Mai 2019                      www.hermann-mensing.de      

mensing literatur 

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Do 2.05.19 10:58 fahle Sonne, frisch

Liebe Annette,

als du dich, vom Niederrhein kommend, langsam Westfalen nähertest, stiegen Wolken farbiger Schmetterlinge aus Gräsern und Blumen rings um Wasserlöcher. Durch die Fenster deines Schneckenhäuschen flogen Schwalben ein und aus. Nachtigallen sangen, wenn du abends auf der Bank vor der Tür saßest. Seit die Bäume wieder grün werden - das werden sie in der Jetztzeit Ende März, Anfang April, nicht wie bei dir, Anfang Mai - seit auch die grimmen Temperaturen, die das Rüschhaus nicht gemütlicher machen, langsam steigen, habe ich eine Schwalbe gesehen, vorgestern, auf dem Weg zum Rüschhaus, eine Schwalbe und in den vier Wochen vorher sieben Schmetterlinge. Mich erschüttert das. Das Land, in dem du lebtest, hat, wie du schon damals befürchtetest, sein Gesicht grundlegend verändert. Die alten Nachbarn sind noch da, die Huerländers, die immer kamen, um etwas zu borgen, aber sonst ist alles anders. Zum Glück weisen die Fenster deines Schneckenhauses nach Westen. Wiesen sie nach Osten, würdest du ein Rauschen vernehmen, dass dir sicher unheimlich wäre. Es ist das Rauschen der Autobahn, das alles überlagert. Als ich mir die Schmetterlinge, von denen du schreibst, vorzustellen versuchte, fielen mir zwei Geschichten ein. Eine spielt auf einer langen, rostbraunen Landstraße in Argentinien, kurz vor den Iguazu Wasserfällen. Dort sah ich tellergroße Falter in den abenteuerlichsten Farben. Zwei Jahrzehnte später sah ich auf den Blütendolden eines Sommerflieders in Luxemburg Schwärme von Pfauenaugen. Ansonsten aber, wie gesagt, sieben Falter. Vorm Rathaus in Münster, das du ja kennst, stehen jeden Freitag junge Menschen, Schüler meist, die versuchen, die Welt zu retten. Manchmal, Annette, fürchte ich, dass es zu spät ist. Sei froh, dass du dein Leben gelebt hast. Meines dauert an, das meiner Kinder und Enkel auch, und das macht mir Sorgen. Irgendetwas muss geschehen. Ich weiß nicht, wie es geschehen kann, ich habe Zweifel, dass es geschehen wird, aber irgendetwas muss geschehen. Am Besten, es geschähe noch heute.


Fr. 3.05.19 12:48 wechselnd bewölkt, frisch

Die Stadt Bad Vilbel, eine großzügige Stadt, hat Hundekotspender aufgestellt. Man muss also nicht einmal mehr einen eigenen Hund haben, um die Gegend zuscheißen zu können, die Stadt subventioniert das. Hunde sind, Sie werden dem sicher zustimmen, überflüssig ist wie ein Kropf, Hunde kosten nicht nur, nein, sie stinken auch, bellen zu jeder Tages- und Nachtzeit, wollen ständig unterm Bauch gekrault werden und schrecken zudem nicht davor zurück, jedes Genital, das in ihre Nähe kommt, ausgiebigst zu untersuchen, auch Menschengenitale. Von Hundebesitzern will ich lieber gar nicht sprechen, die lassen sich von Kaltschnauzen, die gerade noch im Arsch eines Artgenossen waren, das Gesicht lecken und geben Küsschen.

13:09

wenn Sie
so freundlich wären
mir Worte zur Verfügung zu stellen
wäre ein Fortgang des Werkes denkbar,
da jedoch Angebote von ihrer Seite ausbleiben
oder von minderer Qualität sind,

sehen wir uns außerstande,
die Wortindustrie weiterhin zuverlässig zu beliefern.
das ist traurig, aber auch großartig,
denn so bleibt alles in meiner kontrolle,
und niemand, absolut niemand, redet mir rein.


