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Hermann Mensing

Ich bin immer noch nicht berühmt

Hermann Mensing

Ich bin immer noch nicht berühmt

Um zu einer Entscheidung zu gelangen, blieb nichts, als eine Münze zu werfen, denn die Argumente hatten längst einen Krieg begonnen, der sich, wie jeder Krieg, ist er erst einmal losgetreten - nicht ohne weiteres beendet werden kann. Die Münze stieg auf, klebte für einen Sekundenbruchteil am Scheitelpunkt und fiel herab. Ich fing sie auf, schlug sie in die Handfläche der anderen Hand und hatte ein Ergebnis.

Es regnete. Es gab drei Routen, alle in etwa gleich lang, es wäre also egal, diese oder jene zu favorisieren, aber die Münze hatte sich für die Route durch den Harz entschieden, A2 bis Unna, A44 bis Kassel, A7 Richtung Hannover und dann auf die A38, hinein in den tiefen Osten, den ich noch immer als nicht mir zugehörig empfinde.

Dass so ein Navigationsgerät nicht alles weiß, wusste ich, ich ignoriere es, wenn ich etwas besser weiß, diesmal war es jedoch geradezu renitent und versuchte noch bis Paderborn, mich von der A44 diagonal zur A2 zu lotsen.

Die nagelneue A38 sticht am Kyffhäuser vorbei tief in den Osten, der aussieht wie die Kupferschieferabraumhalden im Land, das sich nach den stärkeren Verwerfungen im Harz auf Leipzig hin sanft wölbt. Ich hätte gern weiten Blick gehabt, aber die Luft hatte den Aggregatzustand H2O, alles war Gischt.

Ersten Kontakt mit den ehemals sozialistischen Eingeborenen nahm ich in der Raststätte Rohnetal Süd auf. Wenn man dort sitzt und den Hals ein wenig verrenkt, sieht man den Kyffhäuser, in dem, wenn mich nicht alles täuscht, jemand hockt, möglicherweise der Kaiser Barbarossa. Der Eingeborene war weiblich und erklärte, dass die Bockwurst, für die ich mich entschieden hatte, erst noch erhitzt werden müsse. Aha, sagte ich, gut. Das dauere nicht lang und man werde sie mir dann an den Tisch bringen, sagte die Eingeborene. Danke, sagte ich und fragte, was das denn für spitzkegelartige Hügel wären, ringsum. Kupferschiefer, erklärte sie, und gar nicht weit gäbe es auch ein Bergwerk, da könne man einfahren, 238 Meter tief.
So etwas täte ich gern einmal. Einmal war ich in Bochum eingefahren, hatte mich schon gefreut, musste dann aber zu meiner Enttäuschung feststellen, dass der Schacht nicht etwa 1000 Meter unter der Erde lag, sondern höchstens zwei Stockwerke tief, ein Museumsschacht, Hollywood quasi, fake, wie alles aus Hollywood.

Hier aber und an diesem Donnerstag war ich im Auftrag des Herrn unterwegs, ich hatte zu tun, man erwartete mich, möglicherweise würde ich Präsidenten und Könige treffen, ich hatte also keine Zeit und setzte mich in Fensternähe der Raststätte, hochmodern, nicht einmal geschmacklos wie die meisten Raststätten, und starrte in den Niesel. Irgendwann kam die Wurst, wenn auch ohne Besteck und Senf, was ich nachforderte. Der Eingeborene, der ja Jahrzehnte Eigentinitiative nur entwickelte, wenn es um seine Datsche ging, entschuldigte sich wortreich und brachte das Geforderte. Ich aß und brach wieder auf. Noch 120 Kilometer bis Leipzig. Da alles Gischt war, konnte ich die Himmelsrichtung nicht erkennen, was mir nicht gefiel.

Die Autobahnen im Osten sind dank der Aufbauhilfe Ost in hervorragendem Zustand. Wie frisch gebügelt rollen sie über Land, der Verkehr war mäßig, das Fortkommen problemlos. Unterwegs glaubte es kurz, dass die A38 bei Bleicherode aufhöre, quasi im Nichts verschwände, forderte mich auf, die Autobahn zu verlassen, aber ich bin ja nicht blöd, ich fuhr geradeaus.

