März 2016                      www.hermann-mensing.de      

    

mensing literatur
 

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Di 1.03.16 10:08

Leicht verhangene Sonne, kalt. Die Welt steht Kopf. Krakeeler bestimmen das Tagesgeschehen. Politiker lassen sich von Rechtspopulisten treiben. Täglich wird eine Asylunterkunft angegriffen, weil "Wir das Volk" sind. Wenn das das Volk ist, bin ich das Gegenteil. Wo man hinschaut, Populisten, Despoten, Krieg, Korruption, Verrohung.

13:50

Immer, wenn im März die Sehnsucht groß und größer wird, das Wetter aber noch nicht mitspielt, kurz vor meinem Geburtstag also, wenn das System vor Erkältungskrankheiten kapituliert, immer im März, und in diesem besonders, bleibt nichts als warten.

18:12

Kraniche überfliegen den Aasee aus Osten kommend nach Nordwest, etwas seltsam, aber wer weiß, vielleicht haben sie eine Runde über der Stadt gedreht, um sich besser in Szene zu setzen. Ein Haubentaucher hat seine Federn wie einen Fächer um seinen Kopf gespreizt. Ein Fasanenhahn steht auf der Wiese und schreit. Die Evolution hat ihnen fantasievolle Kleider gewebt und poetische Tänze in die Gene geschrieben. Regen wechselt mit Graupel, Himmel, Erde, Flora und Fauna, alles ist Suizidgrau. Auf dem Fahrrad ein älterer Mann, vornübergebeugt, auch im Frühjahrmodus. Wem seine Balz gilt, hat er vergessen.


Mi 2.03.16 12:12

Keine Bewegung, sagte der zweite März. Ich zuckte, aber ich hielt mich dran, denn er hat Waffen. Eiskalt bakterielle, alle Arten von Infektionen, am Horizont sogar blauen Himmel, aber der war ein Fake, er galt nur für die, die die Geschäftsbedingungen akzeptiert und all ihre Daten in eine Maske eingefügt hatten, doch wenn sie dann ran wollten, wenn sie den Himmel gern für den Rest des Tages fixiert hätten, stellten sie fest, dass sie noch mal extra Gebühren zahlen sollten, happige Gebühren, sie waren also wieder einmal reingefallen, wie man immer reinfällt, wenn man im Netz irgendetwas vermeintlich Günstiges abgreifen möchte. Ein Glück, dass ich auf dem Sofa geblieben war.

15:26

Zwischen 13:45 und 15:00 schien die Sonne. Eigentlich hatte ich mit mir reden und unter der Decke schlummern wollen, das Reden (wir sagen wir, wenn wir diskutieren) hatte etwas Klarheit gebracht, das Schlummern aber war angesichts des Lichts keine Option mehr, ich zog mich an und ging vor die Tür. Eine Ahnung lag in der Luft, die sich im Augenblick noch in von Sonnenlicht illuminiertem Regen zeigt. Ich ging einkaufen. Im Netto-Markt kämpfen junge Menschen mit Warenbergen, immer fehlt ein Kollege, überall fehlen Kollegen, und immer rufen Kunden, können Sie bitte noch eine Kasse aufmachen, und kaum einer hat einen festen Arbeitsvertrag. Ich kaufte Nötigstes und setzte mich gegenüber ins Café. Dort sagt man Herr Mensing zu mir.


21:31

Zur Nacht schreibe ich nicht. Zur Nacht schweige ich. Das macht fünfzehn Lügen bis Satzende.



Do 3.03.16 10:50

Wir müssen hierhin und dorthin. Nichts duldet Aufschub.

18:35

Überwältigende Himmelserscheinungen den ganzen Tag, vor allem aber zu Abend, eisblau, taubengrau, ein Regenbogen kurzzeitig.


