökotrophologie, ein über die Grenzen bekannter, an den kräftigen Armen tätowierter Dub, Ska und Reggaesänger, ein Ehepaar mit Immobilienbesitz in Italien, Frankreich und im Taunus, ein Dichter, seine Lebensgefährtin in einem Restaurant mit Blick auf den Stadthafen.

Das Wasser kräuselt. Es regnet. Die Nacht ist tiefschwarz. Der Tisch ist festlich gedeckt.

So viele Messer, Gabel, Gläser und Teller, was macht einer damit, der nur Hunger hat und essen will?
Von außen nach innen, erklärt der Reggae und Ska Sänger.
Seine Mutter ist Französin, und der Franzose, heißt es, isst gut. Okay, sage ich.

Aber wie beschreibe ich das gustatorisches Paradies?
Normalerweise sagt der essende Mensch, ob es ihm schmeckt oder nicht.

Gustation scheint eine die Sinne stimulierende und intellektuelle Herausforderung. Über Geschmack lässt sich streiten, aber was, wenn einem Worte fehlen? Wenn man nicht weiß, was man schmeckt oder schmecken soll, wenn der erstes Gang holperig als Amusement im Dialog mit unge-Stopf-Leber angekündig wird, dazu eine fruchtige Glasscheibe und Trüffel auf einem handgelenkdicken, etwa zwanzig Zentimeter langen Ast serviert, darauf auf Spießen zwei pralinengroße Kugeln Leberpastete, Trüffel? Die Glasscheibe ist ein zerbrechliches, kaum blütenblattgroßes Etwas aus kristalliesiertem Zucker, Fruchtaromen und Gelantine. Trüffel ist teuer wie Gold. Leber braucht keine Zähne, geschweige denn, Gabeln. Also Mund auf, und dann?

Natürlich ist das nicht die Art des gustierenden Individuums, das gekommen ist, um seine Geschmacksknospen stimulieren zu lassen, und zudem jedes Aroma, sei es noch so fein, fremd und fern, bei Namen nennen kann. Ich kann das nicht, und Leber esse ich nie. Sie ist mir nicht geheuer, gestopft oder nicht, egal auch, von welchem Tier. Also im Nachtrag Aha gesagt, und gehört, wie der Professor in die Tiefe geht.

Bei einem Westfalenteller denkt man an Fülle. Man denkt, davon wird man satt, aber da es sich erst um den zweiten Gang handelt, darf man nicht in Menge denken. Zwar gibt es Pumpernickel, Topinambur (die exotische Knolle ersetzt die Kartoffel), Birne und Rind, und von diesen Zutaten habe ich schon gehört, aber die Mengen sind klein und fein.

Beim Jackson Pollock Teller inszeniert sich der Koch als Künstler. Hokkaido vom Grill - Walsnussjoghurt und Kürbiskernöl. Beste Zutaten, versteht sich, aber Jackson Pollock erschließt sich nicht jedem. So ist es mir lange gegangen, bis ich einige seiner Arbeiten in Düsseldorf sah. Hoffentlich ist es kein Piss-Painting, denke ich und erwarte den vierten Gang.

Mein Magen gibt noch keine nennenswerte Rückmeldung hinsichtlich einer beim Essen erstrebten Sättigung. In gustatorischen Paradiesen, dämmert mir, geht es um Höheres. Die Weine werden poetisch veredelt. Weißburgunder, der sich in klarem Gelb mit grünlichem Schimmer trocken im Glas zeigt, und in der Nase in feinen Düften vollreifer, grüner Äpfel und Birnen abbildet. In meiner Nase?

Der St. Antony Obel Riesling hat Aromen von Pfirsich und Aprikose, die attraktiv und reizvoll mit einer kühlen, cremigen Mineralität korrespondieren. Später ein Chateau Grand Pontent Grand Crus Classé, ein Bordeaux mit floral warmen Noten und einem sauberen Ranciostrich, mittel bis weichem Abgang und einer pfeffrigen Noten am Schluss.

Ich bin überfordert und betrete den Garten eines Kraken. Ob Kraken Gärten unterhalten, ist mir nicht bekannt, aber ich weiß, dass das, was da angerichtet auf einem eckigen Teller serviert wird, Tintenfisch und Hummer ist, begleitet von Westfalensushi mit Weizen, Sellerie und weißer Schokolade.

