November 2002                         www.hermann-mensing.de                   

mensing literatur

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Fr 1.11.02   10:22

Der Plan für diesen neblig trüben Tag: ein langer Spaziergang. Danach ins allerbeste Café im Ort und Ziegenkäsetorte essen. Vielleicht aber auch keine Ziegentorte, keinen Spaziergang machen, lesen, schlafen, vielleicht aber auch nicht lesen, nicht schlafen, sondern schreiben. Am Besten aber nicht schreiben, nicht lesen, nicht schlafen, nicht spazieren gehen, keine Torte essen. Am Besten: den Zustand des glücklichen Nichtstuns erreichen. Vorher beim Dalai Lama anrufen und Instruktionen einholen. 

12:33

Er glaubte an nichts auf der Welt. Geld, Macht, Besitz, Lust war das Ziel aller Menschen, Geldgier, Machtgier, Geilheit ihre Motive. Es gab nicht Lohn, nicht Strafe, nicht Gerechtigkeit, nicht Tugend. Das ganze Getriebe war ohne Sinn. Es gab Geschickte und Tölpel, im übrigen Glück oder Unglück. Er hielt es mit jenem Lied, das sachlich und überzeugt sieben Dinge als erstrebens- und besingenswert preist. Fressen ist das erste, saufen das zweite, sich entleeren des Gefressenen das dritte, des Gesoffenen das vierte, bei einer Frau liegen das fünfte, baden das sechste, aber das siebente und schönste ist schlafen. (1)

 

Sa 2.11.02    8:55

Die Spannung steigt. Ab Montag ist Lesezeit. Bis Mittwoch werde ich in acht verschiedenen Schulen und Büchereien lesen, bin höchst gespannt, denn die größte  Erfahrung habe ich mit der Sackgasse 13. Diesmal aber wird aus allen anderen Romanen gelesen. 

14:55

Es wird so sein, wie es immer ist. Ich werde mich mit Händen und Füßen weigern, etwas vorzubereiten. 7:45. Ich werde die Schule betreten. Im Lehrerzimmer wird man mir Kaffee anbieten. - Mit oder ohne Milch?  - Vielleicht wird man mich vorstellen, aber die nicht betroffenen Lehrer sind unaufmerksam. Sie sind mit der nächsten Stunde beschäftigt. Wir werden losgehen. Wir werden die Klasse betreten. "Das ist Herr Mensing", wird jemand sagen. Euer Märchenonkel, werde ich denken, denn von den Schulen, in denen ich lesen werde, hat sich wieder nur eine im Vorfeld gemeldet, eine von acht, ein Lehrer, eine Lehrerin, die etwas mehr will als den für 45 Minuten anwesenden lebenden Schriftsteller, dieses Wesen, das man eher zwischen Buchdeckeln vermutet, als im wirklichen Leben. Ich werde "guten Morgen" sagen, dann werde ich sie mir vorknüpfen. Und es wird gut oder schlecht.  

 

So 3.11.02    11:47

Nicht, dass man uns missversteht. Wir stehen mit unserem Leben für das, was wir morgen tun. Insofern sind wir schon vorbereitet. Wir wollen nur nicht kleinlich werden. Wir wollen grandios scheitern, wenn wir scheitern, und ebenso siegen. Daran kann man nichts ändern. Wir haben die Möglichkeiten in verschiedenen Varianten durchgespielt, es ist immer aufs Gleiche herausgekommen. Wir werden das akzeptieren müssen.  

14:25

Die Bürde des Menschen ist unantastbar.

 

Mo 4.11.02   12:46

Das Gefühl, das mich in Lehrerzimmern überkommt, zeigt wie weit ich von jenem Alltag entfernt bin, wie sehr ich meinen Alltag schätze, wie fern wir uns sind: Die Lehrer: Der Autor  und wie verschieden unsere Forderungen an eine Lesung. Unterhaltung dort, Auseinandersetzung hier. Las schon zweimal heute früh. Einmal den Pitti Pörtner, das zweite Mal aus der "Sackgasse 13". Wie vorhergesagt war der Unterhalter gefragt. Ein trüber Montagmorgen, man gähnt noch, man glaubt, es sei noch Sonntag, zum Glück steht da vorn jemand und verlangt außer Aufmerksamkeit erst einmal nichts. - Oder doch? - Ja. Er will, dass man Gedichte macht. Gerade noch hat er eine Geschichte gelesen, jetzt will er, dass man mit ihm Gedichte macht. Was sagt er? Rhythmus. Reimwort. A A B B // A B B A // A B A B // Spaß macht das schon. Heute Nachmittag, gleich, lese ich noch einmal. Dieses Mal in der Stadtbücherei. Aloha: ihr Alleinunterhalter M. (Motto: Ist der Morgen einmal trüb, ruf den Mensing, der ist lieb, der liest allen etwas vor, macht für uns den Tor....)

