März 2020                     www.hermann-Herr M. .de      

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zum letzten eintrag



So 1.03.20 11:45 bedeckt

Ob Herr M. in die Stadt fährt und übern Markt bummelt, ist noch nicht entschieden. Er würde lieber im Bett bleiben. Mir wäre das peinlich. Ich bin Protestant, das heißt, ich war Protestant, aber so etwas hängt einem lange nach. Mein Held fände einen Tag im Bett wundervoll, allerdings müsste alles in Reichweite sein, was man braucht, zu essen, zu trinken, zu lesen. Beckett braucht weiter nichts, er ist Ire, trinkt gern Whisky und wartet. Godot nervt das.

Eine fette Seuche, ein kleiner Dreh an einem der Pole und ihr seid Geschichte, sagt er.
Dann hätte sich zumindest das Warten erübrigt, sagt Beckett.
Wenn das so ist, steh ich nicht auf, sagt Herr M.

Er hat sechs Kissen. Eines, achtzig mal achtzig, dient als stabile Rückenstütze, die vierzig mal achtzig großen als links und rechts einzuschiebene Unterstützung verschiedener Körperregionen. Zwischen sich und die Kissen platziert er Wärmflaschen in stündlichem Wechsel. Das Telefon lässt er im Wohnzimmer. Das Tablett nimmt er mit, um über das
Geschrei auf Facebook jederzeit informiert zu sein.
Ich mache mich auf den Weg. Es weht ein kräftiger Südost. Im Aatal fliegt ein Storch mühelos dagegen an. Wahrscheinlich gibt es Windkanäle, sagt mein Held und breitet die Arme aus. Wenn ich jetzt abheben könnte, das wäre geil, sagt er und wird plötzlich so still, als hätte er eine Liebe verloren oder sonst ein tiefes Missgeschick erlebt, dabei bedauert er nur, nicht fliegen zu können. Auf dem See kreuzen Einhandsegler. Um retten zu können, fahren zwei motorisierte Schlauchboote herum.


Mo 2.03.20 10:45 bewölkt

Ich kaufe Hühnerbeine, Fenchel, Lollo Rosso, Champignons und eine große Zwiebel, ich flirte mit einer sehr gut aussehenden, zudem freundlichen Mittfünfzigerin am Gemüsestand, treffe sie noch zweimal und beide Male leuchten wir, aber statt sie zu einem Kaffee einzuladen, geh ich allein. Die Sonnentische sind besetzt, ich suche mir einen Tisch weiter hinten. Nach und nach trudeln Männer ein, die ich schon lange nicht mehr gesehen habe. Mit jedem habe ich schon Musik gemacht. Einer fragt, ob er rauchen dürfe. Kein Problem, sage ich. Einer kommt gerade von einem Krankenbesuch. Einem fehlt seit fünf Jahren eine Niere, ein anderer hat ein neues Hüftgelenk, der dritte hatte einen Schlaganfall und der vierte war schon einmal tot. Und du, fragt einer, was hast du? Nichts, sage ich, und schäme mich, weil ich zu den Geschichten von Siechtum und aufziehendem Alter nichts hinzufügen kann, dann aber fällt mir H. ein. H. ist gestorben, sage ich. Was, sagen alle, wieeee bitte? Wieso das denn, hab ich nichts von gelesen, woran denn? Ich erkläre es. Mein Held stößt mir in die Seite. Jetzt hast du sie glücklich gemacht, sagt er. Wieso? frage ich. Weil sie begreifen, dass sie noch leben. Sind doch auch alles Rentner, die den Tod fürchten wie der Teufel das Weihwasser.


Di 3.03.20 22:06

Ich schaue einen der Männer an und sage, wo hast du eigentlich diesen Bowler her. Der Mann zuckt. Seine Augen werden schmal. Karneval ist vorbei, sage ich. Die anderen Männer lachen. Jeder hat in einer längst vergangenen Zeit in der Szene eine Rolle gespielt, das scheint dem Mann mit dem Bowler nicht gut zu tun. Er ist mindestens zwanzig Jahre jünger, zudem ist in Männerrunden nach Sekunden klar, wer das Alphatier ist und wer nicht. Er ist es nicht.

Mi 4.03.20

Wie du das Katzengold vom Sand getrennt hast, als das Kind schlechte Laune hatte, war super, sagt mein Held. Ich wollte die Stimmung heben, sage ich. Meine Leute waren krank. Vier Jungs, eine Frau, nur Papa nicht. Vierzehn Tage. Stell dir das vor. Die gehen auf dem Zahnfleisch. Verstehe, sagt mein Held. Zum Glück geht es aufwärts, sage ich. Und dem anderen Kind hast du ein Eis gekauft? Was sonst, sage ich. Das gehört zur Inszenierung. Das Kind erwartet das. Ich weiß, sagt mein Held. Aber nicht alles, was man erwartet, kriegt man. Ach ja, warum sollte ich ihm denn kein Eis kaufen? Ich esse ja selbst gern Eis. Wir können dann ein paar Minuten sitzen, Eis schlecken, die Straße beobachten und vielleicht sagen wir etwas. Heute hat er mir erzählt, dass es mit seinem Englischlehrer besser würde. Beim letzten Mal klang das anders.

Obwohl es frisch war heute, fand ich es märzmild.
Ich übe Lucy in the sky with diamonds, habe Probleme mit den Akkorden, aber die Melodie ist kein Problem.
Ich bin fertig mit Schreiben.
Ich habe noch gar nicht angefangen.
Vielleicht fange ich in Everswinkel an.


Do 5.03.20 15:10 bedeckt

Von den Toten will ich gar nicht reden, die sind tot, die haben es hinter sich, aber von Lebenden, von Vertriebenen, die in allen Erdteilen unter immer den gleichen Machenschaften leiden, von denen, die in der Kälte hocken, von denen, die in der Hitze hocken, von denen, die nichts zu Essen und zu Trinken haben, von denen müsse er sprechen, sagt Beckett.