Den Zielort findet das Navi ohne Problem, Leipzig linkerhand, vorbei an einem riesigen Freizeitpark, der unwirklich da liegt, verwaist in einer Grassteppe durchsetzt von Birken und kleinen Seen, Ich lande gegen 14:30. Mein Hotel ist fünf Minuten vom Bahnhof und der historischen Altstadt. Jetzt erst einmal ruhen, ein bisschen ruhen, dann in Ruhe schauen.

Das Hotel, ein Arthotel, gefiel mir. Die sonst übliche Depression, die mich in Hotels augenblicklich anspringt, sprang daneben.

Nach einer kleinen Ruhepause machte ich mich auf den Weg, ging herum, fand die Moritz Bastei, Ort des Lesungsmarathons am Abend, und als ich so da stand, um mich auf dem kleinen, innerstädtischen Plan, den man mir an der Rezeption gegeben hatte, zu verorten, fragte jemand, ob er helfen könne. Ich bedankte mich, nein, ich käme zurecht, aber so etwas stimmt doch froh. Jede Stadt sollte Menschen einstellen, die nichts weiter tun, als freundlich zu Fremden zu sein. So etwas klingt nach. Man erinnert sich und denkt gleich, dass alle in dieser Stadt freundlich seien.

Den Regen jedoch bringt auch das nicht fort, und das Essen in dem kleinen syrischen Bistro, in dem es viele Gerichte gab, die ich aus meiner Zeit als Kellner in einem syrischen Restaurant erinnerte, machte es auch nicht besser.

Auerbachkeller, Nikolai und Thomaskirche, Mädlergasse und Barfußgässchen, alles hatte ich schon gesehen, die Frage aber, ob ich mich später noch zur Moritz Bastei bewegen würde, hatte ich abschlägig beschieden. Sollten sich die Autoren doch ohne mich um Kopf und Kragen lesen. Alle würde da sein, so viel wusste ich, aber Reisen strengt an, ich hatte Lesestoff, und morgen würde ich selbst lesen müssen, also Ruhe.

Außerdem gab es ja diese fortlaufend spannenden Berichte über Fukushima und Libyen. Dem Anschein nach wollte ein wildgewordener französischer Präsident (kaum größer als Napoleon) einem wild geborenen Revolutionsführer endlich mal zeigen, was eine Harke ist. Na dann viel Vergnügen, dachte ich und wendete mich um, um den Apfel zu fotografieren, der auf meinem Bett lag, als ich das Zimmer betrat.
Und dann war da ja auch noch ieser Spruch überm Bett, der mich beschäftigte.

Ziel der Kunst ist nicht die Darstellung der äußeren Erscheinung der Dinge, sondern ihrer inneren Bedeutung. Denn die - und nie äußerer Manierismus bzw. Detailarbeit - ist die wahre Wirklichkeit.

Danke, Herr Aristoteles.
Hinweise von Kollegen nehme ich immer gern entgegen.

Eine Plastikkarte mit Magnetstreifen hatte mir die Zimmertür öffnen sollen. So etwas ist modern, aber ich brauchte eine Weile, eh ich begriff, dass die Karte auch die Stromkreisläufe meines Zimmer aktiviert. Es gab da so eine kleine Vorrichtung an der Wand, in die sie schieben musste.

Als ich aber nach einem Einkauf bei Aldi im Hauptbahnhof zurückkehrte, funktionierte die Karte nicht mehr. Wie der Ochs vorm Berg stand ich da, versuchte alle drehbaren Varianten, ohne Erfolg. An der Rezeption programmierte man die Karte neu, aber auch danach ließ sich die Tür nicht von mir öffnen. Ich erinnerte mich, dass mir Ähnliches schon in Braunschweig passiert war, in einem dieser großen Hotel, ein grauslicher Kasten. Auch dort hatte zur Rezeption gehen und um Hilfe bitten müssen. Eine junge Frau war mitgekommen und hatte die Tür mit einem Lächeln geöffnet.

