Oktober 2017                       www.hermann-mensing.de      

    

mensing literatur
 

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So 1.10.17 8:33 sonnig, 9 Grad

Kein Drängen und Sehnen. Bis spät auf dem Sofa sitzen. Gut schlafen. Und gleich in die Pilze. So soll es sein. Ach ja, ich vergaß. Tanzen ist wichtig.


Mo 2.10.17 21:53

Flo weiß, wo der Wald ist. Wir fahren los. Wir kommen auf die Autobahn. Seine Kinder sagen, was gesagt werden muss. Ich habe Hunger. Ich habe Durst. Wann sind wir da? Eine Viertelstunde später parken wir das Auto bei den Forellenteichen. Zwei Teiche, eher trüb für Forellen, aber es sind Männer da, ringsum stehen sie, proletarische Typen, Russen auch. Wir gehen den Weg zum Wald. Flo sagt, Steinpilze brauchen Kiefern, Altholz, Moos und Licht. Der Wald linker Hand ist ein Buchen- und Eichenwald. Er steht voller Lamellenpilze. Wir aber wollen Röhrlinge. Röhrlinge sind auch bei eklatantem Fehlgriff nie tödlich, wir finden aber zunächst nur einzelne. Erst, als wir abbiegen, sehen wir einen von der Sonne beschienenen Kiefernwald, nicht zu dicht, nicht zu dunkel, vermoost und voller Altholz. Dort steht eine Marone neben der anderen. In zehn Minuten haben wir mehr, als wir essen könnenb. Auf dem Rückweg findet Flo einen Steinpilz. Es ist der schönste Steinpilz, den ich je gesehen habe. Kein Wunder, denn ich habe ja noch nie einen gesehen. Ich bin neidisch.


22:10





Zwei Tage habe ich überlegt, ob ich mir eine gebrauchte Leica kaufen soll. Dann habe ich begonnen, zu handeln. Mein erstes Angebot war zu niederig. Anderthalb Tage später habe ich ein zweites abgegeben. Darauf hat der Verkäufer geantwortet, unter ... wolle er sie nicht hergeben. Schade, habe ich gesagt, aber heute früh war innerhalb einer halben Stunde dann doch alles entschieden, ich musste ein Auto organisieren, nach Gronau fahren und die Leica D-Lux 5 kaufen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Sie kann natürlich auch Farbe, aber s/w ist so vornehm.


Di 3.10.17 20:03

dreh sie ruhig
sie ist alt
sie hängt durch
aber ich liebe sie
ich habe sie vor sieben jahren gekauft
sie war runtergekommen
jemand hatte sie schlecht behandelt
was rede ich schlecht
da habe ich sie aufgepeppt
aber pass auf
wenn du sie drehst
will sie mehr


Mi 4.10.17 16:09 bewölkt, windig, frisch

Gestern war ich ins Tango Passion eingeladen, Brunch mit anschließendem Tango, vielleicht beides zur gleichen Zeit. Ich kam früh, half beim Gemüseschnippeln und Tischdecken, peu á peu kamen immer mehr Menschen. Als ich den Club betreten hatten, waren mir vier große, verschiebbare Spiegel aufgefallen. Ich hatte meine Leica dabei, wie viele Fotografen der Vergangenheit keinen Schritt ohne ihre Leica getan haben, und kam mir vor, als wäre ich Teilhaber einer Tradition. Das fühlte sich gut an. Ich machte hundertzwanzig Fotos, von denen dreißig übrigblieben. Hier ist eines.






Do 5.10.17 9:28 Regen, Wind

Ich werde mich heute kaum bewegen. Alles, was ich brauche, ist in Reichweite. Wenn die Seele durchhängt, lege ich mich eine Viertelstunde unter meine Rotlichtlampe, danach geht es ihr sofort besser. Ich muss also nicht einmal nach Mallorca. Ich brauche nur eine Steckdose. Während es draußen schüttet, habe ich Kaffee, Bücher, Utensilien zur Bewußtseinserweiterung, also noch mehr Bücher, ich habe Worte, die sich einstellen und dann wieder welche, die sich verstecken, aber jedes hat sein Recht und mit jedem werde ich mich auseinandersetzen.