Das sind Menschen, denen unsere Solidarität gehört, davon sehe ich zu wenig. Ich sehe Schissertum, Verleugnen von moralischen Grundsätzen, Rassenhochmut, wirtschaftlichen-, militärischen und staatlichen Hochmut.

Was, sagt Beckett, glaubt ihr, wird los sein, wenn die Scheiße in den Ventilator fliegt, glaubt ihr, dass ihr dann so einfach davon kommt? Vergesst es! Ihr kommt nicht davon. Jeder, den wir daran hindern, an unserem Reichtum teilzuhaben, wird sich rächen. Nicht heute, nicht morgen, aber er rächt sich. Ach komm, sagt mein Held. Jetzt übertreibst du. Ich, sagt Beckett? Ich untertreibe.


22:00

Hochexplosiv, oder? sagt mein Held.
Mhhhmm, weiß nicht, also ich ... sage ich...
Ich auch, sagt Mensing.
Ich erst, sagt mein Held, sonst...
Ach hört auf, sagt Herr M und legt den Schraubenzieher aus der Hand.


So 8.03.20 8:55 leicht bewölkt

An einem Sonntag in sechs Wochen werde in einem fremden Doppelbett erwachen. In diesem Bett haben über jahrelang immer wieder Feriengäste gelegen, und man weiß, selbst abgetakeltste Ehepaare versuchen es im Urlaub noch einmal, egal, es muss sein. In so einem Bett werde ich liegen und mich fragen, was ein Dorfschreiber tun soll. Soll er aufstehen, per Rad, Roller oder zu Fuß die Gemeinde erkunden, oder kommt es gar nicht mehr dazu, dass er da liegt, steht Westfalen dann längst unter Quarantäne? So weit das Auge reicht, Militär an Kreuzungen, Sperrbänder, völliges Erliegen aller wirtschaftlichen Tätigkeiten, Einbrüche des Bruttosozialproduktes, wie man sie sich nur in Kriegen vorstellen kann?

Tatsache ist, es ist Sonntag, und noch liege in meinem Bett. Ich sehe, was ich immer sehe. Ich höre, was ich gewöhnt bin zu hören, mein Personal hat Ausgang. Es weht ein leichter Wind, ich denke über das Frühstück nach. Meinen Geburtstag habe ich auf angenehmste Weise verbracht. Man hat mir Whiskey geschenkt und einen seidenen Morgenmantel, die Seide mit Paisley Muster und einem roten, samtigen Innenfutter, von meiner Lebensgefährtin genäht. Hollywood, ich komme, auch, wenn du Everswinkel heißt.


Mo 9.03.20 11:04 bewölkt

die räume wurden eingerichtet,
als hätten sie sich selbst möbliert
sie waren leicht und schwer gewichtet,
und wo ich geh und steh bin ich mein wirt.

ich speise, früchte sind genügend da,
ich trinke, proste lang vergess'nem zu,
ich hatte damals dies und jenes jahr,
jetzt hab ich keine ruh.

ich greife, wenn ich greifen will,
bin überwältigt, dass es alles gratis gibt,
mein blondes licht ist selten still,
und hat noch nicht genug geliebt.

ich aber, ich ich ich und wir,
wir hatten dinge, die unteilbar sind,
sie stehen außer konkurrenz zur dir
auf meinem vertiko und zeit verrinnt.

und hinter allem licht steht zweifel,
und hinter allem zweifel steht ein kasten bier,
und hinter jedem kasten hockt der teufel,
und lacht, mit mir, dem eitlen und nur hier.

(8.03.2016)


Di 10.03. 20 7:40 grau, Regen

Ich weiß, dass ich zur Risikogruppe der Corona-Pandemie gehöre, wir Älteren sterben gern. Ich mache mir dennoch keine Sorgen. Ich werde vorsichtig abwarten, Kaffee trinken, Geburtstagswhiskey zur Nachtdesinfektion, und kiffen. Soll ich Angst haben vor etwas, das kommen kann, aber nicht kommen muss? Nein. Ich habe die Kuba-Krise, den Mauerbau, den kalten Krieg, die Ölkrisen, die jährlichen Grippeepidemien, den Witwer- und den Rentnertod überlebt. Ich bin 71. Ich lebe gern, und ich lebe so lang es dauert.


19:32

Der eine ist Mitte dreißig, trägt ein blauen Hemd mit Baumarktlogo, eine schwarze Jeans, das schwarze Haar ist etwas länger, ein bisschen geölt und zurückgekämmt, sein Gesicht ist fleischig und der Bauch steht beachtlich über. Er ist nicht unfreundlich, aber auch nicht zugewandt. Die Frage, die wir ihm als vermeintlicher Fachkraft stellen, kann er nicht beantworten, die Anbtwort muss er herbeitelefonieren. Der andere ist kaum fünf Jahre jünger, hat Nasenpiercings, ist mittelgroß, drahtig, hat lebendige Augen und scheint erfreut, dass er uns Laien etwas erklären kann. So kommt es, dass wir für den Fußboden schon eine einhellige Lösung haben, für die Behandlung der Wände jedoch noch nicht. Am Nachmittag habe ich mit einem Freund in der Küche gegessen und deren Renovierung besprochen. Er kann viele Dinge, die ich nicht kann und hatte Ratschläge, auf die ich gehofft hatte. Alles geht also seinen Gang. Ende des Monats habe ich eine Echtholzküche. Ich werde dann am Tisch sitzen und die Äste zählen können. Ich werde herrliche Menüs kochen, es keine unnötigen Laufwege mehr, und die so eingesparten Kilometer werden innerhalb weniger Monate zu einer Zunahme meines Gewichts führen. Man könnte sagen, die Zukunft wiegt schwer, die Gegenwart leicht.


Do 12.03.20 00:35

Wind geht kräftig. Wir bleiben noch ein wenig auf dem Sofa, mein Held, Herr M., Becket, Godot und ich. Wir denken nach.