21:25

 

Ist Schreiben gesund? - Nein. 

Ist Schreiben vernünftig? - Nein. 

Macht Schreiben Spaß. -Ja. 

Ist Schreiben gut für die Liebe? - Nein. 

 

Di 5.11.02    12:06

Ist Lesen gesund? - Ja. Ist Lesen vernünftig? - Ja. Macht Lesen Spaß? - Ja. Ist Lesen gut für die Liebe? - Ja. 

12:21

Ließ mir von den Kindern der Grundschule E. Sätze zurufen und improvisierte kurze Geschichten. So hat die Satz-für-Satz Aktion mir eine neue Form der Literatur beschert. Das freut mich sehr. Ich nehme sie in mein Repertoire auf. Die Kinder staunten, was aus ihren Sätzen wurde und ich staunte noch mehr. 

12:55

Widerstand wird stündlich wichtiger. 

 

Mi 6.11.02  17:24

Heute sogar ein gemeiner Fall von Vortäuschung falscher Tatsachen. Dabei hatte sich die betreffende Lehrkraft entgegen sonstiger Gewohnheiten sogar mit mir in Verbindung gesetzt. Hatte gesagt, Herr M., die Kinder haben Fragen vorbereitet, das glauben Sie nicht. Doch, glaube ich wohl, hatte ich geantwortet, froh, auf vorbereitete Schüler zu treffen, die Zettel in ihren Taschen hüten wie Schätze und darauf brennen, sie hervor zu holen und in verschiedenen Stimmlagen Verschiedenes zu fragen: Wie viel verdient man mit so einem Buch? Etc. Und was passiert? - M. kommt an den entsprechenden Ort. Er ist bester Laune, erstens, weil gestern so ein guter Tag war, zweitens, weil er Gutes erwartet. Und dann trifft er auf Lehrkräfte, die sich genau das vorgenommen hatten, was M. so sehr hasst: lass M. mal machen. Wir setzen uns hinten rein, kreuzen die Arme vor der Brust und kucken mal zu. Also hebt M. zur Klage an. So sind sie, die Lehrer. Tut mir Leid, das sagen zu müssen. In der Mehrheit. Ich begreife die Verantwortung ihrer Tätigkeit. Ich begreife die Last des Alltags, unter der sie gute Arbeit leisten sollen, aber ich begreife nicht, dass sie so oft nicht das geringste Engagement zeigen. 

 

Do 7.11.02     10:20

Als ich vorgestern früh das Lehrerzimmer der Grundschule E. betrat, fielen mir sofort die wundervollen Stühle auf, die dort standen: schlankes Teakholz, Armlehnen, hohe Rückenlehne, rostbraunes Wildleder. "Da haben Sie aber schöne Stühle", sage ich und der Schulleiter sagt, die wären ausgemustert, der Rat der Stadt hätte sie spendiert. Ich lese in einem Raum im ersten Stock und auch dort steht so ein Stuhl. Ich lese die "Meise", meine Premiere. Ich spüre, wie gut sie funktioniert. Die Kinder fragen mir Löcher in den Bauch, und als die Frage kommt, wie ich denn überhaupt auf so eine Geschichte käme, antworte ich, dass ich immer einen guten ersten Satz brauche. Und dann improvisiere ich kleine Geschichten aus Sätzen, die die Kinder mir zurufen. Später im Lehrerzimmer sage ich zum Direktor. "Wissen Sie was, Herr B., ich schlage Ihnen ein Geschäft vor: Sie bekommen alle meine Bücher mit Widmung und ich nehme einen ihrer Stühle mit." "Abgemacht", sagt der Direktor und wir tragen einen Stuhl nach draußen. Es ist aber schwierig, ihn auf der Rückbank meines Autos unterzubringen. Die Zeit drängt. In einer Viertelstunde muss ich in M. lesen, fünf Kilometer entfernt. "Wissen Sie was", sagt der Direktor, "kommen Sie nach der Lesung noch einmal vorbei, dann machen wir das in Ruhe." "Gute Idee", sage ich. Als ich nach der Lesung zurückkehre, macht der Direktor ein betrübtes Gesicht. "Herr Mensing", sagt er, "der Hausmeister sagt, die Stühle wären inventarisiert. So einfach wird das also nicht gehen." "Schade", sage ich. "Es kann aber doch auch mal einer kaputt gehen, oder?" "Mal sehen", sagt der Direktor, "das könnte so drei, vier Wochen dauern." Ich hoffe sehr, dass es klappt. 