20:24

Wie kam es, dass Sie Frau A. aus dem Fenster warfen?
Sie hatte geraucht.
Geraucht?
Ja.
Deswegen wirft man doch niemanden aus dem Fenster.
Sie hatte es verdient.
Warum?
Sie hatte die Achtung verloren.
Hatte Sie etwas gesagt oder getan?
Nein.
Hätten Sie nicht mir ihr reden können?
Nein. Sie hielt sich für etwas Besseres.
Bereuen Sie, was Sie getan haben?
Nein. Ich finde nur schade, dass Sie in diesen Busch gefallen ist.


Fr. 4.03.16 00:25

Im letzten Jahr hat mein Verlag 159 Exemplare meines letzten Romans verkauft. Jetzt will er mir Geld überweisen. 66,01 Euro, aber so einfach geht das nicht. Der Verlag ist in Österreich, und Österreich braucht meine Ansässigkeitsbescheinigung. Erst, wenn Österreich weiß, dass ich in Münster lebe, darf der Verlag mir Geld überweisen. So ein Papier erhält man beim Finanzamt, dachte ich. Meine Sachbearbeiterin im Anlagebezirk 14 íst aber montags nie im Dienst. Dienstags rufe ich wieder an. Sie sagt, Sie werde mir etwas schicken, und schickt eine Anleitung, wie ich die Bescheinigung als PDF von einer Webseite des Finanzamtes in doppelter Ausfertigung herunterladen kann. Das gelingt mir. Ich fülle es aus. Dabei fällt mir auf, dass ich einen Stempel benötige. Also zum Finanzamt, dritter Stock, Zimmer 3... Meine Sachbearbeiterin ist freundlich. Außer vor Türen und Fenstern stehen in ihrem Büro bis an die Decke reichende Regale und darin grüne, graue, rote. braune und orangefarbene Mappen. Das hört nie auf, sagt sie, nachdem ich erzählt hatte, die Regale erinnerten mich an meine mit den Manuskripten. Eben, sage ich.


11:33

Ich lese jeden Tag "meine" SZ und scrolle das Netz nach Zusatzinformationen. Heute stößt mir mächtig auf, dass Volker Beck, der mit so gut wie nichts von "irgendetwas" erwischt wird, überall Thema ist. Ganz vorn natürlich die Bild, die abenteuerlichste Verbindungen knüpft (Hitlerdroge), dabei hat weder die Staatsanwaltschaft noch sonst irgendjemand gesagt, was dieses "irgendetwas" denn ist. Und dann natürlich dieses europäische Trauerspiel um die Flüchtlinge. Man begreift jetzt, wie das mit den Juden war, wo alle möglichst in die andere Richtung geschaut haben. Wir? - Wir wollen die nicht. Sollen doch die anderen... Das Schlimmste ist: ich bin mittendrin und kann nur Romane schreiben, die niemand kaufen will. Nur die Kinder, denen ich daraus vorlese, finden sie toll.


15:52

Angenommen, ich finge an zu schreiben, kein Wort würde ich über den Schnee verlieren, der mich im Haus hält. Keinen Hund würde ich vor die Tür jagen. Notnudeln wären im Schrank. Auch über Frauen - kein Wort. Mein Herz könnte damit nicht umgehen, ich müsste es schützen. Aber zum Glück muss ich nicht schreiben. Es reicht, wenn ich denke. Wie ich sie umarmte. Wie ich sie fortstieße. Wie sie mich anzögen und ekelten. Wie ich nur eine gelten ließe, und alle wollte. Wie die anderen in die Röhre guckten. Stattdessen tränke ich Kaffee, Schreiben machte mich krank, Schreiben hielte mich von allem ab, was wichtig ist: Frauen, Herzen, Schnee, alle Erscheinungsformen von Flora und Fauna. Das zählte und wäre wichtig. Schreiben wäre eitel.