14:35

Die Katze ist noch nicht heimgekommen. Meine Gastgeber haben überlegt, eine Fußmatte anzuschaffen, die ein elektronisches Signal sendet, wenn die Katze sich darauf stellt oder setzt, aber bisher ist das noch nicht geschehen. Man scheint ein wenig besorgt. Es wird Zeit, dass sie kommt. Auf die Fensterbänke kann sie nicht springen, um sich bemerkbar zu machen, die sind zu hoch. Aber im Hof, da, wo sie immer auftaucht, gibt es eine Überwachungskamera, die Bilder direkt ans Smartphone sendet. Und während die Gäste und ich Suppe löffeln, Käsesnacks essen und Quinoa-Salat, liegt das Smartphone vorm Gastgeber und übermittelt Bilder. Irgendwann ist die Katze da. Eine schwarze Katze, ein wenig scheu, in der Küche lässt sie sich jedenfalls nicht sehen.


Fr 13.03.20 / Krise Tag 1 / 12:01 windig /wechselhaft

Alles auf Null. Wenn ich richtig verstehe, was in den Medien kommuniziert wird, plädiere ich für eine vierzehntägige Pause, ein lockdown auf allen Ebenen
, der exponentiellen Verbreitung des Virus sehr hinderlich, aus Sicht seiner potentiellen Opfer aber äußerst positiv, aber ich bin nur ein denkender Mensch, kein Virologe.

18:33

Während der nächsten Wochen, die Sie zwangsläufig zuhause verbringen müssen, werde ich Sie mit frohen Texten unterhalten. Ich stelle mir vor, dass draußen Millionen sitzen und lesen, während die Statistiken Gegenteiles sagen und immer gesagt haben. Von durchschnittlich monatlich 2000 registrierten Besuchern bleiben kaum 2 Prozent länger als eine halbe Stunde auf meiner Seite. Also halte ich mich kurz. Das Medium definiert das Format. Das Format das Genre. Von nun an wünsche ich Ihnen gute Unterhaltung in dieser beunruhigten Welt. Tschernobyl war für die ersten vierzehn Tage ähnlich. Aber keine Sorge: es geht vorbei, kann aber hart werden. Lebensbedrohlich sogar, aber das ist das Leben sowieso. Also scheißen Sie sich nicht ins Hemd, und lassen Sie sich von niemandem Bange machen und vor niemandes Karren spannen.

22:32

komm wir kiffen
mit der oma
essen ein corona
törtchen und danach
legen wir dalwhinnie flach
das bewahrte urgroßmutter schon
vor der infektion
narhalla marsch/marschfox/
händewaschen


So 15.03.20 / Krise Tag 3/ 8:35 sonnig

Gleich gehe ich in den Schrebergarten. Dort singen Vögel, Spechte hacken, niemand ist krank und Ärger machen nur die Sportflugzeuge, die über der Stadt kreisen. Sie sind lauter als jedes Verkehrsflugzeug. Wir schießen auf sie. Während ich Wege von Unkraut befreie, eine völlig sinnlose Tätigkeit, werde ich singen. Wer singt, hat keine Angst. Mein Museumsführerjob im Rüschhaus und auf der Burg Hülshoff wird wegen der Pandemie nicht, wie geplant, am 1. April, sondern erst am 21 beginnen, falls überhaupt. Auch meine Berufung zum Dorfschreiber ist nicht mehr sicher. Zum Glück bin ich Rentner. Ich darf mich jederzeit infizieren, möchte aber, bevor ich verarmt und entrechtet sterbe, noch Radau machen. Überhaupt wäre mir eine Zombie Apokalypse angenehmer. Da könnte ich pfählen und Köpfe zu Brei hauen.


12:21

Sah gerade den ersten Zitronenfalter. Hörte vorgestern abend Kraniche. Bin heute müde.

20:07

Dieses Gedicht vom Dezember 2009 passt zur Chronik der laufenden Ereignisse

der mann gähnt
dabei fliegt etwas aus seinem mund
kreist um die lampe
kichert
setzt sich auf den rand der kaffeetasse
und beschimpft ihn
der mann ist empört
der mann sagt
sagen sie
kennt man da
wo sie herkommen
keinen anstand

das ding sagt
man kenne dort alles mögliche
aber ich dachte
es wäre interessant
das gegenteil auszuprobieren

soso sagt der mann
ich fürchte
da sind sie bei mir an der richtigen adresse
zögert nicht
greift das ding
und will es mit dem tauchsieder töten

aber das ding ist stärker
es tötet den tauchsieder
und in folge den mann
die dicke katze
es macht
dass die letzten blätter vom baum fallen
es kann sturm und gewitter
es verursacht ein verkehrschaos
es macht
dass die bauarbeiter
reihenweise von den gerüsten fallen
und die kirchenglocken aus ihren verankerungen reißen
und da natürlich jetzt viele mit offenen mündern dastehen
fällt es dem ding ganz leicht
spurlos zu verschwinden


Di 17.03.2020 / Krise Tag 5 / sonnig 10:15

Muse E. und ich waren in der Stadt unterwegs, gucken, ob noch Leben ist. Auf der Windthorststrasse kommen uns zwei Araber entgegen, Anfang 30, einer mit Bart. Als wir aneinander vorbeigehen, sagt einer, indem er auf seinen Begleiter zeigt: der hat Corona. Fünf Meter weiter hab ich begriffen, drehe mich um und rufe: ich auch. Wir lachen laut.

70 Prozent aller Flüge fallen aus. Lockdown. Ein Großteil des täglichen Bewegungswahns fällt auch weg. Die Welt kann ein bisschen aufatmen. In Peking sehen sie wieder die Sterne. Das ist bei allem Geschrei doch auch eine gute Nachricht.