21:38

Bis heute früh war es Kunst. Dann kamen Männer. Sie kamen mit einem großen gelben LKW mit Anhänger. Auf dem Motorwagen war ein Gabelstabler vertäut. Auf dem flachen Hänger war Platz. Die Männer hatten Werkzeug mitgebracht. Der Künstler Justin Matherly war auch da. Jedenfalls wäre ich da gewesen, wenn ich der Künster gewesen wäre. Aber ich war nur der, der vorbeifuhr und sah, wie Nietzches Rock - nun vertäut - auf dem Anhänger des LKW mit Leverkusener Kennzeichen lag, der mit rotierenden, orangefarbenen Lichtern auf der Promenade stand, langsam anfuhr, vorsichtig bis zur Windhorststraße rollte, und dort einbog.

Das klappt nicht, dachte ich, der ist viel zu lang, da ist alles zu eng, da ist eine Baustelle, da sind Schwärme von Radfahrern, aber dann stellte ich fest, dass die Radfahrer ausnahmsweise Respekt zeigten und die Räder des Hängers einschlugen.

Der Künstler war traurig. Wohin jetzt damit, dachte er, denn das ist oft so bei Künstlern, sie machen und tun, sie bewegen große Mengen Material, sie lösen Probleme, von denen die Menschheit noch gar nichts wusste und bleiben drauf sitzen.

Ich kann meine Texte abspeichern. So ein Künstler benötigt eine Halle. Zumindest einen großen Raum. Die, die ich kenne, haben Hallen. Das ging Herrn Matherly durch den Kopf.

Vielleicht aber hatte sich ja ein Käufer gefunden. Zeit zur Entscheidung hätte er gehabt. Drei Monate hätte er drumherum gehen können, um sich vorzustellen, wie er den Felsen, der sich auf die Wiederkehr des ewig gleichen bezieht, in seinen Garten stellt, hinten vor die Ecke mit den Rhododendren, links vom Pool. Da die Rhododedren am Hang stehen, könnte man vom Felsen hinunter schauen auf den See, allerdings ist das nicht der See im Engadin. Nietzsche war ja dort. Schlußendlich ist er in einer schweizer Nervenklinik gelandet. Wie auch immer. Der LKW hatte die Kurve gekriegt und fuhr davon. Und wenn es heute früh noch Kunst war, was drauf vertäut war, was war es jetzt?


Fr 6.10.17
19:32 alt, regnerisch

Es fing gleich nach dem Insbettgehen an. Der Vollmond griff zu, die Tangostunde kreiste mir durch den Kopf, weil ich nicht mehr wusste, ob ich die Saccada mit dem linken oder dem rechte Bein einleiten muss, die Schädeldecke weitete sich und mein Herz poltere. An Schlaf war so nicht zu denken. Gegen drei stand ich auf und fotografierte. Den Vollmond. Die Nachbarschaft. Ich war begeistert. Nachtfotos können berückend sein, diese waren es nicht. Ich wälzte mich bis zum Morgen, fuhr zu der Lehrerin unserer Kinder, die mich zum Frühstück eingeladen hatte, im Regen fuhr ich wieder heim, legte mich eine Stunde aufs Ohr, fuhr in die Stadt, musste auf die Kutsche und saß kaum auf dem Bock, als es zu gießen begann. Dann hörte es auf. Dann fuhr ich zwei Runden. Dann zeigte die Batterie bedrohlichen Niedrigstand. Ich fuhr zur Garage und stellte fest, dass ich den Funkschlüssel zuhause vergessen hatte. Es gab eine Lösung, eine Kollegin wohnt gleich um die Ecke. Ich rechnete ab. Erst fehlten zehn Euro, dann schließlich nicht, ich machte Feierabend und lief zur Bushaltestelle. Der Bus war gerade weg. Ich wartete. Es regnete. Der Bus kam. Die Menschen standen und stanken. Ich wollte nur fort, heim, etwas zu essen machen. Das alles war heute, aber heute ist noch nicht vorbei, gleich nämlich geh ich Tango tanzen. Ich hoffe, das hilft. Die Chancen auf Heilung sind gut.


So 8.10.17
18:25 leicht bewölkt 15 Grad

Ich weiß nicht, was ich fühle. Ich wusste es noch nie. Gefühle machen mir Angst. Sie überfallen mich. Sie fragen nicht, sie steigen auf wie Luftblasen aus großer Tiefe und zerplatzen. Mein Herz reagiert. Als wäre mein Herz der Ort der Gefühle. Mein Herz ist ein Muskel, nicht mehr. Aber dieser Muskel reagiert. Wenn es ist, wie es ist, muss ich Tabletten nehmen, die Gefühle abschirmen. Abgeschirmt wird das Herz ruhiger und das Leben unintere
ssant. Das passiert meist, wenn die dunkle Jahreszeit näherkommt.