Sa. 5.03.16 14:45

Man hätte es neblig nennen können, aber nicht die Art neblig, bei der auf den Autobahnen PKW ineinanderkrachen, weil die Fahrer zu dumm sind, ihre Situation einzuschätzen, verblödet von computerisierter Sicherheit, die suggeriert, dass auch bei zweihundert nichts Gravierendes geschehen kann, nein, so ein Nebel war es nicht, wenngleich ich nichts dagegen gehabt hätte, denn ich höre gern, wie Blech sich verformt, Reifen quietschen und Martinshörner sich überschlagen, so ein Nebel also, um dieses Thema abzuschließen, herrschte nicht, aber, und das ist die eigentliche Meldung, wenn Nebel in den Koniferen hängt, weiß ich, dass es wärmer wird, und ich stelle mir vor, wie die Welt bald von strengem Schwarz-Weiß- in den verschwenderischsten Farbmodus wechselt, während schon überall gebalzt und gefickt wird, was das Zeug hält.


Mo 7.03.16 13:05

Schon ist Montagmittag, das 68te Lebensjahr hat begonnen und ich drücke ihm alle Daumen. Um das 67te zu beschließen, war die Schwester da, die Söhne waren da, die Neffen und natürlich die Enkel. Der alte Herr saß aufgeputzt mittendrin. Jetzt hockt er im ersten Tag seines neuen Lebens und weiß, dass er bald eine Entscheidung treffen muss. Eine von großer Tragweite, die im Stillen schon getroffen, aber noch nicht endgültig ist, weil das Herz noch befragt werden muss, und das Herz ist vor lauter Nebengeräuschen nicht zu hören.

18:33
.
Der Abend verglimmt silbrig mit orangenem Stich.


20:14

alles liebe, meine liebe
komm, das leben ist nicht ernst,
das sind doch nur alte triebe,
die erinnern uns entfernt'st
nur an dies - das verlor'ne paradies.


Di 8.03.16 19:44

Menschen liegen tot an Stränden, Menschen rennen, werden getroffen, zerrissen, pulverisiert. Mein System schaltet das weg. Das ist weit weg, sagt es, damit hast du nichts zu tun, wenn du dich sorgen willst, sorg dich um dich und deine Leute. Dazu Mozarts Divertimento No 15 B Flat Major über Spotify gestreamed, Canale Mussolini von Antonio Pennacchi im Schoß, Seite 87, Whisky, und später ein paar Züge aus meinem DaVinci.


Mi 9.03.1610:40

Ich wollte den Kilometerzähler meines Fahrrades programmieren, hatte aber keine Bedienungsanleitung. Auf der Rückseite des kleinen Apparates ist ein Set-Knopf. Um ihn zielgenau zu treffen, braucht man einen spitzen Gegenstand, am besten eine Kugelschreiberspitze. Wie oft man dann drückt und die auf der Vorderseite liegende Mode-Taste bedient, ist eine Sache von Versuch, Fehler, erneutem Versuch, etc. Während ich über die sich häufenden Fehlversuche unwirsch wurde, fiel mir ein, wie meine Frau und ich auf Ameland eine dieser ersten billigen Digitaluhren kauften, die auch so einen Set-Knopf hatte, der uns in einen handfesten Streit trieb. Unser erstes Kind, das heute 35 wird, war zwei oder drei Jahre alt. Mitten in diesen Erinnerungen fragte ich sie, ob sie mir nicht raten könne, es sei kompliziert. Ich bin tot, sagte sie. Ja, ich weiß, sagte ich, und dann küssten wir uns, als hätten wir es erfunden.


Do 10.03.16 18:14

Oh ja, ich hatte schöne Frauen,
ich hatte, was ein Herz begehrt,
nur eine wollte mich verhauen,
da liegt sie nun und ist versehrt.