So 5.05.19 wechselnd bewölkt, ganz angenehm

Liebe Annette,

heute war mein erster Sonntag im Rüschhaus. Als ich im Gartensaal die eichenen Blendläden aufklappte, und das Licht vom Garten herein strich, hoffte ich, du würdest am Tisch mit den Fischbeinen sitzen, es stünde Gebäck da, ich setzte mich zu dir und wir tränken Tee. Stattdessen fand ich die Nachricht, dass dir meine Texte gefallen. Welche denn, die unerhörte Leichtigkeit, das Flirren, oder die Prosa?

Schade, dass du nicht da warst. Ich hätte dich gefragt, wie du dir für den Erlös deines ersten Gedichtbandes, der deine Mischpoke zusammenzucken ließ, weil Gedichteschreiben für adelige Fräulein peinlich ist, ein Häuschen in Meersburg kaufen konntest? Waren die Verleger damals Mäzene? Mit meinen Gedichten könnte ich Zimmer tapezieren, aber so viele Zimmer hat meine Wohnung nicht.

Wenn ich im italienischen Zimmer, meiner letzten Station, von der Sehnsucht nach Arkadien erzählt habe, bedanke ich mich für die Aufmerksamkeit, meine Damen und Herren, sage ich, jetzt bin mit meinem Latein am Ende, wenn es Ihnen gefallen hat, können Sie ihrer Begeisterung durch Applaus und/oder durch eine Aufmerksamkeit in meine kristallene Schale kundtun, sie steht unten auf dem großen Tisch.

Ich habe sie so hingestellt, dass jeder daran vorbeigehen muss. Das tun sie und geben reichlich. I'm only in it for the money, Annette, trotzdem schließe ich aus ihrer Großzügigkeit auf eine gewisse Qualtät meiner Darbietungen. Die Schale habe ich übrigens dem Mensingschen Festgeschirr entnommen und umgewidmet. Also, bis dahin, Mittwoch sehen wir uns wieder.

PS.

Noch immer dieses Flirren,
Momente einer Nacht,
ich will das All entwirren,
nichts steht in meiner Macht.


Mo 6.05.19 wechselnd bewölkt, frisch

Ich weiß nicht, wie viele Forellen jeden Samstag im Stevertal zubreitet und gegessen werden, aber die Parkplätze sind voll, und da so gut wie jeder, der herkommt, die gerühmte Forelle Müllerin mit Mandeln, Butter und Salzkartoffeln isst, schätze ich die Zahl auf - mindestens hundert. Hundert Forellen benötigen eine Weile, eh sie schlachtreif sind, wie lange, weiß ich nicht, aber von heute auf morgen geht das nicht. Und da ja an so gut wie jedem Tag im Stevertal Forellen zubereitet werden, kann es nicht sein, dass all diese Forellen aus den eigenen Teichen kommen. Die Bedienung sagt natürlich das Gegenteil. Natürlich, sagt sie. Aus unseren Teichen. Ich glaube, die Forellen kommen von sonstwo. Woher, weiß ich nicht, aber kämen sie aus den Teichen, müssten das Seen sein, in denen man vor lauter Forellen das Wasser nicht sieht. Feinsliebchen aber glaubte der Bedienung. Sie hatte mich animiert, mit ihr in den frühen Abend und aufziehenden Regenwolken mit dem Rad dorthin zu fahren. Ich hätte mich am liebsten nicht mehr bewegt, ließ mich aber überreden. Wir hatten Glück. Sie mit ihrem Elektrorad, ich schnaufend bergan, sie mit ihrem Elektrorad, ich schnaufend wieder bergab. Ich war eingeladen. Es regnete, als wir die Forelle aßen. Es hatte geregnet, eh wir vor Ort waren, es hatte immer gerade da geregnet, wo wir nicht waren, so dass wir auch im Trockenen wieder heimfahren konnten. Das Licht, die Wolkenformationen, das Maigrün auf der Rückfahrt zwischen acht und neun war umwerfend. Nie, nie würde ich in einer Stadt leben wollen, wo solche Wunder nicht oder nur sehr selten zu sehen sind. Ich liebe die Welt. Das Leben ist schön. Wenn ich tot bin, bin ich tot, bis dahin bin höchst lebendig.