Mo 9.10.17 12:32 bewölkt 9 Grad

wäre die schlange nicht so lang,
und hätten alle, die dort stehen, zeit,
würd mir das leben nicht so bang,
kein weg wär mir zu weit.

doch jeder, der dort warten muss, schwitzt blut,
ich stehe hintenan und blute mit,
es geht mir schlecht, es geht mir gut,
es ist ein kreuz, ich kenn mich nicht.

was gut ist, mach ich auf der stelle schlecht,
was schlecht ist, ist der anderen schuld,
ich mache es mir immer recht,
und fordere geduld.

geduld, mein kind, du süße braut,
du hast mir doch noch nie vertraut,
geh weg, komm her, zerreiß mein herz,
das schönste daran ist ja doch der schmerz.

ich wünsche mir so sehr ein glück,
das es nicht gibt, ohne zurück,
ein großes schweben über mir
ein wald, ein see, ein bett, mit dir.


Di 10.10.17 11:21 bewölkt 12 Grad

Sie ist eine der besten Tänzerinnen und leistet sich Extravaganzen. Manchmal trippelt sie 16tel auf der Stelle und wackelt dazu mit dem Hintern. Fehlt nur ein Häschenschwanz. Letztens trug sie eine Wickelbluse mit tiefem Ausschnitt, einen roten Rock dazu, Pumps. Der Ausschnitt war so knapp, dass man den Hof der linken Brustwarze sah. Da ich sowieso schlechte Laune hatte, konnte mir das nichts anhaben, aber ich sah zu, dass ich fort kam.

12:59

Die beiden haben eine lange, gemeinsame Lebenszeit. Unaufgeregt und vertraut laufen sie nebenbeinbander, ohne ständig nach außen zu weisen und zeigen zu müssen, wer sie sind und wie sehr sie sich lieben. Das überzeugt mich mehr als jedes frisch verliebte Paar. Ich werde neidisch. Ich denke zurück.

16:25

Die Heizung ist an.


Mi 11.10.17
16:42 bewölkt 16 Grad

Vorgestern wollte ich das Sieb meines Vaporizers säubern. Es steckt in einem kleinen, kaum daumennagelgroßen Drehverschluss. Den hielt ich im Bad überm Waschbecken unter fließendes Wasser und begann das Sieb zu bürsten. Dabei flutschte der Drehverschluss weg und verschwand. Was blieb, als die Verkleidung unterhalb des Waschbeckens und den Abfluss darunter samt Knie abzuschrauben. Beides ging leicht von der Hand, aber bis auf Haare meines ehemaligen Mieters fand ich nichts. Ich schraubte den Syphon wieder an, nur um festzustellen, dass die Verschraubungen jetzt Wasser durchließen. Ich wiederholte den Vergang mehrere Male, bekam sie nicht dicht, stellte einen Eimer darunter und vertagte mich. Als ich gestern am späten Nachmittag ins Bad kam, um meine klempnerischen Fähigkeiten erneut auszuprobieren, fand ich den Drehverschluss links neben der Zahnbürste auf dem Waschbecken. Soviel zur selektiven Wahrnehmung der Menschen. Glauben sie das Eine, sehen das Offensichtliche nicht mehr.


Fr 13.10.17 23:25

noch ist alles gut
alles ist gut alles
noch bin ich nicht auf den knien
noch nicht nicht
wie die rumänischen bettler
wie der schwarze
auf der mauer an der bahn
hinterm lidl
noch atme ich atme
lebe ich lebe
aber das geht nicht ewig gut gut
irgendwann wann
ist es einfach vorbei bye bye
und oft bleibt nicht mal mehr zeit zeit
sich zu verab
verabschied
verabschieden
so ist das das
was soll ich sagen
noch atme ich
lebe ich ....