20:44

Seit geraumer Zeit flirrt der untere Bildrand meines Laptops. Als ich das beim Verkäufer ansprach, meinte er, das sei nichts Schlimmes, man könne es reparieren, aber es wäre nicht billig. Also beschloss ich, damit zu leben, doch es nervte. Vor einer dreiviertel Stunde fror mein Bildschirm ein. Mit dem Notknopf zwang ich den Rechner in die Knie und startete neu. Windows normal starten, fragte das System. Ja, sagte ich, oder vielleicht hatte ich ja sagen wollen, ich weiß es nicht mehr, denn nun war mein Bildschirm voller Zahlenreihen, die von unten nach oben aufstiegen, 1 Prozent geprüft etc. pp., zwischenzeitlich aufgeregte Index wiederhergestellt-Meldungen. Jesus, was macht er denn, dachte ich, aber dann war er fertig und jetzt flirrt der Bildrand nicht mehr.


Fr 11.03.16 00:10

da könn' die damen
noch so mit den titten wackeln
ich zieh den matjeshering vor.

11:13

Man putzt seine Zähne und stellt fest, dass aus der Unterkieferprothese ein kaum kleinerfingernagelgroßes Stück gebrochen ist. Aber wo ist es? Hat man es verschluckt? Es muss scharfkantig sein. Mist. Bestimmt wird die Reparatur teuer, alles, was mit Zahnersatz zu tun hat, ist teuer. Man trägt diesen seit fünfzehn, zwanzig Jahren und hatte nie ein Problem. Ein Zahnarzt hat seine Praxis nebenan, aber der Zahnarzt ist krank, und ein Termin ist vor Ostern nicht machbar. Also ruft man den Zahntechniker an, der die Prothese gebaut hat, den kennt man ganz gut. Komm vorbei, sagt der, und schon ist man auf dem Rad. Eine halbe Stunde, länger brauche er nicht, sagt der Zahntechniker. Und dann will er nicht einmal Geld, man solle ihn mal auf ein Bier einladen, sagt er.

18:40

2016 Bürger der EU zu sein, tut sehr weh. Das war nicht immer so. Mit vierzehn brannte ich geradezu für diese Idee. Ich fuhr als Korrespondent unserer Schülerzeitung zu einer Tagung über die Montanunion. Die hatte wenige Mitglieder, und alles drehte sich um die Zusammenarbeit bei Kohle und Stahl. Um Menschen nicht unbedingt. Im gleichen Jahr befreundete ich mich mit einem französischen Pfadfinder. Wir wurden Blutsbrüder, beschworen die deutsch-französische Freundschaft und kamen uns bedeutend vor. Bald würde ich Europa bereisen. Weil ich an einer Grenze groß geworden bin, wusste ich, wie sehr eine so sinnlose Markierung dennoch den Alltag verändert. Toiletten, Treppenstiegen, Lichtschalter, Waren in Supermärkten, Schornsteine, alles wurde anders, und wird es noch jetzt, staunenswert anders. Ich würde also noch viele Länder bereisen müssen, weil ich so neugierig bin. Und immer wären Grenzen zu überqueren.

Dann waren sie weg, was ich bedauernswert und schön fand, genauso wie ich es bedauernswert und schön fand, dass ich bald überall mit dem Euro bezahlen konnte. Wenn es darum ging, ihn gegen die weitverbreitete Nörgelei zu verteidigen, er mache alles teurer, war ich auf seiner Seite. Die Welt dreht ums Geld, und ich dachte, vielleicht bringt das gemeinsame Geld die Menschen einander näher. 2016 klingt das wie Hohn. 2016 dreht sich alles um Menschen, die möglichst wegbleiben sollen, am Besten, sie söffen ab oder kämen sonstwie um, das ist Europa 2016, alles dreht sich ums Geld, und die europäischen Nazis (die einzigen EU-Bürger, die an einem Strang ziehen) haben ein großes Maul. Man muss denen das stopfen. Man muss mit Argumenten und Rechtsmitteln gegen sie vorgehen. Wenn sie die Straße erobern, wird es brenzlig. Gut, dass Herr Schulz diesen Griechen aus dem europäischen Parlament geworfen hat, wenngleich der wahrscheinlich nur gesagt hat, was ein Großteil aller Griechen über Türken denkt, und Türken über Griechen, und Holländer über Belgier, Belgier über Luxemburger, alle über die Juden und neuerdings über die Muslime. Ich weiß nicht, was zu tun ist, aber ich tue, was ich kann.