Di 7.05.19 10:00 bewölkt, frisch

Der Kampf ums Urheberrecht eines von mir verwendeten Fotos des Blenders Theodor zu Guttenberg, ein politisches Talent, sagen sie, Sproß inzuchtdurchsippter Adeliger, die noch immer ihre Ärsche auf ererbten Latifundien kühlen, ist zu meinen Ungunsten ausgegangen. Ich habe bei Verdi mit seinen undurchschaubaren Organisationsstrukturen erst nach vierzehntägiger Telefonjagd einen Medienrechtler autreiben können, der mir sagte, nach Kenntnisnahme meiner Angelegenheit glaube er, ich müsse in den sauren Apfel beißen, es gäbe höchstrichterliche Entscheidungen. Ich habe darauf der Gegenseite, den Anwälten, die für DPA mit Abmahnungen einen Teil ihres Lebensunterhaltes fristen, einen Vergleich angeboten. Dem haben sie zwar nicht in der von mir angebotenen Höhe zugestimmt, aber mir immerhin ein Fünftel erlassen. Der Rest wird nun in Raten gezahlt und im November ist alles vergessen. Gern hätte ich die Frontscheiben der anwältlichen SUV und Porsche mit schwerem Hammer zerstört und den Goldlack ihrer hochwertigen Fahrzeuge mit einem Schraubenzieher verschönt, all diese wundervollen Rachefantasien trage ich nach wie vor in mir. Wer weiß, was aus ihnen wird.

23:21

mein wundes herz
will wunder sehen
mein herz will
dass wir aufstehn


Mi 8.05.19 19:52 es regnet seit drei

Ich war im Rüschhaus heute. Um elf hatte ich sechs Gäste, danach saß ich im Büro der Annette von Droste Hülshoff Gesellschaft, habe nach mehrmaligen Versuchen die Kaffeemaschine in Gang gesetzt, Zucker und Milch gefunden, um mich ist jede Menge Literatur über Annette, ich lese deine Gedichte, ich lese "Spiegelbild", und schreibe ein Gedicht.

Liebe Annette,

vorhin habe ich dein Gedicht "Spiegelbild" gelesen.
Hier ist meines.

Spiegelbild

Am Morgen steht ein Mensch vor sich,
und wagt den ersten Blick,
er lächelt, sagt, bewege mich,
füg mich in mein Geschick.

Sei du mir doch ein Freund,
sagt er, dem ich vertrauen kann,
der mir die Zeit vertreibt, mich träumt
und rettet, dann und wann.

Gegeb'nenfalls, sagt das Phantom,
könnt' ich zu Diensten sein,
doch glaube mir, ich wär dein Hohn,
und niemals wär' ich dein.

Ich wäre deine Illusion,
ich wär' dein spitzer Schrei,
dein Leben wär' ein dunkler Ton,
und ich dein Einerlei.

Es ist wie's ist, du bist nicht ich,
denn ich bin gar nicht hier,
ich bin nur angehauchtes Glas,
du bist aus Fleisch, ich bleibe blass.



Do 9.05.19 12:54 wechselnd bewölkt, sonnig

Ich wurde gefragt, ob ich meinen ältesten Enkel vom Schlagzeugunterricht abholen könne. Ich antwortete, falls bis 16:15 keine Gäste mehr auftauchten, könne das klappen, ich müsse dann zwar noch abrechnen, das Haus schließen, das dauere bis gegen fünf, aber ja, ich täte das gern. Es kamen keine Gäste mehr, gegen 17:00 machte ich mich auf den Weg. Es regnete. In Gievenbeck wollte ich ein Eis essen. Ich stellte mein Rad ab, suchte alle Taschen nach meinem Schlüssel ab, aber mein Schlüsselbund tauchte nicht auf. Also fuhr ich zurück, in der Hoffnung, er sei mir beim Aufschließen meines Rades vielleicht auf die Erde gefallen. Die Hoffnung bestätigte sich nicht, aber im gleichen Augenblick war ich mir sicher, dass der Schlüssel wahrscheinlich noch im Schloss meines Kabelschlosses steckt, das ich in der Satteltasche verwahre. Und so war es. Um den Enkel abzuholen, war es nun leider zu spät.