Sa 14.10.17 19:33 ein sonniger, warmer Tag

einmal wäre genug
doch man macht es nochmal
nochmal und nochmal
dann ist man alt
und sagt scheisse
ich will etwas machen
um das nächste zu machen
und wenn das gemacht ist
wieder das nächste
nächste nächste und weiter
schwer zu sagen
warum mir das gefällt
denn es bringt nichts ein
niemand glaubt mir
aber völlig unvorhersehbar
verwandelt es viele augenblicke in leben
so dass ich den rest besser ertrage


Mo 16.10.17 19:55 es war ein wunderbarer, sonniger Tag

Eisdiele. Draußen. Die mit dunkelblondem, mittig gescheitelten Haar, das zu einem Pferdeschwanz gebunden ist, sitzt zurückgelehnt, die Hände abwartend auf den Oberschenkeln, ein bisschen sieht das aus, als wollten sie gleich etwas entgegnen, vielleicht mit in den Fingerspitzen pulsierender Energie. Sie schaut mit schmalem Mund zu der Rotblonden links neben ihr, eine mit langem, mittig gescheitelten Haar. Deren rechte Hand liegt auf dem Oberschenkel, die Finger nach unten, der linke Oberarm ist auf die Lehne des Rattansessels gestützt, den Unterarm hält sie halbschräg nach oben, die Hand horizontal, wobei der Zeigefinger unterstreicht, was sie sagt. Mittelfinger, Ring- und kleiner Finger stehen wie eine Vorahnung auf das da, was sie sind: Knochen. Beide haben ihr Eis schon auf. Beide tragen kaputte Jeans, beide hauteng. Die linke trägt weiße Sneaker, die rechte braune geschnürte Halbschuhe. Ein Mann in Jeans, grauem, ärmellosen Pullover über weißem, kurzärmeligen Hemd, überquert die Straße. Er schaut zu den Mädchen.


Di 17.10.17
19:19

Die Sonne hat es nicht durch den Hochnebel geschafft, es war kühl, auf der Kutsche habe ich bis auf die Knochen gefroren. Außerdem war nichts los. Ich habe sie alle abgeschreckt, ich habe gestrahlt und gestrahlt, steigt doch endlich ein, habe ich gestrahlt. Nein, ihr nicht, wegen euch strahle ich nicht, bleibt erst gar nicht stehen. - Euch führe ich sofort. Ihr wollt nicht? Was glaubt ihr, wie teuer ein Taxi wäre, wenn es euch zwanzig Minuten durch die Stadt führe, und der Chauffeuer erzählte euch, wie die Stadt entstand, welche Kräfte stritten, er hätte Geschichten von Verrat im Koffer, eine nächtliche Aktion, bei der ein Stadttor geöffnet wird, ein Verrat, dem man gern zustimmt, und er zeigte ihnen Gebäude, die Gründe haben, genau dort zu stehen, wo sie stehen.

Aber bis auf drei Frauen meines Alters, geschmackvoll geschminkt und teuer angezogen, wollte in den ersten zweieinhalb Stunden niemand etwas von mir. Eine kam zu mir und fragte, ob sie mich etwas fragen könne? Natürlich, sagte ich. Sie fragte, wo ich meine Mütze gekauft hätte. Ich trage eine kleine, strahlend blaue Mütze, bei deren Anblick Muslime sich fragen, ob ich Imman einer islamischen Sekte sein könnte, von der sie noch nie gehört haben, oder ein verhasster Rabbi.

Ja, wo ich die her hätte, fragte die Dame und die anderen Damen bestätigten lachend, die Mütze sei aber wirklich süß. Die kann man nicht kaufen, sagte ich. Die hat meine Freundin gemacht. Stricken Sie sich doch auch eine. Das hätte sie schon vergeblich versucht, sagte die Forsche. Die andern bestätigten, das hätte auch bei ihnen nicht hingehauen. Dass sie das so achselzuckend eingestanden, gefiel mir sehr.

Außerdem war da ein Bewohner des nahen Osten oder Süditaliens, schwarze, enge Hosen mit ebenso schwarzem Hemd und silbernen, vertikalen Streifen darauf, einer schweren schwarzen Sonnenbrille mit Gold auf den Bügeln, der mich fragte, ob es nicht für zwei oder drei Euro ginge.