Ich hatte mich geschämt, mich alt gefühlt, und ahnte, dass dasselbe gleich wieder passieren würde. Aber mir blieb nichts, ich musste ja in mein Zimmer. Die junge Frau an der Rezeption kam also mit mir hinauf, schob die Karte in den Schlitz und zog sie blitzschnell wieder hinaus, das grüne Licht blinkte, die Tür ließ sich öffnen. Das ist gemein, sagte ich. Ach, man muss das nur einmal wissen, sagte sie.

Vielleicht wiegt Aristoteles über mir etwas schwer. Vielleicht ist es aber auch die Aufregung. Das Bett ist bequem, dennoch schlafe ich flach. Ich erwache ein paar Mal. Ich denke, gut, ich schaffe das schon, morgen. Zwischendurch das dumpfe Poltern der Straßenbahnen, die Richtung Bahnhof fahren. Erst sechs. Ich drehe mich noch einmal um. Ich schaue Nachrichten. Auf NTV die Welle in Endlosschleifen. Ich kann sie nicht mehr sehen.

Dann ist Frühstückszeit. Gestern hatte ich im "Menschenflug" von Hans Ulrich Treichel gelesen (knochentrocken, der Mann, lakonisch sein Humor, ein Ostfale eben), dass die Häufigkeit bunter Oberhemden bei Männern ab Fünfzig zunähme. Mein orangenes Hemd ist ein sehr schönes Hemd, mit Alter kann das kaum etwas zu tun haben, eher mit meiner Renitenz gegen Kulturschwarz. Außerdem bin ich über sechzig.

Im Frühstückraum erwartet mich eine Mischform aus absurdem Theater, Volksbühne und messerscharf pointiertem Gesellschaftsdrama, aber ich bin kein Zuschauer, ich stelle dar. Der Weg zu meinem Tisch wird von Augenpaaren gesäumt. Jedes mustert, taxiert und zieht Schlüsse. Es ist nicht einfach, diesen Catwalk zu laufen, ohne zu verstolpern oder Tischkanten zu touchieren. Früher wurde ich bei so etwas gerne rot.

Ich erreiche meinen Tisch. Der lange, wie ein Bummerang gebogene Frühstücksraum liegt hinter mir, vor mir das Buffet. Es sieht gut aus. Es ist von großer Vielfalt, so dass ich erst einmal nachdenke, eh ich meine Runde beginne. Die Wand hinterm und überm Buffet ist verspiegelt. Ich kann also alle beobachten. Prima.
Der Chef des Hotels, Mitte Dreißig, rosafarbener Pullover, enge schwarze Designer-Jeans, Halstuch, grüßt und sagt, er habe jetzt Zigaretten, wenn ich also wolle, später, gern. Danke, sage ich. Kaffee? Capuccino, sage ich. Gern, sagt er. Ihre Zimmernummer?

Das mit den Zigaretten muss ich erklären. Obwohl ich seit einigen Wochen Pfeife rauche, ist mir hin und wieder noch nach einer Zigarette. Ich hatte ihn also beim Einchecken gefragt, ob er Zigaretten habe, hatte ihm dreißig Cent geboten, er hatte abgelehnt und mir eine geschenkt. Das Geld hatte ich ihm dennoch heimlich in die Schachtel gelegt.

Womit beginnen? Fruchsalat vielleicht. Erst einmal einen Capuccino, Fruchtsalat löffeln und die Inszenierung wirken lassen. Der Frühstücksraum ist übersichtlich, funktionale Stühle und Tische, großformatige Bilder an den Wänden. Bunte Szenen aus Filmen scheinen das, auf einem steht Nicolas Cage und schaut mich herausfordernd an. Besser als Hirsche auf jeden Fall.