Sa 12.03.16
19:26

Sie feiern, sie sind beschwippst, drei Mädchen über zwanzig, trotzdem, Mädchen, laut, giggelnd. Sie könnten zwar nicht Tanzen, sagen sie, aber sie fänden das toll, das sähe so gut aus, sie würden das auch gern mal ... etc. Okay, eine nach der anderen, sage ich. Erst kommt J. dran, blonder Pferdeschwanz, kieksige Stimme, bisschen spirrig, die würde es schnell lernen. S., ganz in schwarz, ist mollig und nicht zu kontrollieren, N. zuckt und zappelt wie eine Bauchtänzerin auf Speed. Als ich frage, wie sie heiße, sagt sie N. Iranerin? Türkin, sagt sie. Sicher heißt das schöne junge Frau mit lackschwarzem Haar und Schokoladenaugen, sage ich. Sie strahlt.


So 13.03.16 13:13

bewegen?
zurückrudern?
reicht es
?

21:54

Ich weiß nicht mehr, wie wir ins Gespräch kamen, ich stand mit dem Gitarrenbauer am Stehtisch beim Eingang, wir redeten über Rheuma, und sie saß rechts hinter mir. Groß, blond, blaue Augen, Rock in Vanille, Bluse in Eierschale, Perlenkette, Marika Kilius Typ. Nach ein paar Runden sagt sie, wie sie heißt, aber ich greife vor, Fakt ist, wir müssen ins Gespräch und sofort zum Wesentlichen gekommen sein. Ich sagte noch, ich sei Anfänger. Darauf sie, das sei kein Problem, sie habe
schon lange nicht mehr. Und dann schreiten wir los. Da ich führen kann (ich weiß das, weil man es mir häufig sagt) habe ich Vorteile. Das Gehen beim Tango ist gar nicht schwer, wir schreiten also zu beidseitigem Erstaunen und zur Freude darüber, wie gut es funktioniert, was sie jetzt endlich veranlasst, ihren Namen zu nennen. Reinhilda, sagt sie. Der ist noch altmodischer als Hermann, sage ich. Mit ein, zwei Stunden Zeit zum Nachdenken hätte ich gesagt, dass bei ihrem die Ritterrüstungen der Minne klappern. Aber wie gesagt, die Zeit hatte ich nicht, wir tanzen, wir harmonieren, wir tanzen und sie ruft Eckdaten durch. Mann Mediziner, aber "Stock im Arsch", vorheriger Tanzpartner Mathematikprofessor, tanzte alles zu kompliziert, unmöglich, und ob ich nicht mit ihr einen Kurs machen wolle? Ich sage, da sind noch vier andere vor dir, Reinhilda, die waren schneller, falls ich einen Kurs mache, ist eine von denen dran.


Mo 14.03.16 9:04

Die Nacht war kalt, der Himmel strahlt, alles ruft nach einer großen Tour.

23:16

Na ja, so groß war sie nicht. Einmal Senden und retour, dabei den besucht, der immer noch seine Skulpturen baut, seine neue Werkstatt angeschaut, mit ihm Eis gegessen und ein Zigarillo geraucht, auf dem Heimweg dann zu unserer alten Nachbarin aus der Erphostraße, wo C. und ich Ende der Siebziger lebten. Sie lebt auf einem Kotten, hinter ihrem Haus hört der Weg auf und der Wald fängt an. Sie ist eines von fünf Kindern unseres damaligen Vermieters, alle hatten mit den Künsten zu tun, Musik, Schauspiel, Gesang. Sie ist Witwe, sie hat eine Katze und einen Flügel, sie saust viel durch die Welt, macht Theater und unterrichtet auch noch ein bisschen. Sie zeigte mir Fotos vom Jakobsweg, wo es viele Wanzen, aber keine Wölfe und wilden Hunde wie bei Kerkeling gäbe. Auf dem Heimweg sah ich fünf, sechs, sieben Bussarde, ständig sich etwas zurufend, über einem Feld in Kreisen langsam höher und höher steigen. Als ich zurück war, war ich sehr müde, Schuld war der frische Wind, der mir aus allen Richtungen entgegenblies.