 

Fr 8.11.02    9:41

Wenn man immer nur tut, wozu man Lust hat, ist wenigstens ein Mensch auf der Welt glücklich. (2)

 

Sa 9.11.02   10:51

Kurt Vonnegut wird heute 80 und gehört noch immer zu meinen Lieblingsschriftstellern. 

In Dwayne's part of the planet, anybody who wanted a gun could get one down at his local hardware store. Policemen all had them. So did the criminals. So did the people caught between them. Criminals would point guns at people and say, "Give me all your money", and the people usually would. And policemen would point their guns at criminals and say "Stop", or whatever the situation called for, and the criminals usually would. Sometimes they wouldn't. Sometimes a wife would get so mad at her husband that she would put a hole in him with a gun. Sometimes a husband would get so mad at his wife that he would put a hole in her. And so on.  (...) Sometimes people would put  holes in famous people so they could be at least fairly famous, too. Sometimes people would get on airplanes which were supposed to fly to someplace, and they would offer to put holes in the pilot and co-pilot, unless they flew the airplane to someplace else. (3)

 

So 10.11.02     23:15

Norbert Blüm singt im Fernsehen die Internationale. Der Tag hat stattgefunden, es war ein schöner Tag, aber Ihnen werde ich nichts davon erzählen. Sie hängen mir zum Hals raus. Sie lieben mich nicht und ich liebe sie nicht. Also. Gute Nacht. 

 

Mo 11.11.02   11:11

Nichts Neues. Heute ist der Tag des sinnfreien Sprechens. Heute wird nichts verkündet, nichts gedacht, nichts getan, heute wird verdaut, heute werden innere Vorbereitungen getroffen, um den Liebesroman fortzuführen. Wir haben ihn schon vor Augen. Wir wissen, wie er endet, wir müssen nur noch die letzten hundert Seiten schreiben. Prognose für die Fertigstellung: Anfang März. 

Fastfood für die Klick-Agenten  ( www.literaturcafe.de )

Die Aufgabe war klar: Senden Sie M. einen Satz, er macht eine Geschichte daraus. Hatte M. darüber nachgedacht, was ihn erwartete? – Nein, hatte er nicht. Gab es ein Motiv, die Aktion zu starten? –  Ja, Abenteuerlust im Allgemeinen, Reiselust im Besonderen. Jeder Satz  (hoffte M.) könnte den Beginn einer Reise markieren.  Da er die Reise ins Blaue allen anderen Reisen vorzieht,  da er sich jeder Animation  verweigert, sich mit jedem Plan überwirft, schien ihm diese Aktion gerade richtig.  

Satz-für-Satz.

M. hoffte auf Zündfunken für Kurzurlaube:  zehn, fünfzehn Zeilen, mehr nicht. Häppchen, um den Hunger der sich durch die Tiefen des Internet klickenden Agenten zu stillen. Aber eh sie diesen Hunger stillen könnten, müssten sie liefern.  Müssten ihr Innerstes nach außen kehren und einen Satz formulieren.  Müssten sogar ihre Namen hergeben, heraustreten aus dem Wald der anonymen Internet-Spanner und sagen:  Hier bin ich. Das ist mein Satz. Hier mein Name, mein Wohnort, mein Land.

Offenbar war es gar nicht so schwer, diesen Schutzraum zu verlassen. Glückwunsch also den Mutigen aus Deutschland, Griechenland , den Niederlanden, Italien, Japan, Österreich, Schweiz und Spanien. Glückwunsch, bis auf den, der sich Soleilmoon Pupsnudel nannte. 