Im Spiegel hauptsächlich Frauen zwischen 30 und Mitte 40. Dunkle, lässige Kleider, fließende Stoffe, ein Hosenanzug, eine mit mädchenhaft hohen, schwarzen Schnürschuhen (früher Punk), zwei dunkelblaue Kostüme, Schals gegen erste Falten. Mein Bart ist auch Camouflage.

Ich esse ein Croissant, als eine junge schlanke Frau herein fliegt und ich vor lauter Schönheit augenblicklich nicht mehr weiß, wo ich hinschauen soll. Francoise Hardy, mein erster Starschnitt. Soll ich ihr sagen, dass sie in vierzig Jahren ein leptosomes Gestell ist? Natürlich nicht. Ich mag Hungerhaken. Aber alte Hungerhaken sehen furchtbar aus. Sollte sie dicker werden, was ihrem Typ nicht entspräche, wäre sie eine dicke Frau und hätte ebenfalls Mühe, sich zu lieben. Sie setzt sich an einen Tisch rechts von mir und spricht Englisch mit einer Frau. Die ist groß, kräftig, hat ein hübsches Gesicht mit Doppelkinn, schaut aber traurig drein.
Ich gehe davon aus, dass alle hier auf die ein oder andere Art mit der Buchmesse zu tun haben. Verlagsfrauen sollen am besten jung sein und strahlen, sie sollen geschmackvoll gekleidet und dezent geschminkt ihren Kunden (u.a. mir) vorspielen, dass sich alles um sie (mich) dreht. Ich werde das glauben. Und damit sich ihre Vermutungen über mich bestätigen, zücke ich mein Moleskine und mache Notizen.

Schließlich mache ich mich auf den Weg zur Messe. Mein Navigationsgerät weiß nicht, dass die Nordstraße wegen einer Baustelle gesperrt ist. Ich könnte durchfahren, die Straße ist geschottert, aber noch nicht geteert, Anwohner PKW stehen in Buchten, aber ich kehre um und folge weiteren Anweisungen. An einer Stelle teilt sich die Straße. Das Navigationsgerät sagt, ich solle geradeaus fahren. Aber wo ist geradeaus, wenn sich die Straße halblinks und halbrechts gabelt. Ich fahre rechts und liege richtig.

Zehn Minuten später bin ich auf einem riesigen Parkplatz. Es ist der P1, das merke ich mir. Ich will nicht wieder so herum stolpern wie kürzlich im Parkhaus am Flughafen Düsseldorf. Es ist halb zehn, ich lese um 10:15, ich betrete das Eingangsgebäude, ich werde eingelassen, aber den Zugang zur Halle verweigert man mir mit dem Hinweis, dass auf meiner Fachbesucherkarte nicht vermerkt sei, dass ich im Programm Leipzig liest aufträte, es täte ihnen leid, vor zehn könne man mich nicht einlassen. Ich gehe zur Information, schildere mein Problem, eine junge Frau sagt, sie will sehn, was sie tun kann, geht mit und verschafft mir Einlass.

Das Wiener Kaffeehaus in Halle 4. Ich werde erwartet. Einen Kaffee? Eine Melange, sage ich, denn so heißt das, was ich in Wien immer getrunken habe. Ich spreche mit einer jungen Frau vom Hauptverband des österreichischen Buchhandels. Sie hat mein Buch gelesen, sie hat Fragen vorbereitet, sie wird gleich ein paar Wort zur Eröffnung sagen, ein kurzes Interview führen, dann bin ich dran.
Wir checken die Mikrofone.
Test Test, sagt man, sage ich ihr.
Test Test Test, sagt sie.

Die Mikrofone haben einen sehr begrenzten Kegel, was den Sprecher zwingt, nah heran zu gehen. Zum freien Sprechen mag sich das eignen, zum Lesen nicht. So eine Stellung lässt wenig Gesten zu. Ich lese am liebsten stehend. Es atmet sich besser und der Körper kann mitlesen. Ein Headset hätte ich gern, aber das haben sie nicht.