Di 15.03.16 12:14

Dienstag, Kontrastprogramm Grau. Angesichts dessen, was unter den Augen der Welt geschieht, wäre Schwarz die passende Farbe. Geschähe es in Afrika oder sonstwo möglichst weit fort, wäre es schlimm genug, aber es geschieht in Europa, in einer Gegend, die wir Balkan nennen, wo seit dem Zerfall Jugoslawiens viele Ethnien ihren eigenen Verein gegründet haben. Einer heißt Mazedonien und hat die augenblickliche Arschkarte. Morgen wird sie vielleicht an Albanien weitergereicht oder an Montenegro, das ist egal, die AfD schürt die Angst sowieso, um ihre Geschäfte voranzutreiben. Ich liebe Menschen, aber was ich von ihnen halten soll, weiß ich nicht.

20:29

Gegen halb drei kam die Sonne, und sofort atmeten alle auf. Auf der Fahrt in die Stadt und später zurück schrie alles Frühling, Frühling, jetzt dauert's nicht mehr lang. Übrigens, haben Sie Breivik gesehen, dieses Muttersöhnchen, wie geil er sich vorkommt und ihm einer abgeht, als er den Hitlergruß macht.

23:29

Jahrzehnte hatte Herr M. kein Selfie gemacht.
Heute gelang ihm diese beeindruckende Aufnahme.





Mi 16.03.1612:00

Die beiden schauen sich an, nicken einander zu, nehmen ihre Eimer, überqueren die Straße, wo der kleine Nazi steht, den ich letztens im Supermarkt sah, der mit dem Runen-Tatoo am Hals, und leeren ihre Eimer über ihm aus. Nun ist er endlich braun, richtig braun, stinken tut er auch, und die Dinge sind so, wie sie sein müssen.


Do 17.03.16 10:45

In den letzten zwei Stunden ist die Temperatur von 2,9 auf 7,6 Grad gestiegen, was mich veranlasst hat, ein farbenfrohes T-Shirt anzuziehen. Die Fenster habe ich auch geputzt, jetzt darf ich wieder ruhen und auf den Tod warten.

18:39

Die Ostseite der Überwasserkirche ist eingerüstet. Die Gerüstbaufirma heißt Knack. Während ich mit anderen aufgereiht auf einer Mauer sitze und Eis schlecke, wankt das Gerüst plötzlich und stürzt um. Eine Gerüststange spießt H. auf, der gerade vorbeigeht. Der pädophile Priester H. ahnt, dass das Gottes Rache ist und stirbt dankbar. Wir Eisesser applaudieren sparsam, ein wenig mehr Blut und austretendes Inneres hätte uns erheitert, aber man kann nicht alles haben, es war ein schöner Frühlingstag, ich sah Zitronenfalter und riesige Gülletanks hinter Treckern.


Fr 18.03.16 12:49

Kein Wort kommt über meine Lippen. Ich würde niemals verraten, dass .... Doch, ich würde es verraten, natürlich, man kann mir nicht trauen, ich bin Schriftsteller, ich lebe von Verrat, Lüge und Indiskretion. Ich nähre mich von Neugier, ich trinke sie aus Eimern wie Ballermänner Sangria, also sollten wir uns sehen, Vorsicht, ich schriebe über sie. Ich machte aus ihnen eine große kleine Frau, eine, die gern keine Schokolade isst, eine, die ihr Kind ständig an sich reißt, es küsst und subtil unter Liebesdruck setzt. Schon auf dem Treppenabsatz stünde sie, und dann, eines Tages, das Kind ist schon groß, würde es sich ihrer Umarmung entwinden, dabei geriete sie aus dem Gleichgewicht, und .... Nein. Ich verrate es doch nicht. Ich sehe sie ja täglich im Rollstuhl und würde mich schämen.