Und natürlich die drei Muslime, die von meiner Mütze so verwirrt waren. Sie standen mitten auf dem Prinzipalmarkt. Einer posierte. Wie das ging, wussten er genau. Den Daumen der linken Hand hinterm Rand der Jeanstasche. Das linke Bein und den Körper eine knappe Viertelstunde gedreht. Ich machte mir einen Spaß, und fuhr ganz langsam an den Fotografen heran. Zwei grinsten. Ich hupte. Großes Geschrei. Die Kutsche gefiel ihnen. Sie wollten sofort Fotos machen. Ob das ginge? Natürlich. Schon posierte der eine (es ging nur um ihn) neben der Kutsche, auf dem Trittbrett, in der Kutsche, und ließ den Arm raushängen. Das dauerte. Und als sie fertig waren, hielt mir der Poser fünf Euro hin. Ich wehrte ab. Nein, nein, sagte ich. Schon gut. Nein, nein, sagte er, das ist ein Geschenk. Und was das mit meiner Mütze auf sich hätte, wollten sie noch wissen. Ich nahm die Mütze ab und zeigte ihnen meine Glatze. Wir lachten.


Mi 18.10.17 10:25 bewölkt 10 Grad

Ob der Hochnebel noch vom Himmel fällt, so wie er in der Früh aufgestiegen ist? Oder sind das doch Wolken? Ich warte. Meist warte ich auf Etwas, das ich nicht einmal benennen kann. Gestern abend las ich, bearbeitete Fotos, hörte I'm free, to do want I want, at any old time von den frühen Rolling Stones. Ich bin großer Fan der frühen Stones, später haben mich die Beatles eingewickelt, aber wenn ich die frühen Stones heute höre, weiß ich wieder, was ich an ihnen so mochte und immer noch mag. Ein befreundeter Bassist, der letztens auf einem Konzert der Rolling Stones war, erzählte begeistert, wieviel rohe, unverputzte Energie noch in dieser Band stecke. Da saß ich also, allein, Musik im Raum. Lumenstarke LED Lampen bekämpften die Dunkelheit, die mich in diesen Tagen immer aus der Ruhe zu bringen droht, saß da und dachte, ja, ich bin auch frei, ich kann tun und lassen, was ich will, niemand hat mir Vorschriften zu machen, ich überlebe mit dem, was ich habe, ich lebe gut, ich habe in den letzten vier Wochen zwei Investitionen ohne Hilfe einer Bank gestemmt, kleine Dinge, werden Sie sagen, was ist schon eine neue Waschmaschine und eine gebrauchte Leica? Fragen Sie sich das, wenn Sie Rentner sind, dann ist das plötzlich eine Menge Geld, und wer da nicht aufpasst, geht der Bank auf den Leim. Sie müssen aber wissen, dass ich nie Dinge kaufe, die ich nicht bar zahlen kann.


Do 19.10.17
21:53

Mittags habe ich in der Sonne gelegen. Nachmittags war ich beim Tango. Wir üben Saccadas. Die sehen einfach aus, sind aber verwirrend. Der Tänzer will tanzen, aber der Kopf verhindert es. Zum Glück ist das ein vorübergehender Zustand. Nach einer Weile sackt das Erlernte in die Füße, und die wissen dann, was zu tun ist. Bis dahin aber ist der Frust oft groß. Und dann hupt mich beim Überqueren einer viel befahrenen Straße jemand an, ich bin sofort auf hundert, könnte Spiegel abtreten und Kinnladen brechen, bis Blut fließt. Das Heimfahrt auf dem Rad versöhnt ein wenig, die Leere zuhause ist beängstigend.


Fr. 20.10.17 14:15 wechselnd bewölkt, windig, 16 Grad,

Nachts schleicht die Leere in mein System. Sie hat es auf mein Herz abgesehen. Mein Herz ist ein grundguter Muskel, aber wenn er diese Unruhe spiegelt, schlafe ich schlecht. Ich fürchte, ich habe sie geerbt. Meine Mutter hat sie mit Baldrian bekämpft. Sie ist fast 97 Jahre alt geworden. Ein Arzt wollte mir einmal Betablocker verschreiben, aber die wollte ich nicht. Ich verbinde diese Unruhe auch mit der Dunkelheit. Ich glaube, es gibt eine genetisch überlieferte Furcht, denn im Dunkeln war es nie leicht für uns.