10:47

Herr M. niest morgens gern. Er hat das von seiner Mutter. Die nieste morgens gern eine goldene Serie, 7 bis 13 mal. Früher dachte Herr M., ich hab das von Mutti., Im Augenblick denkt er: das war's. Corona. Quarantäne. Tod, owohl er weiß, dass die Sterbequote bei etwa 0,2 Prozent liegt, und dass 2017/18 20.000 Menschen an der Grippe gestorben sind. Surreal das alles. Völlig. Man muss aufpassen, nicht am Rad zu drehen.

11:18

schau die sonne
schau das frische grün
schau wie schaurig schön
die corona wölkchen ziehn
schau wie alle sich nun aus dem wege gehn
hach wie schön hach wie morbid
werden wir jetzt alle sterben
kommt wir singen noch ein lied
und versaufen alles vor den erben


Do 19.03.2020 / Krise Tag 7 / 16:13

Zuerst war da nur ein dominierendes Wort. Man konnte es mit Informationen unterfüttern, verglich Statistiken, alles hatte noch seine katastrophale Ordnung, aber nun, fast eine Woche später, wird es langsam zu einem beklemmenden Gefühl. Alle Scherze sind gemacht. Die Psyche muss sich positionieren, um diese schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen. Sie hat angefangen, und sie wird ein Ende finden. Es werden Menschen sterben, aber die Menschheit stirbt nicht. Trotzdem ist da ein ungutes Gefühl. Auch, wer keine Nachrichten und Talkshows sieht, weiß, dass alle nur von einem reden und eines denken.

Ich trete fest auf, um mich des Bodens zu vergewissern. Ich hoffe, dass es nicht zu lange dauert, aber er hat gerade erst angefangen. Das Schöne und das Schreckliche ist überall. Manchmal liegt es so nah beieinander, dass man es kaum auseinanderhalten kann. Ich bin für das Rotkehlchen, das im Garten für mich singt. Ich bin für den Frosch, der sich gestern, durch's Unkraujäten gestört, schleunigst im frischen Grün einer Staude versteckte.

Am Himmel sind kaum noch Kondensstreifen. Die Börsen, Orte hemmungsloser Gier und Wettleidenschaft, stolpern. Viele Menschen sind von heute auf morgen arbeitslos geworden. Flüchtende, egal, aus welchem Krieg, haben im Augenblick keine Chance. Das Rotkehlchen singt noch immer.


Fr 20.03.2020 / Krise Tag 8 / 7:05 bewölkt

Seit Montag kratze ich Tapeten von meinen Küchenwänden. Das treibt Schweiß, macht Dreck, gute Laune, und schmerzt im Kreuz, aber das macht nichts, denn heute abend wird der letzte Quadratmeter neben der Spüle tapetenfrei sein, dann müssen nur noch Reste entfernt und Kacheln gesäubert werden, Müll wird entsorgt, und dann werde ich mich zurück lehnen, lesen, Klavier spielen, und mit meiner Lebensgefährtin den Tag teilen. Montag kommt ein Freund und hilft beim Spachteln von Schadstellen und Grundieren der Wände, Dienstag werde ich anstreichen, Mittwoch stelle ich die alten Küchenmöbel zum Sperrmüll, Donnerstag kommt der Schreiner und baut die neue Küche auf. Das ist der Plan. Meine letzte Grippe liegt fast zwanzig Jahre zurück, ich baue auf mein Immunsystem und Gott,
ich bewege mich so wenig wie möglich, der Plan könnte aufgehen.

20:23

Vorhin läuteten die Glocken. Das war tröstlich und schön.


21:49

Man kann erwachen und sagen: oh, es ist bitter. Was sonst sollte man angesichts einer Lage, die einem neu und unheimlich ist, auch sagen. Die Alten, die fünfundachtzig aufwärts, die wüssten mehr, die haben noch den Krieg mitbekommen, zumindest aber den Zusammenbruch. Mit denen könnte man erwachen und sagen: oh, es ist bitter.

Stattdessen kann man auch erwachen und laut schreien. Das laute Schreien habe ich zum ersten Mal auf einem griechischen Kreuzfahrtschiff gehört. Es war April, das griechische Schiff hatte im südamerikanischen Winter den Amazonas befahren, und war auf dem Heimweg. Ich hatte mich in Rio eingeschifft. An Bord waren Hippies, wie ich. Manche standen abends, während das Schiff sich dem Äquator näherte, am Bug und schrien wie am Spieß. Ich dachte, sie spinnen. Sie sprachen von Urschrei.

Urschrei war, während ich studierte, populär. Ich war misstrauisch. Ich wollte damit nichts zu tun haben. Seit zehn Jahren aber nutze ich ihn, wenn sonst nichts mehr wirkt. Da ich mir selbst im Wald blöd vorkomme, wenn ich "urschreie", habe ich es meist im Auto paktiziert, heute tue ich es auf dem Motorroller.

Liebe mit Corona-Geschädigte, verliert nicht den Mut. Schreit.


So 22.03.2020 / Krise Tag 10 / 12:54 strahlend blau, kalt

Wer hätte gedacht, dass ein Dichter wie ich noch einmal Gefallen an Statistiken findet. Gerade habe ich eine gesehen, die mir sehr gut gefiel. Die Kurve der chinesischen Infektionen zwischen 26.1. und 15.03. Der Peak liegt etwa bei vierzehn Tage nach Ausbruch. Heute gibt es aus China keine neu gemeldeten Infektionen. Das ist das eine. Das andere ist natürlich, dass China ein zentral regiertes Land mit deutlich eingeschränkteren bürgerlichen Rechten ist, aber immerhin auch ein Volk, das trotz seiner vielen Menschen zumindest die grobe Kontrolle über das Virus zurückerlangt hat.

Das bedeutet nicht, dass die Pandemie dort schon am Ende ist, nein, die spanische Grippe von 1918/1919 kam in insgesamt drei Wellen, wobei die letzte kaum noch Opfer fand, weil viele mittlerweile immunisiert waren.