Aber da hatte M. Schlimmeres erwartet. Dumm darf schließlich jeder sein. Dafür kann er nichts. Politische Idioten traten nicht auf. Bis auf eine, die sich Möllefrau nannte, Munsterlager als Wohnort angab und glaubte,  Möllemann als Opfer derer darstellen zu müssen, die den Deutschen verbieten, die Wahrheit zu sagen. Sehr lustig, Frau Möllefrau, selten so gelacht. Wir würden gern wissen, um wen es sich ihrer Meinung dabei handelt.  Schon zahlreicher waren Menschen, die sich aufgerufen fühlten, ewig gültige Wahrheiten zu verkünden.
Das Leben ist wie ein Spiel - manchmal verlieren wir, bevor das Spiel begonnen hat.  Als Reiselektüre taugt so etwas nicht, aber da M. häufig das Toilettenpapier ausgeht, weiß er schon, was er damit tut.  Sprücheklopfer tauchten auch auf. Die Examensphase macht mir nicht nur bewusst, wie abhängig ich von dem System bin, sondern auch wie allein man in der Globalität sein kann!  Wow! Dem "Common Sense" zum Trotze wollte er nicht von der Konsumgesellschaft assimiliert werden und verweigerte sich beharrlich allen Bemühungen der Indoktrination.

Wahnsinn! Darüber hatte M. noch nie nachgedacht.  Was jetzt?  Musste er sein Weltbild neu ordnen? Und dann? - Abbitte leisten? Er wusste es nicht. Aber dem, der dem Common Sense trotzen wollte, antwortete er. Verdächtig aktiv waren die tiefsinnigen Poeten.
"...wo die blauen Bienen gelbe Wolken trinken und lilafarbene Bäume mit dem Stamm nach oben wachsen... Warst Du schon dort?"  Antwort: Nein. Wohl aber war ich, wo fette Aasgeier hocken und reißen, wo Liebhaber sich in Worten verlieren und Asche vom Himmel fällt.  Noch schöner: Ihre Augen spiegelten seine graue Welt in einem Tagebuch ausgelassener Sünden. Gut, graue Welt, so gehe denn hin....

M. senkte bescheiden sein Haupt. So viel Tiefsinn, menschliche Wärme, so viel Zuwendung hatte er nicht erwartet. Drei Wochen war es sein großes Vergnügen, seinen Computer zu starten, ans Netz zu gehen und sich neue Sätze herunter zu laden.

232 waren es insgesamt. 113 wählte er aus und verwandelte sie in Geschichten. Immerhin: eine Quote von 48,7%.  15% aller Sätze kamen aus Metropolen, falls man Städte zwischen 250- und 500.000 Einwohner berücksichtigt. 

Lässt man diese außen vor, halbiert sich diese Zahl noch einmal.  Woraus M. schließt, dass der Mensch auf dem Lande, in Kleinsölk etwa, in Unterweitersdorf, in Traismauer, Altefähr, in Gumpoldskirchen oder in Stutensee weniger Gelegenheiten zur Ablenkung besitzt und daher gern im Internet surft. M. kann jetzt sogar sagen, wann der Agent unterwegs ist, er kann Stunde und Tag nennen, er erinnert einen leichten Frauenüberhang bei den Einsendern, wenngleich er den nicht ausgezählt hat.

Sicher aber sind Stunde und Tag. 45,2% aller Einsender waren zwischen 12.OO und 18.00 Uhr aktiv.  -
33,18 % zwischen 18.00 und 0.00 Uhr. - 17,67% zwischen 6.00 und 12.00 Uhr und nur ganze 3,87%  (9 Personen) waren zu nachtschlafender Zeit zwischen 0.00 und 6.000 unterwegs.  - Sieger mit den meisten Einsendungen ist Mittwoch, der 30.10, dicht gefolgt vom Donnerstag, dem 24.10. Etwas abgeschlagen folgt Donnerstag der 31.10, dichtauf Freitag der 1.11.02.  Doch nun ist alles vorbei. Der Zugang für weitere Sätze ist gesperrt.

Die Aktion ist beendet.
Aber nichts war umsonst. M., der in der vergangenen Woche auf acht Lesungen unterwegs war, hat Lehren gezogen. Wenn er schon aus eingesandten Sätze kleine Geschichten machen konnte, warum sollte so etwas mit Sätzen, die ihm aus dem Auditorium zugerufen würden, nicht auch möglich sein? Gesagt, getan und so bleibt als erstes Ergebnis der Satz-für-Satz Aktion festzuhalten, dass M. jetzt über ein neues Element seiner Lesungen verfügt: die Improvisation. 