Der Pop Eyes Teller bietet Spinat, Onseneigelb und weiße Trüffel, vom Meister auf jeden Teller gehobelt.
Was zum Teufel ist ein Onseneigelb? Man könnte das googeln. Es gibt eine heiße japanische Quelle, die - wenn ich mich recht erinnere - eine konstante Temperatur von 65 Grad hat, und diese Temperatur bedingt die Konsistenz jenes Eigelbs.

Der Supergood Food Gang bringt Grünkohl, Apfel, Haselnuss und Quinoa. Dazu trinkt wir ein obergäriges Starkbier aus Namur, das säuerlich schäumt, leuchtend dunkelgold und grün kommt, sanft, bitter und dann cremig in einer würzige Kräuterecke von Koriander und Orange, begleitet von einer Karamell-Honignunance, sanft endet.

Das Amuse shoque (der Meister scheint Humor zu haben), Mandarine, Süsskartoffel und Hagebutte, wird, meine ich mich zu erinnern (was nicht einfach ist, denn wir gustieren schon seit über zwei Stunden) von einem wohlabgestimmten Cuvée aus den Rebsorten Cabernet Sauvignon, Manto Negro, Merloh und Syrah begleitet, der über 12 Monate in Barriques aus französischer Eiche gereift ist. Er hat ein kräftig dunkles Kirschrot und animierende Noten reifer, dunkler Beeren, verbunden mit roter Paprika, feinen Nuancen von Zedernholz, balsamischen Aromen und verfügt über ein ausdrucksvolles Finale.

Bambi in der Weihnachtsbäckerei nennt der Koch den nächsten Gang: Reh, Spekulatius, Maronen, Rosenkohllaub und schwarze Trüffel. Das Bambi so endet, hätte es sich nicht träumen lassen. Ist es lecker? Was für eine dumme, von gustarischen Wissen und wissenschaftlichen Erkenntnissen der Geschmacksbildung ungetrübte Frage. Ja. Es ist lecker. Sehr lecker. Und es gibt sogar Nachschlag. Und - meldet der Magen mittlerweile Zeichen zunehmender Sättigung? Nein, aber der Wein tut Wirkung, das ist ja auch schön. Zumal es in die vorletzte Runde geht, zum Prädessert, ein Trüffeleis aus Blumenkohl. Eis? Blumenkohl?

Um 23:30, wir begannen um 19:00, wird der Santa Claus Teller aufgetragen, eine Kreation aus Tannengrün, Malzbier, Karamell und Eichenrinde. Wenn nun jemand fragt, wie war es, muss ich wahrheitsgemäß antworten: super. Auch dumme Menschen können so etwas essen. Ich muss wahrheitsgemäß aber auch anmerken, dass es sich bei diesem Ritt durch das gustatorische Paradies auch um eine Variation der Geschichte von des Kaisers neuen Kleidern gehandelt haben kann, aber Sie, geneigter Leser, könnten und sollten das selbst entscheiden, in dem sie die Neue Westfälische Stube im Escape buchen, wo Tobias Sudhoff sie abenteuerlich bekocht.


Fr 27.12.19 15:50 sonnig

Neben Karl lag die Frau, die er seit zwanzig Jahren kannte und immer begehrt hatte. Sie hatten heftig geliebt, über Jahre nichts lieber getan, im Plan waren Kinder, aber nach einer Frühgeburt in der siebten Woche und einer nach vier Monaten hatte sie der Mut verlassen. Jetzt erst recht, hatte Karl gesagt, sie aber nicht überzeugen können. Was er nicht wusste, war, dass der Arzt ihr vor weiteren Schwangerschaften abgeraten hatte. Jetzt begehrte er sie schon lange nicht mehr. Stattdessen begehrte er Sarah, MTA in der Klinik. Sie hatte ihn einmal fast umgerannt, als er aus der Küche kam. Sie entschuldigte sich, er kriegte keinen Ton raus, wusste aber sofort, dass er sie wollte, sie ging, dann sah er sie anderthalb Jahre nicht mehr. Er dachte, sie hätte gekündigt, bis er sie im Aufzug traf. Sie fuhren bis in den elften Stock, und als sie ausstieg, hatten sie sich verabredet. Seitdem lag er jeden Abend neben der Frau, die er nicht mehr begehrte, und manchmal neben Sarah.