Sa 19.03.16 16:03

Der Mann steht auf dem Bahnsteig. Er hat Schirm und Koffer bei sich. Er wartet auf den Zug nach Hamburg. Du bist gut, sagt er, du wirfst mich raus, beleidigst mich, du willst mich nie mehr sehen, greifst mich an, und jetzt soll ich mir etwas einfallen lassen? - Er hört zu. - Nee! Niemals. Mir geht es nicht dreckig, obwohl ich dich vermisse. - - Das dauert eben. Es endet auf jeden Fall in der Zukunft, spätestens auf der Beerdigung. Er schüttelt heftig den Kopf. Fußballfans entern den Bahnsteig. Sie trinken Bier. - Vielleicht habe ich Angst. - Ole Ole Ole Ole, singen sie. - Ich kann mich dir nicht mehr zumuten, ich kann auch nicht mehr so tun, als wäre das nicht ich, der da so rumeiert, dich liebt und dich wegstößt und wieder von vorn. Ich will mich auch nicht entschuldigen müssen, ich bin so und ändere mich nicht mehr. Der Bahnhoflautsprecher quäkt, dass der Zug verspätet einfahren wird. Die Fußballfans werfen Bierflaschen auf die Gleise. Von beiden Seiten stürmt Bundespolizei auf den Bahnsteig. Der Mann will zur Seite gehen, aber sie rennen ihn um. Er stürzt in eine Bierflasche. Ja, er hat ein Headset. Sein I-Phone liegt auf dem Bahnsteig. - Josef? Josef, aber ich liebe dich! quäkt es. - Ich dich auch. Aber darum geht es nicht, sagt Josef, eh er ohnmächtig wird.


So 20.03.16 10:40

Harte Arbeit steht ins Haus.
Gedichte wollen ausgesucht werden.

17:34

Zehn Gedichte rausgesucht. Jedes radikal gekürzt.
In der kommenden Woche werde ich jemanden treffen, der mein Leben verändert, sagt mein Horoskop.
Ich werde die Augen aufhalten.


Di 22.03.16 11:17

Seltsame Artikulationsprobleme mit dem Wort Lektorat. Zweimal sagte ich Lektoriat, eh man mir soufflierte und ich mich fragte, welche synaptische Verbindung da eingeschnappt war, um mir diesen Streich zu spielen. Fast kam es mir vor, als wolle das andeuten, dass Herr M., der von sich behauptet, ein unbedeutender bedeutender Dichter zu sein, gar kein unbedeutender bedeutender Dichter ist, sondern ein in seiner frühkindlichen Sozialisation steckengebliebener Hermann aus der Bismarckstraße in Gronau, einem entsetzlichen Kaff an der niederländischen Grenze, der Speditionskaufmann und Lehrer gelernt hat, dem aber beides zu anstrengend war. Klarheit war letztlich nicht zu erlangen, denn nach dem Soufflieren strahlte das Wort Lektorat wieder in vollem Glanz, und die verlorengeglaubte Bedeutung kehrte mit Heiligenschein und Siegerkranz zurück.


Mi 23.03.16 20:11

Und wenn ich nun gar nicht wüsste, was Liebe ist, Liebste, womit verbrächten wir dann unsere Lebenszeit?


Do 24.03.16 12:11

Passend zum Vollmond treibt Weltekel mich vor sich her.