Rufen Sie ihm  einen Satz zu, er antwortet mit einer Geschichte.  Natürlich hatte er gehofft, die Medien würden auf seine Aktion aufmerksam, natürlich hatte er gehofft, man würde ihn auf Händen durch die Republik tragen und mit Gold und Edelsteinen überschütten, aber nur ruhig, M. ist erfahrener Reisender, M. ist Zeitmillionär, es wird schon noch werden. Bis dahin wird er weiter den Garten der Worte beackern, wird Worte zu Sätzen auf Schnüre ziehen und Schnüre zu Romanen verdichten. Ganz einfach, sehr schwer, und sein größtes Vergnügen.  Vielen Dank.  

20:59

Das ist in Ordnung, sagt sie. Nur hättest du niemanden bloß stellen sollen. Darauf ich, trotzig: habe ich doch gar nicht. Habe nur Sätze zitiert. Keine Namen genannt. Aber sie ist ein guter Mensch und das bin ich nicht.  

 

Di 12.11.02       12:36

Erhielt diesen Satz von R. Blanke in Zürich: Sie bohrte mit dem Finger ein Loch in den Sand und starrte hinein. Schrieb dazu diese Geschichte: Tief unten leuchtete etwas. Sieh doch! sagte sie. - Er schaute über ihre Schulter. Was ist denn? - Das Leuchten! - Ich sehe nichts. - Ihr Männer seid blöd! sagte sie und begann das Loch zu vergrößern. Als es groß genug war, um einen Fußball darin verschwinden zu lassen, war das Leuchten verschwunden. Was das wohl war? sagte sie. Deine Einbildung, sagte er. Nein, sagte sie. Da war etwas. Ich habe es doch gesehen. Und ich kann es spüren. In ihren Augen war etwas Fremdes, das ihn erschreckte. In ihrer Stimme schwang ein Unterton, den er noch nie gehört hatte. Und als er am Abend neben ihr lag, sah er diesen leuchtenden Punkt in der Grube ihres rechten Schlüsselbeins. Groß wie eine Haselnuss und so hell, dass er kaum hineinschauen konnte. Was ist das? fragte er. Sie schaute ihn an. Nichts, sagte sie. Ich sehe nichts. Aber da ist es doch! wollte er sagen, aber da war es verschwunden. Als er sie küssen wollte, drehte sie sich weg. Er hatte das Gefühl, gleich würde etwas passieren. Das Gefühl machte ihm Angst. Er stand auf, um den Raum zu verlassen, aber die Türen waren verschlossen. Setz dich! befahl sie. Setz dich und hör zu, was sie dir zu sagen haben. Sie? sagte er fassungslos. Sie, antwortete sie.

13:41

Eine Lesetour durch die Schweiz erscheint am Horizont. Eine Woche im Mai nächsten Jahres. Fänden wir das gut? - Ja. Das fänden wir doppelplusgut. 

 

Mi 13.12.02    13:54 

Drei Weihnachtslesungen in M. Und noch eine in 02507? Das berechtigt zur Hoffnung und ermöglicht einen weiteren Tag sinnfreien Sprechens. 

Njölk ham da zankel  

tratt bill mmma akz ta  

latt ranschi öl mork el  

nitt rin blöö a ha. 

Schlak han dam schlak rrökye 

pratzttt knompdu lum ba 

pun kran tra quel nnye

anxss hattan klllem da.

Klllemm zankel tratt akz ta

han dam schlak quell mork

nitt tratt öl an ranscha

brömm njölk pun zam tork.

 

Do 14.11.02    16:38

Wie einsam man ist. Wie seltsam Träume tagelang nachklingen. Wie leer man sich fühlt, wo alles voll ist. Wie wütend man wird bei dummen Fragen. Wie seltsam aufregend. Wie demütigend.  Wie schön dennoch. 

20:33

Bond ist tot. 

21:46

Es hat gut getan, ihn zu töten. Alle Spuren sind gelöscht. Es hat ihn nie gegeben. INRI.

00:13

Putin ist auch tot. Bush ist tot. Sharon ist tot. Osama bin Laden ist tot. Alle Idioten sind tot. Ich spucke drauf. 

 

Fr 15.11.02   8:18 

Wer erledigt den Rest?

9:37

Ich bin ein Mensch. Hat nicht ein Mensch Augen? Hat nicht ein Mensch Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? (4)

14:11

Reiß die Haare aus. Zerschneide mein Gesicht. Stemple mich. Aufschrift: Kauf nicht bei Menschen.  

19:23

Und käme jemand und verlangte Gott, so sagten wir: Gott gibt es nicht. Und antwortete jemand, aber er habe ihn selbst gesehen, so sagten wir: bitte, jeder hat ab und an Halluzinationen. Und schlüge jemand die Hände über dem Kopf zusammen und flüchtete vor uns, so hätte wir zumindest erreicht, dass jemand von vorn begänne zu denken. Von Anfang an. Und da war das Wort. 