Ich bitte aber zu bedenken, dass Infrastruktur, Kommunikationswege, Medizin und Wissenschaft vor gut 100 Jahren mit heutigen Standards kaum zu vergleichen ist. Und obwohl man davon spricht, dass während der Spanischen Grippe 20 bis 50 Millionen Menschen gestorben sind, lag die Letalität dennoch nur zwischen 1,6 und 3,5 Prozent, in Ausnahmenfällen bei 6,5. Letalität ist die Mortalität bezogen auf die Gesamtzahl der an einer Krankheit Erkrankten.

In Deutschland liegt sie augenblicklich zwischen 0,2 und 0,3 Prozent. Wie kann es dann, dass damals so viele gestorben sind? Weil die Spanische Grippe weltweit grassierte. Es gab Tage in Philadelphia, eine der Hochburgen, an denen, ähnlich wie in Italien gestern, 600 bis 800 Menschen täglich starben. Das ist furchtbar, aber die Statistiken sagen nichts über Vorerkrankungen. Auch heute sagen sie nichts oder nur wenig darüber.

Heute abend wird entschieden, ob es Ausgehbeschränkungen gibt. Ich hätte nichts dagegen, kann aber von Münster sagen, dass vorhin, als ich mit dem Rad aus der Stadt nach Hause fuhr, so gut wie keine Menschen unterwegs waren. Hier und da mal ein Spaziergänger, aber das soll ja auch nicht verboten werden.

Tatsache ist, dass längst so gut wie alle Geschäfte geschlossen sind, und das soll auch so bleiben. Also, Freunde, es ist gruselig, es treibt Wellen wilder Verzweiflung, aber größer als all das ist die Hoffnung. Ich hoffe. Du hoffst. Er sie es hofft. Wir ihr sie hoffen. Los jetzt.


16:38

heute wird das schwere leicht
schwebt, zerplatzt, wird unauffindbar
wird von mir an dich gereicht
denn du bist ja unverwundbar

mir hingegen lauert stille
und im winkel hinterm augenlicht
wütet schon mein letzter wille
wille will schon, oder willst du nicht

ach, egal, ich bürste meinen hobel
weiß ja nicht, was da noch kommt
als galan getarnt und nobel
werd ich von corona zart besonnt

seh schon aus wie eine frikadelle
macht nichts, auch der papst kackt braun
schiebe eine meterhohe welle
vorsichtig an meinen gartenzaun

lasse drohnen steigen und gerät
das laut knallt und feinde brät
hebe hier und da den saum der schönen
lebe leben , lasse mich verwöhnen.


Mo 23.03.2020 / Krise Tag 11 / 10:49 sonnig, kalt

Mutti hatte kaum verkündet, was zu verkünden war, als sie sich in die Quarantäne verabschieden musste. D'accorcd, Frau Merkel, ich hatte mir diese Maßnahmen schon vor zwei Wochen gewünscht, jetzt sind sie da, und ich hoffe, dass sie in absehbarer Zeit zu einer Verflachung der Infektionszunahme führen. Noch ist es kalt, aber bald kommen die ersten wärmeren Tage, dann wird sich zeigen, ob wir, die Bedrohten, weiterhin Zurückhaltung üben. Ich glaube, wir werden das tun. Im Grunde meines Herzen bin ich davon überzeugt, dass der Mensch, trotz aller Grausamkeiten, die er in seiner Geschichte verübt hat, dennoch GUT ist, der Mensch ist ein soziales Wesen, er kann nicht ohne den anderen. Es gibt überall Zeichen, die mich rühren. Gesten. Blicke. Ja, auch ich bin voller Sorge, aber wenn ein Mensch einem anderen begegnet, so wie mir gerade, ein wenig zur Seite tritt, mich anlächelt, worauf ich lächelnd nicke, wird mir warm ums Herz, und das ist etwas, was wir dringend benötigen. Krise ist immer Chance auf Besserung. Auf ein Besseres danach. Gestern las ich den Artikel eines italienischen Soziologen, 93 Jahre alt. Er prognostiziert einen Ausbruch der Lebensfreude, wenn das Gröbste überstanden ist. Er prognostiziert, dass in uns gewaltige Energiereserven stecken, die wir mobilisieren, wenn dieser Tag gekommen ist. Und der Tag wird kommen. Bis dahin wird es schwer, aber schwer ist es immer, ein Leben ist voller Fallstricke, niemand ist gegen das Schicksal gefeit, also Kopf hoch.


Di 24.03. 2020 / Krise Tag 12 / 9:00 sonnig, kalt

Seit gut einer Woche renoviere ich meine Küche. Heute wird die Wand über der Küchenzeile mit Gips verputzt. Die gegenüberliegende Wand haben wir gestern gemacht. Ich hatte so etwas noch nie getan, aber unter Anleitung von W., einem gelernten Stukkateur, ging es recht gut. Morgen wird die Küche gestrichen und die alten Möbel kommen zum Sperrmüll an die Straße. Donnerstag wird W. die neue Küche einbauen. Holz. Geölt. Handgemacht. Vor zwanzig Jahren hat er mir ein Vertiko und Bücherregale gebaut, an denen ich jeden Tag Freude habe, und ich bin sicher, dass die Küche dem in nichts nachstehen wird. Wenn alles läuft, wie geplant, kann ich am Wochenende meine Wohnung wieder wie gewohnt nutzen. Obwohl es bei meiner Gefährtin schön ist, hatte ich in den letzten Tagen großes Heimweh nach der Dorffeldstraße. Aber dort herrschte das - wenngleich - überschaubare Chaos einer Baustelle. Aber es geht voran. Ich habe gut und konzentriert Tag für Tag gearbeitet und mich nicht überanstrengt. Ich bin stolz, dass mein Plan auf Tag und Stunde aufgegangen ist. Grund ist, dass ich früh genug angefangen habe. Über die Arbeit vergesse ich die Corona Misere, die mir täglich schwerer auf der Seele lastet. Nicht, weil ich mich um mich sorge, sondern um die Welt. Um uns.