Fr 25.03.16 21:26

Konzentriert gearbeitet, Kaffe und Kuchen, Abendessen, nach dem Regen gegen 18:45 plötzlich gleißendes, fast weißes Sonnenlicht. Sofort aufs Rad und bis an den Fuß der Baumberge und zurück. Morgen Tango.


Sa 26.03.16 8:53

Feiertagsblues. Mir fehlt jemand, der die Fäden in der Hand hält. Der Fels meiner Brandung. Der ist aber schon lange tot. Die Feiertage sollen aufhören. Der Alltag ist schlimm genug. Ansonsten aber gute Stimmung. Man fährt Rad (also ich jetzt), man fährt stundenlang durch Stadt und Natur und hofft, dass etwas passiert. Da reicht schon ein totgefahrener Iltis. Da reichen zwei Störche, die hoch am Himmel kreisen, und man weiß nicht, warum tun die das, ist das reine Freude, steigen sie auf, um Afrika sehen zu können? Wenn es aber von früh bis spät regnet, und die linke Hand um den Regenschirm krampft, weil man (also ich jetzt) trotzdem vor die Tür gegangen ist, ist das dem Blues zwar nicht bekömmlich, man heitert auf, aber zuhause, wo die Vergangenheit in jeder Ritze steckt, was ich sehr liebe, befördert Regenwetter den Blues beträchtlich und wir weinen gemeinsam. Man weiß plötzlich, weshalb die Welt trostlos ist, und kann drüber lachen. Sogar IS Henker, die zu zweit eine blutüberströmte Leiche über die Klippen in ein geologisch sensationelles Loch in einem Gebirge Syriens oder Iraks werfen, lachen laut und rufen Allahu akbar.


So 27.03.16 21:53

Herr M. legt sich aufs Sofa.


Mo 28.03.16 23:23

Herr M. verlässt das Sofa und geht ins Bett.


Di 29.03.16 14:23

Herr M. hat das Bett verlassen.

19:43

Herr M. kocht sich eine Kleinigkeit, dann geht er aufs Sofa.


21:49

Auf dem Sofa liegt es sich gut. Es liegen dort 1.2 Millionen Flüchtlinge. Sie essen Chips und machen Unsinn.


Mi 30.03.16 18:19

Mein augenblicklich genutztes Bett steht in unserem ersten Schlafzimmer, wir hatten ein Kind, meine Frau war im dritten oder vierten Monat und hatte eine beste Freundin, die gern über schwangeren Bäuchen pendelte. Wir ließen das zu, glaubten es aber nicht, und das bestätigte sich, denn sie lag daneben. Ich schlafe unterm weit geöffneten Fenster. Luft fließt und ich habe Ausblick auf freien Himmel. Gratis und groß. Ansonsten: Sofa. Viel Sofa in der Hoffnung, es könne mir einfallen, wie ich mich auf die Liebe einlassen kann. Zu dieser Stimmung zauberte mein Gefühlsalgorithmus vor etwa einer halben Stunde, ich bereite gerade mein Essen vor, You really got a hold on me aus dem Hut. Besser hätte ich meinen Zustand nach 67 Lebensjahren nicht bescheiben können. Und dann noch dies, für den Dichter: "Ihr Stil ist klar, aber ihre Gedanken und Gefühle sind düster. Und trotzdem und gerade deshalb haben Sie Humor." (Maxim Biller) Auf den Feldern vor der Autobahn sah ich einen weißen Vogel. Hielt ihn für eine Taube, aber es war eine Krähe.

 





Do 31.03.16

12:29

Sie ist Mitte bis Ende vierzig, von Kopf bis Fuß in fließendes, créme-weißes Tuch gekleidet, immer allein und zu Fuß, häufig am See und wirkt blutleer. Hingabe und Kontemplation erschließen sich nicht jedem, den Ärger, den créme-weiße Kleidung verursacht, weil man sie ständig reinigen lassen muss, will auch nicht jeder, und s
o schreitet sie Runde um Runde und hofft, als Engel zu enden.