 

Sa 16.11.02   3:33

Sang "Wir machen durch bis morgen Früh und singen Bumsfallera..." in einer karibisch-afrikanischen, südamerikanischen und asiatischen Version. Begleitete mich auf einem Sonor Klangkasten, der über sechs verschieden gestimmte Klangzargen verfügte.  

13:56

Saß letzte Nacht noch eine Weile auf dem Balkon und genoss. Dabei hätte mich nicht gewundert, wenn der aus dem Nebel sich erhebende Nadelbaum im Garten auf der gegenüberliegenden Straßenseite tatsächlich zu dem geworden wäre, für den ich ihn hätte halten können. Was das gewesen wäre, wird nicht verraten. Zudem wäre das eine andere Geschichte. Sie hätte mit Erscheinungen, u. U. mit religiösem Wahn zu tun. So bleibt er der Nadelbaum, der er ist und dessen Namen ich nicht einmal nennen kann. Wie ich so vieles nicht weiß. Was den Gesang zum Klangkasten betrifft kann ich nur hinzufügen, dass er recht erfolgreich war und den Mangel an geeignetem deutschen Liedgut, das sangbar wäre, ein wenig ausglich. Zumal der Text leicht über die Lippen kam. Allerdings waren die angestimmten und oben genannten Versionen nicht leicht zu phrasieren, insofern sind sie für Schützenvereine, Kegelvereine und Ballermannparties nicht geeignet. Elaborierter Code. Wir sind zwar nicht gebildet, aber doch noch gebildeter als manche glauben.

PS. Es freut mich, Sie hier zu sehen. Sie haben sich also nicht verwirren lassen und den Zugang über die Galerie gefunden. Dieser Umweg war nötig wegen der schon angedeuteten Gesinnungsschnüffelei bestimmter Personen.  

14:33

Und der Herr sprach, ich bin dein Nadelbaum, du sollst keine anderen Nadelbäume neben mir haben. Ich antwortete: Fick dich selbst, Nadelbaum, mich verarscht du nicht. 

15:19

Liebe Eltern, vielleicht denken Sie, wie kann ein Kinderautor so etwas sagen. Wir wissen es selbst nicht. Dennoch wollen wir Sie auf seine Romane aufmerksam machen. Informieren Sie sich. Checken Sie diesen Link und dann nichts wie los in den nächsten Buchladen. Fragen Sie nach Hermann Mensing. Nennen Sie den Ueberreuter Verlag und verlangen Sie Mensings Romane.  Rügen Sie den Buchhändler, wenn er keinen vorrätig hat. Verlangen Sie, dass alle von Mensing erschienenen Romane unverzüglich bestellt werden. Nennen Sie es eine Unverschämtheit, Mensing nicht am Lager zu haben. Und nun machen Sie schon. Dies ist ein Befehl.

 

So 17.11.02    11:37

In stiller Zufriedenheit bereitet M. sich auf das vor, was den Morgen so angenehm macht. Man fühlt sich so gut danach. So leicht. So entleert. Einfach herrlich!  

18:13

So eingestimmt besuchte M. ein Symposium, das im Rahmen eines Niederländischen Kinder- und Jugendtheaterfestivals stattfand. Und siehe da, all seine Vorurteile wurden einmal mehr bestätigt: teilnehmende und eingeladene Gäste waren Dramaturgen, Regisseure, Theaterleiter. Nicht ein Autor. Danach fühlt man sich schlecht. So schwer. So belastet. Einfach schrecklich. 

 

Mo 18.11.02    9:28

Achtung! Überall schleichen Muslime herum und planen Anschläge. Und sollten sie es nicht tun, werden unsere Geheimdienste es machen, damit wir endlich einen Vorwand haben, alle Muslime Grund und Boden zu bomben.  Hauptsache, Sie, meine Damen und Herren, haben Angst. Seien Sie fremdenfeindlich.  Es ist nämlich das Fremde, das uns bedroht. Unsere westliche Kultur! Unsere Werte. Wie wir die Welt ausbeuten und all das. Das sollen wir nicht länger dürfen dürfen. Aber wir werden uns wehren. Vor solchen Kameltreibern werden wir uns nicht einschüchtern lassen. Oder?

10:03

Also. Nicht vergessen. Wachsam sein. Dies ist die Woche der Wachsamkeit. 