23:00

für gedichte ist es zu spät
bald werden fäuste sprechen
jeder gegen jeden heißt es dann
die gebrauchsanleitung steht in der bibel
und unseren genen


Mo 13.05.19 13:56 sonnig

Es hat den Anschein, dass diese Saison weniger trocken ausfällt, als die letzte, was ein Segen wäre. Wohin meine Saison sich bewegt, weiß ich nicht, aber ich weiß, dass ich gleich in die Stadt fahre, um ein fahrbares Stehpult abzuholen, dass man mir schenkt. Drei Stunden später werde ich wissen, dass die Restauratorin, die es mir schenken wollte, das Stehpult nicht finden konnte, jemand hatte es entweder doch und gegen ihren Willen entsorgt, oder, das wird sie recherchieren, irgendwo anders hingestellt. Fazi also doch: ich weiß nicht, wohin sich meine Saison bewegt. Aber ich lebe. Und ich lerne, ich lese im Augenblick zum ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, um zu verstehen, während welcher politischer Turbulenzen Annette von Droste Hülshoff aufwuchs und gelebt hat. Hochspannend.

Gestern wollte ich Tango tanzen, aber es war, wie es hin und wieder ist, wenn es ist, wie es auch sein kann, wenn es
nicht wunderbar ist und man schwebt, weil alles gelingt und die Menschen freundlich sind, sondern eben so, wie fast jeder glaubt, dass es immer wäre: stocksteif und unter anderem durch meine Anwesenheit überaltert. Ich aß ein Stück selbstgemachter Obsttorte, trank einen Capuccino, sah einen schwarz gekleideten Mann im glänzenden Hightech-T-Shirt, das seine Männerbrüste unschön abbildete, immer schlecht rasiert, dieser Mann, und ergriff die Flucht.

Am Samstag war ich auf einem sehr schönen Geburtstagsfest und trank viel Gin Tonic. Offenbar eine gute Droge, denn am Tag darauf fühlt ich mich gut.


Di 14.05.19 19:10 sonnig

Um halb elf holte ich das Rad aus der Garage und fuhr los. Ohne Ziel zunächst, hoffend, die nächste Ecke würde mir Hinweise geben. Bald fand ich mich im Buchenwald. Ein Bach mäandert hindurch, das frische Grün schirmt das Licht, lässt es aber in Strahlenbündeln verstärkt zur Erde. Lichtfleckiger Wald. Aus dem Wald in Wiesenland. Sah drei Falter, 2019 mittlerweile also jetzt 10. Das haben wir fein hingekriegt. Immerhin mehr als zehn Schwalben. In H. aß in ein Spaghettieis. Ein Mann in blauem Trainigsanzug am Nebentisch erzählte Uschi vom Tod seiner Frau vor einem Jahr, von dem seines Bruders vor acht Wochen, und dem Herzinfarkt seines Cousins um halb acht, deshalb sei er ein bisschen traurig. Er schlafe nicht gut, halb fünf wäre er auf den Beinen gewesen, hätte drei Stunden geputzt und dann vier Scheiben Brot mit Schinken und Fleischtomate gegessen. Dass er putzen und für sich sorgen könne, habe er seiner Ulla zu verdanken. Fand einen Weg durch Lasbek, den ich nicht kannte. So etwas freut mich, denn ich kenne viele Wege. Musste über die Kuppe der Baumberge, hinunter zum Stevertal, fuhr Richtung Appelhülsen, Tilbeck und Alvingheide. Seit halb vier bin ich zürück. Ich hätte, um die Sache kurz zu machen, sagen können, es war herrlich, aber Adjektiven muss man misstrauen.