Ich ruckle hin und her, ich lese aus meinem Roman und es dauert, eh ich die Position finde, in der das Mikrofon nicht ploppt. Die Gäste des Kaffeehauses sind weder Kinder noch wegen mir hier. Sie waren unterwegs, sie wollten einen Moment ausruhen mit Kaffee und Kuchen, und so sitzen sie da und ich lese und schaue. Schaut einer zurück, lese ich ihn an. Kommt jemand, sage ich Guten Tag. Bleiben welche unschlüssig stehen, fordere ich sie auf, sich zu setzen.
Mediale Aufmerksamkeit habe ich nicht. Auf so einer Buchmesse hat nur Gewicht, wer ein Gesicht hat, das jeder kennt oder eines, von dem jeder glaubt, es kennen zu müssen. Die Frau vom Verlag sitzt abseits, wir wechseln hin und wieder einen Blick. Ich bin zufrieden. Ich lese gern, sogar hier. Im bin stolz. Ich werde bezahlt, und mache es so gut es geht. Die Frau vom Verlag ist groß und schlank, ihre Augen sind schön. Nach der Lesung trinken wir eine Melange. Sie sagt, dass sie meinen Roman mag und dass die Signale der Vertreter vielversprechend klängen.

Wir sprechen über die Rezeption von Kinderliteratur. Besser, über die kaum stattfindende, denn in Feuilletons findet sie wenig Beachtung. Und dann gäbe es Menschen, die schicken uns Manuskripte und schreiben, sie trauten sich nicht, für Erwachsene zu schreiben, deshalb hätten sie erst mal ein Kinderbuch versucht, sagt die Frau vom Verlag. Und? frage ich. Solche Manuskripte gehen doch hoffentlich in den Schredder. Sie nickt lachend.

Stimmen.

Stimmen und ausdünstende Menschen, um die Fernsehstudios Trauben Neugieriger, Veronika Ferres sitzt unterm Scheinwerferlicht und erzählt von guten Taten, während überall junge Menschen in Manga Kostümen herumgehen, offenbar eine populäre Form des Exhibitionismus. Bunt sind diese Kostüme, schrill viele, manche offenherzig.
Als ich von einer Halle zur nächsten wechsle, geht neben mir eine Frau. Sie ist knapp über zwanzig, kalkweiß geschminkt, trägt ein gleichfarbiges Tüllkleid und läuft barfuß. Ob ich sie etwas fragen dürfe, frage ich und sie nickt. Wer sie sei, oder besser: warum sie so herumlaufe, ob sie eine dieser Mangas wäre? Im Japanischen gäbe es keinen Plural, sagt sie, sie studiere Japanologie, es müsse also Manga heißen, aber nein, sie sei kein Manga, sie sei ein Geist, Sofie, aus einem Roman gleichen Namens. Aha, sage ich. Sofie. Wie heißt der Autor. Das weiß die junge Frau nicht, und offenbar weiß sie auch nicht, warum sie so herum geht, was, schätze ich, kaum jemand der hier Anwesenden weiß und zu einer der Grundfragen der Philosophie führte, wollte man bohren.

Ich war auf dem Weg zum Literaturcafé, um Wolfgang T. zu treffen, der gerade ein Interview mit Mathieu Carriere hinter sich hat, in dem dieser von seinem gerade veröffentlichten, etwas wirren Roman erzählte. Auch so ein Gesicht, das sich der Synergieeffekte bedient, die öffentliche Gesichter generieren, schnell ein Buch schreiben oder eines schreiben lassen, es gibt ja genügend Schreiber, die am Hungertuch nagen, und dann Kasse machen.

Kaum zurück im Hotel erfahre ich, dass mein Treffen mit der Lonely Husband aus Berlin ausfällt. Die Veranstalter des Revue Theaters haben nicht genügend Karten verkauft, das ist schade, einer der beiden ist ein langjähriger Freund, wir sehen uns ein, zweimal im Jahr, früher spielten wir in einer Band, die Groove Missiles hieß, heute abend wäre unser erstes Treffen seit einem Jahr geworden, er lebt in Berlin, aber daraus wird nun nichts.