13:13

Sie schuettete den Sand aus der Urne und zeichnete mit dem Finger darin.
Satz von Cornelia Travnicek, Traismauer, Oesterreich
Die Geschichte zum Satz:
Papa. Feine, weißgraue Asche, von Muscheln durchsetzter Sand, Kalksplitter, Papa. Mit den Händen schob sie die Asche zu einem kleinen Hügel. Mehr nicht, Papa. Zerrieb ein wenig davon zwischen den Fingerspitzen, die weiß wurden. Schaufelte sie zurück in die Urne und machte sich auf den Weg. Es gab Lieblingsplätze. Die drei Linden auf dem Berg, der sich allein weit und breit aus der Ebene erhob, der den Blick freigab auf das Land bis zur Grenze, der im Innern ausgehöhlt erst den Nazis, dann der Nato als Raketenbasis diente, dorthin fuhr sie mit ihm. Sagte, weißt du noch, Papa, du und ich auf Onkel Hans Motorrad, wie mein Haar flog und wie dann der Motor streikte und du uns einfach den Berg hinabrollen ließest, bis der Motor sich nicht länger weigern konnte und knallend ansprang? - Eine Handvoll, einverstanden? - Die Asche verwehte, stand in der Luft wie ein Hauch, während die Kalksplitter zu Boden fielen, Spreu und Weizen. Komm, Papa, weiter. - Der Ausflug nach B. - Ich war acht oder zehn und ein anderer Onkel, ich habe seinen Namen vergessen, hatte uns zu einer Landpartie eingeladen. Er besaß ein Auto. Und auf dieser weiten Straße, die gewellt vor uns lag, weit und grau, erreichte ich zum ersten Mal in meinem Leben hundert Stundenkilometer. Der Himmel über mir flatterte wild, die Welt links und rechts löste sich auf in verschwommenem Grün, zerschnitten vom Rausch der Geschwindigkeit. Und du riefst: Geht es nicht schneller, Heinz. - Richtig, jetzt weiß ich es wieder. Er hieß Onkel Heinz. Aber schneller als hundert ging damals noch nicht. - Zwei Hände voll, einverstanden. Sollst über der Straße schweben auf ewig und jeden beschützen. - Und ein wenig von dir muss auch in den Fluss, der dir so nah war. Das Wasser ist Mutter. Vom Wasser kam alles. Kannst über ihm schweben, kannst weich und weiß langsam eintauchen und einmal das Meer erreichen. - Nun treib schon davon, Papa, geh. - Und was übrig bleibt, Papa, stelle ich auf mein Klavier. Ich werde dich bei mir haben, die ganze Zeit, werde ab und an mit dir sprechen, und wenn Mama dann tot ist, wenn Mama auch Asche ist, so wie du, dann werde ich euch in einem Eimer vermischen, so dass keiner mehr unterscheiden kann. Und dann fort mich euch in den Fluss. Dann will ich euch nicht mehr sehen. Dann ist es aus und vorbei. Dann habe ich lange genug für euch gesorgt. 

13:52

Sehr geehrter Herr Mensing,

Sie haben Bond aus dem Weg geräumt. Das war nicht
sehr nett von Ihnen, er war einer unserer besten Agenten. Wenn Sie da
mal nicht einen schweren Fehler begangen haben. Seien Sie von nun an
lieber auf der Hut, denn ab jetzt könnte hinter jeder E-Mail einer von
uns stecken. Wir schrecken auch vor der Nutzung falscher Identitäten
nicht länger zurück.

In diesem Sinne freundlichst verbleibend,
Ihre Organisation der anonymen E-Mail-Schreiber.

 

Di 19.11.02   15:24

Bitte konzentrieren Sie sich. Bitte denken Sie an alle Schurken dieser Welt. Und dann summen Sie bitte folgendes Mantra: keiner vermisst Euch, also verpisst Euch.... Diese Aktion beginnt morgen um 15:00 MEZ. Etwa 6,5 Milliarden Menschen nehmen daran teil.  

16:27

Folgendermaßen muss es sich abgespielt haben. Jemand hat ein Orangennetz  fortgeworfen. Es ist auf dem Ast eines Haselnussbusches gelandet. Oder dorthin geweht. Ein Star hat sich auf dem Ast niedergelassen. Mit den Krallen hat er sich in den Maschen des Netzes verhakt. Er ist aufgeflogen, er hat versucht, sich zu befreien, aber das Gegenteil war die Folge. In Panik hat er sich nur noch fester darin verhakt. Er wird geflattert haben. Er hat geschrieen. Dann ist er verdurstet. Ich sah ihn vorhin. Er hing mit dem Kopf halbschräg nach unten, der Schnabel weit aufgerissen. Er war skelettiert. Abheften unter: kleine Tragödien. 