Mi 15.05.1915:40

Liebe Annette,

die Sonne scheint. Schon über zwanzig Menschen waren hier, aber nicht einer wollte ins Haus und deine Geschichte hören. Alle waren in Eile. Die ersten standen gegen zehn auf dem Hof und warteten auf ihren Reiseführer, der gegen elf auftauchte und sich wortreich entschuldigte. Immer, immer schon habe seine Frau gesagt, es kommt der Tag, an dem du vergisst, was du zu tun hast, und heute war so ein Tag. Tut mir Leid. Die nächsten Gäste stiegen aus einem Bus, um das Haus zu fotografieren, durch den Garten zu hasten, um dann weiter zu fahren. Die zunehmende Atemlosigkeit, die Veränderungen, von denen du sprichst, haben sich in der Gegenwart zu einem Wirbel verdichtet. Alles zielt auf Geld. Zeit darf nicht verstreichen, Zeit muss gefüllt, muss sinnvoll verbracht werden, möglichst mit der Akkumulation von noch mehr Geld, mit dem man sich dann Zeit kaufen kann, quality time, wie das die Idioten der Gegenwart nennen. Schade, ich hatte so viel über dich gelesen in den letzten Tagen, und hätte die Geschichten gerne erzählt. Die Hintergründe werden klarer. Ich kann Zusammenhänge sehen. Gleich ist es vier. Ich glaube nicht, dass noch jemand kommt. Ich mache Feierabend, und du darfst wieder ungestört Nette sein, das Adelsfräulein, dass mir langsam sympathisch wird.


Mo 20.05.19 21:32

Ich stieg nach sieben Stunden Fahrt aus dem Auto und tat die ersten Schritten im Osten. Hier ist der Oderbruch. Polen ist gleich da vorn. Arbeit ist nirgendwo. Ich betrete eine Nettofiliale, kaufe einen Kasten Bier, an der Kasse vor mir ein Mann meines Alters. Eh ich mich versehe, erzählt er mir, dass er 2000 in Wupptertal die Schwebebahn gebaut habe. Mein Einwand, sie sei aber doch hundert Jahre alt, wischt er beiseite, er hat sie gebaut, gleich nach der Wende.

Ich habe in den nächsten Tagen mit vier oder fünf Menschen gesprochen, Einheimische. Manche habe ich nach dem Weg gefragt, andere nach Besonderheiten des Ortes, nach dem Weg oder nach einem Hotel. Alle waren offen und herzlich.

Ich habe die Oder gesehen, den Oderbruch, grünes, rollendes Land, bewaldete Hügel, bezaubernde Städte, fast verlassene Orte, ich war in Werder an der Havel, eine hübsche Touristenfalle, bin auf kleinen und kleinsten Straßen durch die Havelauen gefahren, war in Gülpe, dem dunkelsten Orte Deutschlands, habe in Havelberg übernachtet, wo es eine beeindruckend Kirche gibt, St. Marien, mit einem Kreuzgamg, mächtigen Gewölben, einer riesigen Orgel, und einem fünfzig Meter hohen, aus Fels und Feldbrandsteinen gebauten Wehrturm mit Schießscharten. In einer lebt ein Uhu. Ich hatte nie vorher einen frei lebenden Uhu gesehen. Eine wundervolle Reise mit meiner Freundin.


Di 21.05.19 21:06

Gülpe, der dunkelste Ort Deutschlands.

Wir fanden in Gülpe einen Weg zur Havel, wir gingen hinunter zum Fluss, zwei junge Frauen mit ihren Kindern badeten, eine nackt, ein Paar, abseits, das auf Decken vor seinem Wagen lagerte, ein Kopfweidenwald, eine herzzerreißende Stille, flachstes Land, aber im Dorf kein Hinweis auf ein Hotel. Ich hatte eines erwartet. In meinen Erinnerungen spukte ein Bericht über diesen dunklen Ort, über Wissenschaftler der Uni Potsdam, die hier ein Forschungsprojekt betreiben, etwas mit Mikroben im Wasser des Sees, die nur bei bestimmten Lichtbedingungen aufsteigen, um sich zu paaren, das spukte in meinem Kopf, und dazu ein Dorf mit mindestens einem kleinen feinen Hotel, aber das gab es nicht. An einem Haus mit Gardinen so alt wie die Bewohner, die wir dahinter vermuteten, stand Zimmer zu vermieten, das wollten wir uns nicht antun, wir wollten keinen Familienanschluß.Ein Mann meines Alters, Manchesterhose, kariertes Hemd, groß und kräftig, ein sehr geerdet wirkender, freundlicher Mensch, sagte, es gäbe hier keine Hotels. Hätte ich besser nach einer Unterkunft gefragt?