17:33

Die Küche ist verputzt. Morgen streichen wir an. Es herrscht Einigkeit über die Farben. Ich werde den Herd vom Strom nehmen und beiseite stellen, die Spüle abbauen und zum Sperrmüll stellen, putzen und den Fußboden legen. Am Donnerstag kommt W., der Schreiner. Ich freue mich. Ich freue mich, wie ich lange nicht mehr gefreut habe. Ich genieße das Leben. Es hat etwas Zwanghaftes, es hat etwas vom Tanz auf dem Vulkan, aber es ist die Realität, und an der gibt es nichts zu deuteln. Sie ist das Leben. Wenn man, wie wir, Zeuge einer weltbedrohenden Katastrophe sind, schält sich das Leben von den Banalitäten, um die wir uns sonst streiten. Ich spüre, dass jeder Augenblick wichtig ist. Das ist es, was mich die Kastrophe lehrt. Die andere Katastrophe, die schon 11 Jahre her ist, hatte ähnliche Auswirkungen, auf mich, und auf meine schwerkranke Frau. Wir waren eins. Wir haben uns jeden Wunsch von den Lippen gelesen. Wir waren glückliche Menschen.


Mi 25.03.2020 / Krise Tag 13 / 19:45 sonnig und kalt

Schlaf ist die einzig sorglose Zeit. Wenn der Schlaf endet, herrscht Corona. Beim Zähneputzen ist das Virus anwesend, beim Frühstück sitzt es mir gegenüber. Ich lenke es ab, aber das ist nicht einfach. Wenn ich mich auf meinen Scarabeo setze und durch eine verkehrsberuhigte Stadt nach Hause fahre, bin ich schneller als das Virus, wenn ich renoviere, kann es mir auch nichts. Gestern habe ich die alten Küchenmöbel zum Sperrmüll gestellt. Dreißig Jahre Geschichte vorbei. Ich streiche die verputzten Wände. Ein Glück, dass meine Lebensgefährtin mir hilft, denn ich neige zu Pfusch. Das stört keinen großen Geist, sage ich, aber das akzeptiert sie nicht. Es gibt viel Kleinarbeit in Ecken, an Fußleisten, am Kachelspiegel. Am Abend sind wir stehend KO. Um uns und andere abzulenken, gehen wir gegen halb zehn auf den Balkon und singen die Ode an die Freude. Wir singen eher laut als schön, aber es hilft.


Do 26.03.2021 / Krise Tag 14 /

Alles Unglück der Menschen komme daher, "dass sie nicht ruhig in ihrem Zimmer bleiben könne", sagt der französische Philosoph Blaise Bascal. Ich fürchte, dass Bewegung oft als Übersprungshandlung herhalten muss, statt nichts zu tun. Still in seinem Zimmer zu sein scheint eine Herausforderung. Faulsein gilt nur im Urlaub. Aber ist es nicht so, dass der, der sich Herausforderungen stellt, wächst? Dass ihm ein Gewinn zufliegt. Den Tag verstreichen zu lassen ist eine Kunst. Daheim bleiben und nichts tun ist Arbeit.

Wenn nun aber "das im Zimmer bleiben" verfügt wird, wenn diese Verfügung sowohl vernünftig, als auch ein staatlicher Eingriff in die bürgerlichen Rechte ist, wie steht es dann mit dem zu verhindernden Virus, das doch längst da ist, unter anderem deshalb, weil wir ständig von A nach B unterwegs waren. Wie reagieren wir auf die jetzt herrschende Zwangsruhe. Fühlt sie sich entspannt an?

Der Himmel ist frei von Kondensstreifen. Vielen wird das gefallen. Auf den Autobahnen ist es ruhig. Alte Gewohnheiten kommen zum Erliegen, weil alle im "Zimmer bleiben". Ich vermisse das Leben, aber nicht die Unrast der Welt. Ich weiß, dass die wirtschaftlichen Schäden immens sind, aber wer sagt, dass alles immer mehr werden muss. Der Gedanke vom Ende des Wachstum stammt aus den Sechzigern. Jetzt wird er zur Erfahrung von vielen. Und Einstein wusste, dass man nur durch Erfahrung lernt. Alles andere ist Information.

21:02

Wir, sagt sie, leben in einem Land, dass sich solidarisch erklärt hat, um die Schwachen zu retten. Wir lassen nicht die Starken überleben, und die Schwachen sterben. Wir entscheiden im Gespräch mit den Wissenschaftlern und reagieren jeden Tag neu, das mache sie stolz. Hinderlich sei allerdings die Bürokratie. Aber das, sagt sie, bessere sich gerade. Vieles wird sich ändern. Hoffen wir. Was Vieles ist? Das Verständnis vom Menschen. Von seinem Eingebundensein. Die Einsicht, dass der Kapitalismus andere Wege gehen muss und wird, will er in veränderter Form überleben. Vielleicht kehrt die soziale Marktwirtschaft in verifizierter Form zurück. Ich weiß es nicht. Ich bin nicht politisch. Mir reicht meine Kunst.

22:02

Liebe Everswinkler,

schade, dass wir uns nun doch noch nicht sehen. Na ja, ein paar Everswinkler habe ich schon getroffen, einen Feuerwehrmann, einen aus einer Metropole zugezogenen, kräftigen Raucher, der das Konzept des Dorfschreibers gut fand, einen Musiker, mit dem ich mich über Keyboards unterhalten habe, und natürlich Menschen vom Kulturverein, die mich ernst nehmen und sehr freundlich behandeln, aber Sie wissen, wie die Dinge stehen. Ich kann nicht kommen, ich werde zuhause bleiben und das tun, was im Augenblick viele machen - homeoffice ab 1. April. Ich bin ihr Aprilscherz. Genießen Sie ihn. Schenken Sie ihm ein bisschen Zeit. Schreiben Sie ihm, er wird sich freuen. Ich schätze, wir könnten eine gute Zeit miteinander verbringen.