 

Mi 20.11.02  16:20

Die Geschichte des Zentrums meiner Heimatstadt wird zum zweiten Mal innerhalb der letzten vierzig Jahre neu geschrieben. War es Anfang der 60er der Abriss der Altstadt mitsamt eines ehemaligen Damenstiftes zugunsten eines schon bald nach seiner Errichtung wegen seiner Tristesse von allen verspotteten innerstädtischen Platzes mit Tiefgaragen, waschbetonverkleideten sechs- bis achtstöckigen Häusern und einem ebensolchen Kaufhaus, ist es nun - fünfundzwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch der Textilindustrie -  die Verwandlung einer riesigen Industriebrache in einen von Kanälen durchzogenen Park, an dessen nordöstlicher Peripherie sich eine Pyramide von respektabler Höhe erhebt. Der ehemaligen Turbinenhalle der Textilfabrik steht die Wiederauferstehung als Rockmuseum bevor. Die Brücken über die Kanäle sind geschwungen, die Handläufe aus gebürstetem Edelstahl, die Uferpromenaden aus hellgrauem Granit (?), es gibt Ufertreppen, beleuchtet wird das Areal von kühlen, postmodernen Halogenlampen, da alles sieht gut aus, ja, aber mir ist es zu mondän und ich bin gespannt, wie das ausgehen wird, wenn es fertig ist. 

Schob meine Tante, die jetzt 94 ist und diese Stadt schon längst nicht mehr wieder erkennt, mitten durch diese erfundene neue Welt. Was sie sich fragt, frage auch ich mich: wer bezahlt das alles? Was ich mich darüber hinaus frage: welche Vision steckt dahinter? Wie soll der Dinkelpark die Situation einer Grenzstadt mit 17% Arbeitslosen zum Besseren wenden? 

Im Übrigen: heute war ein Tag mit frischer Luft und viel Sonnenschein. Ein Tag, um aufzuladen, denn morgen geht es schon in die nächste Runde meines Romans.  

Was die Frage nach Sinn und Zweck dieser Aufzeichnungen angeht, will ich Folgendes sagen: Es kann nur so sein, dass hier und da ein Satz entsteht, der Bestand hat. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

 

Do 21.11.02       10:11

Kraniche gestern, Trompetenrufe ausstoßend, auf Kurs Südwest, vorgestern um fünf aus dem Fenster geschaut, gehofft, klaren Himmel zu sehen und niederstürzende Leoniden, zur Bank vorhin, um säckeweise Geld nach Luxemburg zu schaffen, zehn Finger aufgelegt, den Blick nach innen, denn es soll weitergehen, also....

12:35

Sich Knoten knüpfend dem Tag verschreiben. 

14:44

Hundescheiße. Wo man geht und steht Hundescheiße. 

 

Fr 22.11.02  00:10

I feel like a prisoner in a world of mystery... (5)

12:27

Möglich, dass ich der Einzige bin, der in diesem Augenblick ein Rotkehlchen beobachtet, das auf einem Ast des Pflaumenbaums vor meinem Fenster sitzt. Ab und an stößt es spitze Rufe aus, schaut nach links oder rechts, plustert sich. Dann schaut es her, sieht, dass ich es beschreibe und fliegt davon. 

 

Sa 23.11.02    16:05

Die Lottozahlen: 1 2 3 4 5 6 Zusatzzahl 7   Alle Angaben ohne Gewähr 

23:45

Unglaublich. Ich habe gewonnen und muss nicht mehr schreiben. 

 

Fr 29.11.02   16:22

Auf Wiedersehen. 

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. 

 

Sa 30.11.02   16:11

Ich habe Sie und Sie haben mich nicht geliebt. Warum wieso weshalb? Später...



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1. Lion Feuchtwanger "Die hässliche Herzogin" Aufbau Verlag Berlin 1994 // 2. Katharine Hepburn // 3. Kurt Vonnegut Jr. "Breakfast of Champions" Panther Books, 1973 // 4. abgewandelt: Shakespeare "Der Kaufmann von Venedig" // 5. Bob Dylan  Time out of mind 1997 - "Highlands"  //

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