Keine zwanzig Meter von uns war der Hof der Stille, den ich heute gegoogelt habe. Als wir vom Fluss kamen, hatte ich sogar das Schild gesehen, aber nichts daraus geschlossen: Ich dachte an einen Maler oder Bildhauer, ich dachte an etwas esoterisches. Ein wundervoller havelländischer Vierseitenhof, höchst, höchst idyllisch, das, was uns gefallen hätte, aber der Mann sagte uns nichts davon. Und der junge Mann aus Berlin, der gerade aus seinem Auto stieg, weil er seine Mutter besuchte, die unterm Kirchplatz wohnt, hatte auch keine Ahnung, rief seine Mutter und fragte, aber auch von ihr erfuhren wir nichts.

Ist die Besitzerin des Hofes eine gemiedene Außenseiterin? Sie kommt aus Frankfurt, hat in Berlin gelebt, hat sich hier einen Traum erfüllt. Ihre Zimmer sehen ganz anders aus, als die, die ich mir im Netz angeschaut habe, jetzt, wo ich wieder zurück bin, zerschlagen wie ein Hund von der langen Reise und den vielen Menschen der letzten Tage. Kein Ikea, kein Roller, keine Stehimwege und Kunstblumendekorationen, sondern Zimmer mit Teppichen und Holzböden, Decken auf Sofas und Leselampen, Sesseln und alten Schränken. Genau so etwas hatten wir gesucht.


Mi 22.05.19 10:32 bewölkt

Oderberg Bralitz ist eine Bahnstation, die in den 70er Jahren des vorletzten Jahrhunderts gegründert wurde. Ein Halt auf dem Weg von Berlin nach Stettin. Nach dem zweiten Weltkrieg, die Oderbrücke war gesprengt worden, gab es keinen Bahnverkehr mehr nach Polen, nur noch bis Bralitz, und auch der wurde 1997 eingestellt. Da sind drei Gebäude, der Bahnhof, ein Stellwerk und ein Wohnhaus für die Bahnangestellten. Letzteres hat eine Gruppe Berliner Kulturschaffender gekauft. Man ist dabei, es herzurichten. Natürlich verschlingt so ein Projekt Geld und Zeit, man ist an Berlin gebunden, das etwa anderthalb Stunden entfernt liegt, man kann nicht zum Abend mal eben schnell dorthin fahren, um kleine Arbeiten zu errichten, mit anderen Worten: das Projekt ist ein Projekt für die Zukunft. Die Kinder der an diesem Projekt Beteiligten sind mittlerweile aus dem Alter heraus, in dem sie das Landleben aufregend fänden, obwohl die Idee doch eigentlich ihnen galt. Dort nun fand am vergangenen Wochenende die Hochzeit von Josef und Stella statt. Wir waren Freitag angereist, am nächsten Tag kamen noch viele andere, das Fest zog sich bis in die tiefe Nacht, und wenn die Polizei nicht gekommen wäre, weil Nachbarn sich beschwert hatten, hätte es sich bis in den Morgen unter Büschen und Bäumen hingezogen, ums Feuer, mit Musik. Seit die Polizei schwarz trägt, wirkt sie bedrohlich. Wenn die Beamten dann noch versteinert auftreten, möchten man schon fast fortlaufen. Die Musik müsse sofort auf Zimmerlautstärke gestellt werden, hieß es, andererseits käme man noch einmal zurück und würde die Anlage konfiszieren, das Ganze koste dann 500 Euro. Danke für die gute Laune, das Fest wurde in die Empfangshalle des alten Bahnhofs verlegt. Wir reisten am Sonntag ab.


Do 23.05.19 11:16 sonnig

Wir saßen uns an der großen Tafel hinterm Bahnhof Oderberg Brelitz gegenüber und aßen. Er ein Gitarrist, der aussieht, wie der Sänger von REM, ich ein Schlagzeuger, und nach wenigen Sätzen war klar, dass wir einen Set gemeinsam spielen würden.