Herzlichst
ihr Dorfschreiber


Fr 27.03.2020 / Krise Tag 15 / 20:12 / es war sonnig

Waren Sie nicht schon am Morgen genervt, fragte Herr M.
Nein, im Gegenteil, sagte ich, beim Aufstehen hatte ich gute Laune, aber dass ich fast eine halbe Stunde in einer staubigen und unaufgeräumten Wohnung auf den Schreiner warten musste, fand ich nervig.
Und was haben Sie getan?
Was hätte ich tun sollen? Ich wusste ja, dass er käme. Er macht seins, wie ich meins mache, wir arbeiten präzis und mögen nicht, wenn man versucht, uns dreinzureden.
Es klopfte. Man hätte nicht sagen können, wo geklopft worden war, oder ob überhaupt, aber Herr M. und ich wussten sofort, dass Godot in der Nähe sein musste. Nach einem Augenblick stürmte Beckett herein. Außer Atem schüttelte er sich und zündete sich eine Zigarette an.
Ach, sagte ich und kam mir ziemlich blöd vor.
Sagen Sie, Beckett, gehören Sie nicht zur Hochrisikogruppe? sagte Herr M.
Ja, allerdings.
Dürfen Sie ihr Haus verlassen?
Ich verlasse, wen und was ich will jederzeit, sagte Beckett, und seine trüben, ein wenig melancholischen Augen glommen wie die sich entzündenden Lichter eines kleinen Leuchtturms auf einer Küste vorgelagerten Klippe.
Und Sie, fragte Herr M.
Wie, ich?
Sie müssen doch eine Meinung haben.
Ich soll eine Meinung haben. Wovon? Ich weiß doch gar nicht, was geschieht.
Aber Sie kennen die Tatsachen, sagte Herr M.
Ich lese davon, ja, sagte ich, jeden Tag. Sie haben mir den Job vermasselt, wie vielen anderen. Aber ich weiß nicht, was ich davon halten soll und verdränge. Ich habe ein Dach über dem Kopf und eine Frau neben mir, der Schreiner braucht für die Küche noch zwei Tage, ab 1.04. bin der erste virtuelle Dorfschreiber des Landes. Und die Dinge gehen vorüber, soviel ist sicher.
Godot, immer zu Scherzen aufgelegt, ließ es rote Rosen regnen.
Beckett sagte, er habe rennen müssen, weil Zombies die Straße herab kämen.
Sechs Verstümmelte in gebührendem Abstand von einsachtzig zueinander, jeder mit einem Schild: Es hätte auch so kommen können!


Sa 28.03.2020 / Krise Tag 16 / 15:05 / sonnig, recht mild

Jedes Jahr eine Katastrophe wie diese, und der Schrebergarten meiner Partnerin würde als schönster Garten der Republik ausgezeichnet. Sie hat Zeit. Ihre Arbeit, mit der sie ihre Rente aufbessert, ist ausgesetzt. Zum Glück aber terrorisieren Pandemien die Welt nicht jeden Tag, die letzte, die spanische Grippe, liegt hundert Jahre zurück.

Corona scheint ihre Vorgängerin an Schrecken allerdings in den Schatten stellen zu wollen, wenngleich noch längst nicht so viele Opfer zu beklagen sind. Manche glauben an biologische Kriegsführung, aber das ist völliger Unsinn, denn sie träfe ja auch den Verursacher.

Vielleicht wird ihr Schrecken durch das medialen Echo aufgebauscht, und man könnte sich schützen, indem man nicht ständig Nachrichten hört und liest. Trotzdem. Sie ist da, und sie geht nicht so bald. Sie stellt Forderungen an jeden. Dazu scheint die Sonne und der Frühling zieht ins Land. Die schönste Zeit, alles ist trügerisch, und alles ist wahr.

Schrebergärtner könnten sich glücklich schätzen. Sie entfliehen der entvölkerten Stadt und verbringen ihre Tage mit körperlicher Arbeit an frischer Luft, sie haben soziale Kontakte über die Zäune ihrer Gärten hinweg, und wenn sie zudem mit einer Rente nicht völlig ohne Einkommen dastehen, wie viele im Augenblick, könnte man ihre Existenz fast sorglos nennen.

Hinter ihrer Arbeit jedoch, hinter dem sorglosen Gesang der Rotkehlchen, Buchfinken und Meisen, steht tiefe, menschliche Verunsicherung. Ich, der Einzige, den ich halbwegs kenne, habe Angst. Es ist aber nicht die Angst vorm Tod, denn der ist ja nicht da, solange ich hier bin, und wenn er hier ist, bin ich nicht mehr da, nein, ich habe Angst vor den Folgen der Pandemie, ich habe Angst vor den Menschen, die, wenn sie die Nerven verlieren, unberechenbar sein können. Zudem fürchte ich Ungeduld. Der shutdown ist jetzt gerade einmal eine Woche alt, und ich will schon, dass es aufhört.

Ich las, dass die Schulen zum 20. April wieder öffnen. Das brächte etwas Normalität zurück in die Welt. Aber eh ich wieder sorglos sein kann, wird bestimmt noch ein Jahr vergehen. 2020 wird also ersatzlos gestrichen. Es ist mein 72 Lebensjahr, ich hätte gern mehr davon gehabt, ich hätte gern als Dorfschreiber in Everswinkel gelebt und gearbeitet, aber daraus wird nichts, ich bleibe daheim, aber zum Glück habe auch ich einen Garten, den ich beackern kann. Als hätte ich's geahnt, habe ich vor knapp drei Wochen begonnen, meine digitalen Aufzeichnungen, die im August 2000 ans Netz gingen, nach Gedichten zu durchforsten. Gerade habe ich das Jahr 2013 abgeschlossen und schon eine Menge Schätze gehoben. Ich hoffe, auch Sie haben zu tun. Bleiben Sie gesund.