Sa 28.12.19 17:20 frostig

mir is die hos auf'gsprunga
von oana wurzel zart
's hat von drinnen g'drunga
und wurde plötzlich hoart
und hod a röslein trefft
middn im koidn winter
wohl vor der hoibn nocht

So 29.12.10 11:45 frostig

mie is de büchsen opsprong'
van eene wortel zart
het is van binnen kom'n
en word heel plotzling hart
en heft en röslein troffen
mitten in kouden winter
nog vor de halve nacht


12:00

2019
du warst, my love
ein schrecklich schönes jahr,
ernährtest dich von leid und tod,
schriest lügen,
sagest, sie sind wahr
und wurdest nicht mal rot.
du hintergingst,
und machtest geld,
und noch mehr geld und blut,
du kamst als plage auf die welt
und schürtest weltweit wut.
die kalte wut ist gut, my love,
my love, mir platzt der kragen
ich werd' die schurken jagen.


Mo 30.12.19 sonnig, milder als gestern

Heute erreichte mich dieses Gedicht, das ich einem Freund zu seinem Geburtstag im Mai 1988 schrieb.




Di 31.12.19 12:56 bisschen diesig

Rings um mich ist Beton zu kreisförmigen Türme verbaut, Auf- und Abgänge, Aufzuschächte, kaum Menschen, bis auf die in der Notaufnahme, ein Soziosphärenreservat, von dem noch zu reden sein wird. Seit Stunden warte ich hier. Der Kaffeeautomat ist defekt. Immerhin, es gibt Wasser mit und ohne Bubbel, wie das kleine Mädchen es nennt, das mit Papa hier ist. Meine Enkel sagen Prickel. Jeder Patient hat einen Zugang im Arm. Ich habe keinen. Ich bin Wartender, und werde gleich neidisch. Irgendwann gehe ich los, um mir in der Automatengalerie ein Stockwerk höher irgendetwas zu kaufen, einen Schokoriegel vielleicht. Der Weg ist lang. Bis auf eine Putzfrau begegnet mir niemand. Sie navigiert mit Google durch das Gebäude, in dem mehrere Tausend Menschen arbeiten. Auf dem Rückweg passiere ich zwei Araber, die auf einer Bank Pizza essen. Hmmm, mache ich im Vorbeigehn. Willst du? fragt mich der mit dem aussagekräftigsten Bart. Ja, sage ich zögernd. Bitte! sagt er. Ich nehme ein Stück und bedanke mich. Alles gut, Bruder, sagt er und legt die rechte Faust aufs Herz.

18:16

Herr M. weint dem Jahr keine Träne nach, warum auch, er hat sich alles selbst eingebrockt, da wird er den Rest wohl auch wegstecken können, das wäre ja gelacht, obwohl er diesen Abend lieber mit Trotzki und dessen Praktikantin verbracht hätte. Sie hätten in kleiner Runde gesessen, hätten Hörnchen geraucht, Wein getrunken und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen, aber es ist, wie es ist, die süsse Praktikantin liegt mit einer leichten Lungenentzündung im Krankenhaus, sie ist dort gut aufgehoben, man staunt ja, was die Medizin innerhalb kurzer Zeit vollbringt, auch wenn sie oft gescholten wird. Eine Spritze, ein gezielt verabreichtes Medikament, schon pfeift und rasselt es nicht mehr aus den Bronchien, wie es gerade noch gepfiffen und gerasselt hatte, man verabreicht Sauerstoff, es geht bergauf.

Herr M., der sich seine Lebenszeit mit Worten versüßt, wird den Abend allein verbringen, während alle übrigen gespannt auf die magische Uhr starren, die das neue Jahrzehnt mit jeder Sekunde näher bringt.

Liebes neues Jahr, my love, in ein paar Stunden bist du kein Teenanger mehr, sondern Twen, und ich weiß, was das heißt, ich erinnere mich, lustig geht anders. Mir ist warm, ich habe zu essen, zu trinken, ich kann lesen, ich höre Musik, und vielleicht werde ich den Jahreswechsel einfach verschlafen. Es sei denn, der Stachel löckt und es treibt mich doch noch hinaus, Tango tanzen.

 

 

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