Nach dem Essen ging ich zur Bühne und baute schon mal das Schlagzeug um, da ich Linkshänder bin. Und jetzt tritt der preußische Soundmixer auf den Plan. Ich hätte seine Mikrophonierung durcheinander gebracht, knurrte er, außerdem läge das Headset am Boden, ob ich schon draufgetreten hätte, so etwas liebe er, da warte er geradezu drauf. Nein, sagte ich, sorry, aber seine Stimmung besserte das nicht. Er stellte Mikros um, knurrte noch dies und das und ging dann zum Mischpult. Ich begann leise zu spielen. Er mischte Reverb auf die Toms, so dass es klang, als würden ich DUB spielen. Als ich fertig war, ging ich zu ihm und sagte, das klänge geil. Auf der Stelle war sein preußischer Mißmut verflogen, so etwas mische er gern, aber die meisten Trommler wären zu blöd, die wollten nur draufhauen, sagte er, wir rauchten zusammen, und als ich ihn fragte, ob er hier der einzige echte Berliner sei, die anderen wären doch offenbar Migranten, knurrte er, die sind nich mal das, die sind höchstens Gäste. Wir verstanden uns gut für den Rest des Abends.


Fr 24.05.19 20:49 sonniger Tag, windig

Liebe Annette,

heute vor 171 Jahren bist du Meersburg gestorben. Ich habe heute mit tausenden junger Menschen gegen die Zerstörung unserer Welt demonstriert. Eine Zerstörung, die, wenn nicht sofort Maßnahmen ergriffen werden, die, versichert die Wissenschaft, noch möglich sind, aber durch Machtkonstellationen, hinter denen das Kapital, mithin die Interessen einiger weniger stehen, verhindert werden.

Ich bin stolz auf diese jungen Menschen. Schade, dass ich heute nicht im Rüschhaus war, ich hätte den Gästen von dir erzählt, von deiner Renitenz, die, das wird immer deutlicher, gleiche Motive hatte. Du sprichst von unumkehrbarem Wandel, du registrierst, wie z.B. die Interessen der Waldbesitzer, zunehmend von schnellem Geld gesteuert, dazu führen, dass die Vielfalt einer betrüblichen Einfalt weicht.

Du bist also, wenn du so willst, auf unserer Seite. Das freut mich. Deinen Tod, ein Verlust, wie der Tod eines jeden Menschen, hast du durch deine Arbeit überdauert. Du bist gegenwärtig. Das ist etwas, das ich mir auch für mich wünsche. Ob mir das gelingt, weiß ich nicht, dennoch habe ich Hoffnung. Ich hoffe auf jedes Wort. Ich hoffe darauf, dass der kleinste Stein, der ins Wasser fällt, Wellen schlägt, die ans Ufer rollen und Veränderungen bewirken.

Dafür warst du auf der Welt, dafür bin ich auf der Welt. Lassen wir uns also weiter hoffen, die Zeichen sind bedrohlich, aber die Reaktionen darauf werden zunehmend selbstbewusster.

Wir können uns glücklich schätzen, dass junge Menschen Verantwortung übernehmen wollen. Wir Alten dürfen uns schämen. Wir müssen solidarisch sein. In diesem Sinne: Venceremos.