17:31

Schlage Folgendes für die vorsichtige Revitalisierung der coronagefährdeten Gesellschaft vor: Die Geschäfte werden nach und nach wieder geöffnet. Bürger dürfen nach dem Alphabet gestaffelt am Leben teilnehmen: Heute zb. alle, deren Namen mit A, B, C. oder D beginnen. dann die nächste Gruppe, so wäre man in sechs Tagen einmal durch mit dem Alphabet und könnte zudem leicht kontrollieren, ob sich alle an die Absprachen halten.

21:48

Was immer sie von Bill Gates halten, er hat gesagt, bei einer Pandemie gibt es nur eine Priorität: die Rettung der Menschen. Eine Wirtschaft kann man wieder aufbauen, sagt er, Gestorbene aber nie mehr zurückholen.


So 29.03.2020 / Krise Tag 17 / 18:07 / kalt und windig

Nicht weit vor uns ist der Ereignishorizont eines schwarzen Loches. Jemand bewegt sich darauf zu. Es ist mein Vater. Mit jedem Schritt kommt er dem Ereignishorizont näher. Der Ereignishorizont ist der Rand eines schwarzen Loches. Hat man ihn überquert, bleibt nichts mehr.

Jedenfalls sieht es so aus, als mein Vater ihn überschreitet.
Ich sehe, dass er verschwindet. Er löst sich in seine molekularen Bestandteile auf. Für mich ist er fort.

Physiker aber sagen, dass mein Vater das Überschreiten des Ereignishorizontes ganz anders wahrnimmt. Er registriere nicht, dass er sich auflöse. Er träte nur ein in einen anderen Zustand. Dieses Ereignis und seine Folgen seien nach den uns bekannten Naturgesetzen berechenbar. Berechenbar also sei, dass der den Ereignishorizont eines schwarzen Loches überschreitende eine objektiv wahrnehmbare Existenz vor Überschreiten und eine berechenbare, objektiv jedoch nicht wahrnehmbare Existenz nach Überschreiten des Ereignishorizontes habe.

Ich verstehe das als Metapher.
Sie sagt: es gib ein Leben nach dem Tod.
Ob mich das beruhigen soll, weiß ich nicht.

18:10

Kaum aufgestanden bisher. Wundervoll.

21:59

Der Tag geht mit einer Stunde Vorsprung zur Neige. Obwohl ich informiert bin, Kurven, Neuinfektionen, Leta- und Mortalität, ist es mir gelungen, meinen Tag weitesgehend coronafrei zu halten. Das war und ist noch immer sehr erholsam. Wir haben fast alles im Bett erledigt. Wir haben gefrühstückt, geschlummert, gelesen, gepuzzelt, ich habe weiter Gedichte aus meinen Aufzeichnungen seit 8/2000 gesucht, mittlerweile sind es dreihundert Seiten, wir haben dieses und jenes beredet, aufgepasst, dass es warm blieb, nachmittags sind wir aufgestanden, waren wir eine halbe Stunde an der frischen Luft, haben Bekannte getroffen und uns wie Schneekönige gefreut, sie zu sehen, obwohl wir sie unter normalen Umständen nur alle Jubeljahre sehen, der Grieche hatte ein Fenster seines Imbiss geöffnet und verkaufte nach draußen, wir haben, obwohl wir keinen Hunger hatten, Pommes gegessen, weil es so schön war, Pommes kaufen zu können, die wir auf der Bank einer Bushaltestelle an der so gut wie nicht befahrenen Warendorfer Straße gegessen haben, dann sind wir zurück ins Bett, nur zum Essen noch einmal kurz raus. Meine Küche wird Mittwoch fertig. Bis dahin wohne ich in der Stadt. Gleich schlafe ich. Noch so ein Vergnügen, das coronafrei ist.


Mo 30.03.2020 / Krise Tag 18 / 11:07 / bewölkt, kalt

Meine Wohnung ist Schutz.
Meine Welt taumelt.
Details sind tödlich.
Ich bin ein Tränensack.

Ich schreibe keine Ballade.
Ich will dem Leben verbunden bleiben,
im Augenblick können Balladen nichts tun,
als den Virus zu beobachten,
der um die Welt rast.

Erschreckt ruhig,
das tut gut,
sagt die Ballade,
wenn Zeit kommt,
singe ich euch ein Lied.
Bis dahin überlebt,
bis dahin wünsche ich euch Glück.

Aber eins sage ich euch:
macht nicht Gott verantwortlich,
Gott hat damit nichts zu tun,
macht euch klar, dass es euer Leben war,
das zu dem geführt hat, was ist.

Zieht Bilanz, Zeit habt ihr,
lernt Demut, das Wort für Balladen,
schreibt es tausendmal auf,
und wenn es vorbei ist,
wenn das Virus gestellt ist,
verweigert jeden Versuch,
die Welt, wie sie war,
wieder aufzubauen.
Verjagt die Unterdrücker.
Verjagt die Verroher.
Verjagt die Dummschwätzer.
Verjagt das Kapital.



Ich werde eine Ballade schreiben,
vom einundzwanzigsten Jahrhundert
wir wurden gebeten, zu Hause zu bleiben,
und sind bis aufs Mark verwundert.

Ich hätte viele Balladen geschrieben,
wäre das Miststück nicht aufgetaucht,
ich hätte es zwischen Fingern zerrieben,
und Feuer gefaucht ja Feuer gefaucht.

Ich hätte das Leben gefeiert,
nun feiert das Miststück den Tod,
ich ge...


Di 31.03.2020 / Krise Tag 19 / 13:20 / wechselnd bewölkt, frisch


Um 12:48 sprang an der Kreuzung Piusallee/Bohlweg mein Kilometerzähler auf 20.000.
Ich habe das Rad im Juni 2015 gekauft, und im Herbst einen Tacho angebaut.