Das heißt, es ist Freitagabend, ich bin frei und kann tun und lassen, was ich will. Ich wüsste, was ich am liebsten täte, aber das werde ich nicht tun. Die Vernunft sträubt sich, die Stimmen, die rufen, ich solle drauf scheißen, sind laut, aber ich beuge mich der Vernunft. Das ist vernünftig. Und was war es, was ich nicht tat, aber eigentlich hätte tun wollen? Ich weiß es nicht mehr. Wird wohl so wichtig auch nicht gewesen sein.

Ich habe (das reicht ja) heute einen guten Eindruck hinterlassen. Jetzt heißt es ruhen. Fern der gewohnten Umstände ruhen, das Zimmer ist zu ertragen, was in Hotels selten ist, denn meist kann man in diesen Zimmern kaum mehr tun, als wie Falschgeld herumliegen. Die Wahl war also eine gute Wahl, der Preis ein happiger, aber der österreichische Hauptverband des Buchhandels zahlt ja.

Ich werde allerding noch essen müssen, und später werde ich um den Block ziehen. Die jungen Verlage schmeißen eine Party in der Alten Hauptpost, ein Gebäude aus DDR Tagen, das Modernität suggerieren sollte. Was den Verlag meines vorletzten Romans angeht, habe ich Zweifel, ob die Kraft noch reicht, das Unternehmen zum Erfolg zu führen. Scheitern wäre schade, denn er macht so gute Bücher.

Was ich überhaupt nicht beherrsche, ist der gepflegte Schlaf am Spätnachmittag. Ich kann liegen und nichts tun, das schon, ja, aber das Bewusstsein verliere ich nicht, das bringe ich nicht hin, offenbar hänge ich zu sehr an meinem kleinen Schriftstellerleben. Seit ich die Messe verlassen habe, sind gut zwei Stunden vergangen, ein kurzer Blick auf NTV hat mir versichert, dass die Katastrophe noch längst nicht ausgestanden ist, die Bekämpfungsmethoden scheinen ein wenig unorthodox, die Welt ist heillos verwirrt und ich denke, vielleicht sollte ich duschen.

Ziegenkäsemedaillon auf Kirschtomatensalat, Kräutercrostinie und Ahornhonig als Vorspeise. Danach gebratene Bachforelle auf mediterranem Gemüseragout, Flusskrebse und neue Kartoffeln. Ich speise im Fürst. Ich denke, ich bin im Barfußgässchen, anders lässt sich diese von Sonnen(regen)schirmen überdachte, mit Heizpilzen befeuerte, von vielen Touristen begangene kleine Straße kaum erklären.
Sie werden wissen, dass so ein Heizpilz so viel CO2 ausstößt wie eine mittlere Ochsenherde, ich hoffe, Sie sind empört, aber ich bin in der Stadt der Bewegung, die Stadt, deren Bürger schon zu DDR Zeiten während der Messe Kontakte zum Klassenfeind knüpfen konnten und offenbar Lehren daraus gezogen haben.
Eine blonde Sächsin bringt mir auf meine Bitte eine Zigarette und weigert sich, 30 Cent anzunehmen. Der Trick funktioniert. Jeder Süchtige fühlt solidarisch mit anderen. Bis das Essen kommt, werde ich den paradierenden Menschen zuschauen. Ich trinke Riesling aus sächsischem Anbaugebiet. Saale-Unstrut sagt die Sächsin und ich sage, Wein aus Sachsen, das hätte ich nicht gedacht, und Sie sagt, da können Sie mal sehen, selbst ein Wessie kann dazulernen. Wir freuen uns über diesen kleinen gelungenen Satzwechsel und finden uns sympathisch.

Auf dem Weg hierher fragte ich einen bärtigen Mann meines Alters, ob er Leipziger sei und ich ihm eine Frage stellen dürfe. Er sagte ja und ich fragte ihn, ob der Leipziger stolz sei auf seine Stadt, in der ja vor 20 Jahren etwas begann, was im Augenblick ganz ähnlich (wenn auch blutiger) in arabischen Ländern stattfindet. Er nickte lachend, ich glaube aber, dass er den Grund für Stolz gar nicht in den politischen Impulsen verortete, sondern einfach nur grundstolz war.