Sa 25.05.19 17:05 wechselnd bewölkt, um die 19 Grad

An der Ecke Berliner- und Klosterstraße in Angermünde ist ein AFD Stand aufgebaut. Fünf Männer stehen herum, dunkle Hosen, blaue Hemden, als wären sie Überbleibsel der FDJ, einer jedoch trägt ein weißes Hemd und eine dunkle Hose, der ist offenbar ein Kandidat, nur ist so, dass sich in der Zeit, in der wir schräg gegenüber in einer Pizzeria sitzen, in der die beiden Angestellten Mazedonier und Griechen sind, kaum jemand um die AFD kümmert. Eine alte Frau bleibt stehen und wird mit Infomaterial versorgt. Nach einer Weile, wir haben noch nicht zuende gegessen, packt die AFD ihre Sache und geht. Ich hatte erwartet, dass der tiefe Osten (wir sind hier schon in der Uckermark) von rechten Parteien (AFD und NPD) zuplakatiert gewesen wäre, aber das war nicht so. Verglichen zu NRW, wo ich lebe, gab es keine Unterschiede, bis auf die NPD, von denen habe ich hier keine Plakate gesehen, was aber nicht heißt, dass nicht irgendwo welche hängen. Angermünde ein Städtchen mit wunderschönen, oft klassizistischen Häusern, es gibt eine beeindruckende Kirche, ein entkerntes, zu Wohnungen umgebautes Gefängnis, es gibt einen See mit einem Kunstpfad, die Kunst war eher mäßig, um nicht überflüssig zu sagen, und es gibt keine Anger. Wir hatten vermutet, dass die Anger in den See mündet, wurden aber von freundlichen Menschen darauf hingewiesen, dass sich Angermünde auf die Landschaft (der Anger = das Feld) bezieht. Wieder etwas gelernt.


20:24

So ein modernes Auto hat viele Knöpfe, die meisten lernt man nie kennen, zumindest, wenn man es nur für ein paar Tage mietet. Über einen Knopf aber hatte ich mich diesmal vorab informieren lassen, der, mit dem man die Rundumüberwachungspieper ausstellt. Das war hilfreich und beruhigend. Dass selbst ich, Jahrzehnte auf 120 - maximal 130 kmH sozialisiert, in so einem Auto mit drei Fingern der linken Hand lenkend, die rechte entspannt auf der Konsole, 150 fahre, ist mir kurz nach Bad Oeynhausen zum ersten Mal bewusst geworden. Danach habe ich es gleich akzeptiert, denn 120 fühlen sich an wie ein Verkehrshindernis, zumal die anderen auch bei 140 noch deutlich schneller fahren. Vor und kurz hinter Hannover dann Verengung der Fahrbahn auf zwei Spuren, kilometerlange LKW-Schlangen, mühsames Vorrücken, nur um irgendwann festzustellen, dass die dritte Spur zwar mit Warnbaken verstellt ist, aber keinerlei Anzeichen von Bauarbeiten zu sehen sind. Das insgesamt zweimal.


So 26.05.19 19:34 wechselnd bewölkt, windig

kaum,
dass ein wort sich her verirrt,
hat es mich auch schon so verwirrt,
dass ich nicht mehr zu atmen wage,
leis' bitte nicht! und lass das! sage,
so viele hat man mir schon hergeschickt,
und tausendmal schon bin ein eingeknickt,
und tausendeinmal habe ich's erneut versucht,
genutzt hat's nichts, ich bin verflucht.


Mi 29.05.19 22:02 sonniger Tag, frühlingsfrisch

Gegen Mittag traf ich die für den geplanten Lyrikweg um das Rüschhaus Verantwortlichen, ein von der EU finanziertes Projekt, um auszuloten, wie ich mich einbringen kann. Wir saßen im Garten des Rüschhauses beisammen, redeten, um uns kennezulernen, ich zeigte ihnen das Haus, erzählte ihnen die darum rankenden Geschichten, und wir verblieben mit der Abmachung, dass ich im nächsten Jahr den Texte und Loops für den geplanten Audiowalk beisteuere. Mich freut, dass es Resonanz auf meine Arbeit gibt, vor allem, weil das ein von jungen Menschen geplantes Projekt ist.


Fr 31.05.19 11:35 überwiegend sonnig

Gestern habe ich in dieser Gegend Starenschwärme gesehen. Nicht, dass ich nie vorher Stare gesehen hätte, nein, hin und wieder auch mehr als einen, aber einen Schwarm, eine dichte Wolke, bei der jeder aufschaut und staunend sagt, schau, da, ein Schwarm, und bei der jedem gleich Schwarmintelligenz einfällt, und - wie die das bloß machen? wieso die nicht kollidieren? diese sich aufplusternde, in sich rotierende, aufsteigende und nieder gehende Wolke im Abendlicht über den Wiesen der Rieselfelder, das war wunderschön. Es kamen immer mehr Vögel, sie sammelten sich für die Nacht auf den Wiesen. Auch Kukucke waren zu hören, Kibitze und Nachtigallen.