Das Ziegenkäsemedaillon wird gebracht, und während ich koste, taucht Herr Moor auf. Kameraleute wollen filmen, wie er ein Restaurant verlässt. Also geht er einmal hinein und kommt wieder heraus, und ich überlege, ihn anzusprechen. Vor eineinhalb Jahren hatte er in einer Schule irgendwo in der Uckermark aus Flanken, Fouls und fiese Tricks gelesen (einer meiner Romane), ich war im Internet darauf gestoßen, da könnte ich ihn doch ansprechen, oder? Eh ich mir ein Herz fasse (was sagt man denn in solchen Fällen), ist er auch schon wieder fort, rauchend. Macht nichts. Ich sitze, esse und bin gespannt, wer sonst noch vorbeikommt.

Als ich letztes Jahr durch Schwerin streifte, kam ich in eine Straße, wo an einem Haus Fotos aus der Vorwendezeit hingen. Das Schwerin, das ich gesehen hatte, war aufs Feinste renoviert, die Fotos aber zeigten dieselben Häuser in erbarmungswürdigem Zustand.

Wie es wohl hier ausgesehen haben mag, dachte ich, all die prächtigen Häuser der Leipziger Altstadt, die Bürgerhäuser in der Mädlergasse und rings um die Thomas- und die Nikolaikirche. Und während ich so sitze, grüble und schaue, fällt mir auf, dass der selektive Wahrnehmer in mir längst umgeschaltet und schon drei oder vier Pfeifenraucher aus der Menge gefischt hat. Selektive Wahrnehmung ist ein interessantes Phänomen.

Noch ist der Abend jung, es regnet nicht, die beiden rumänischen Akkordeonspieler gehen auf und ab und spielen zerhackte Versionen beliebter Melodien. Ich vermeide, sie anzuschauen, ich will nicht geben, ich will nur sitzen und meine Ruhe haben, das ratlose Schweigen des Ehepaares am Nebentisch deuten, die lautstarke Fröhlichkeit der sieben, acht jungen Männer vor mir und das unruhige Flackern der beiden Blondinen weiter rechts. Die einzigen, die ich beneide, ist das Paar ganz außen rechts, knapp über zwanzig, glücklich aus allen Poren, sie schauen, sie küssen, sie wollen sich nah sein.

Als der Abend älter zu werden beginnt, mache ich mich auf den Weg zu Alten Hauptpost am Augusta Platz. Aber der Abend ist noch nicht alt genug, junge Verlage laufen erst gegen Mitternacht zur Form auf, also bleibt noch Zeit, unbehelligt herumzugehen in diesem Gebäude, das vom Modernismus der DDR künden sollte. Diskokugeln drehen dem Beton der Siebziger lange Nasen, in Nischen wird Flaschenbier verkauft, zwei DJ's legen auf. Irgendwann tanze ich. Tanze und beobachte, während ich von den Herumstehenden beobachtet werde.

Was die junge Frau mit More than love & peace T-Shirt wohl ausdrücken möchte, fragt sich der alte Herr Mensing in mir, denn ich müsste es doch eigentlich wissen, ich bin schließlich Zeitzeuge. Nichts, denke ich schließlich. Das Alleintanzen ist fad. Morgen habe ich einen weiten Heimweg vor mir. Ich gehe. Auf dem Platz vor der Nikolaikirche kommt mir ein verwachsener Mann im Elektrorollstuhl entgegen und meint, ich müsse Schriftsteller sein. Er sammle Flaschen, erzählt er, er spricht von seinem Hund, einem Malteser, und als ich ihm sage, ich stamme aus Münster, meint er, das sei doch die Stadt der Radfahrer.

Am Morgen fahre ich heim.
An der A14 zwischen Halle und Magdeburg liegt ein toter Waschbär.
Ich bin immer noch nicht berühmt. Sauerei.




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