Sa 21.10.17
13:25 bewölkt, regnerisch, 12 Grad

Sakrale Räume, hohe, gotische Hallen, bleigefasste Fenster, Hall, das beruhigt mich. Ich setze mich in eine Bank, fühle mich klein vor Gott, bin klein vor Gott, denn ich bin es ja selbst, Gott, der sich diese Kirche gebaut hat, damit ich mich hin und wieder an mich erinnere, und eines kann ich Ihnen sagen, er funktioniert immer. Er sagt, ach, Hermann, isses mal wieder so weit, und ich antworte, ja Mann. Eine Bank weiter schwatzen zwei Frauen. Das Smartphone eines älteren Mann singt, er nimmt an und verschwindet zwischen Säulen. Ich sitze und lasse mein Herz gehen.


Mo 23.10.17
12:11 bewölkt, 10 Grad

Die Verwirrung war kurz gestern früh, war es acht, neun, oder vielleicht doch erst sieben Uhr? Wir mussten das googeln und wussten dann, dass die Zeit erst am folgenden Wochenende umgestellt wird, aber die Diskussion darüber, ob nun vor oder rückwärts geht, hält trotzdem immer ein paar Tage an, weil die innere Uhr anders funktioniert. Immerhin war sicher, dass Sonntag ist, und Sonntag hieß, ich hatte ein Auto zu organisieren, musste mein Schlagzeug abbauen, ins Auto laden und zu einem Auftritt fahren. Ein ehemaliger Bauernhof in Mecklenbeck, ein Begegnunszentrum, in dem drei Mittdreißiger seit etwa sieben Jahren zweimal jährlich einen Nachmittag veranstalten, an dem Musiker aus der Umgebung zeigen können, womit sie ihre Zeit verbringen. Ich war dort, um mit der Bigband Contentos fünf Stücke zu spielen. Um es gleich vorweg zu sagen, ich staune jedes Mal, wie man mit vernünftigen Arrangements mit Amateuren einen Klangkörper schmieden kann, der lebendig klingt und groovt. Aber wir waren ja nur Teil des Aufgebotes. Ein anderer war ein Pensionär mit einem Yamaha-Keyboard, das dem Cockpit eines Raumschiffes glich. Er hatte Beatles Songs im Repertoire, die er in mühevoller Kleinarbeit programmiert hatte. Während der Computer also jämmerlich wummerte, mühte er sich mit einem Finger durch die Melodie. Es war ein Grauen, glauben Sie mir, aber die Menschen applaudierten dennoch, ich nehme an, aus Mitleid.


21:50

(laut, schnell, mit einer wut zu sprechen)

ich bleibe
ich bin wo ich bin
wäre ich vor der tür
stünde ich vorm haus
wäre ich am strand
säße ich unter einem sonnenschirm
bliebe ich nicht drin
ginge ich nicht vor die tür
äße ich pommes
oder wartete
bis ich fliegen kann
wenn ich am himmel stünde
riefen die leute
was ist das
aber da ich bleibe
bin ich einsam im wald
bevölkert am strand
ein wort ohne gleiches


Di 24.10.17
23:34 bewölkt 16 Grad

tagesgericht (4,59 mit salat)

hätte sich heute etwas ereignet
das von gestern war
hätten alle gesagt
das ist ja von gestern
weil es sich aber heute ereignet hat
haben alle hoppla gesagt
und rumgefragt
ob das jemand erklären kann
aber keiner konnte es
da haben sie wieder hoppla gesagt
wodurch das ereignis noch größer wurde
und immer mehr menschen hoppla sagten
und sich fragten was zu tun wäre
da noch immer niemand eine erklärung hatte
verklärte man das ereignis zu einem feiertag
das fanden alle gut
da musste niemand arbeiten
da konnte man am abend vorher trinken
ficken oder es lassen
und musste sich nichts unnützes fragen
aber am tag nach dem feiertag
war dann schon wieder etwas geschehen
das am tag vorher geschehen war
und wieder verstand es niemand


Do 26.10.17 22:20

Gibt's diesen Samstag noch was zu fahren? fragte ich den Chef.
Ja, eine Kutsche ist noch unbesetzt.
Können wir so verbleiben: wenn es heftig regnet, fahr ich nicht, wenn's nur feucht ist, von elf bis drei?
Es wird wahrscheinlich Schauer geben. Dauerregen ist nicht angesagt. Ich brauche aber eine Planungssicherheit. Was mache ich sonst, wenn um 9 Uhr eine 2-Kutschentour gebucht wird, und um elf regnet es dann?
Verstehe, also dann von elf bis drei.


Fr 27.10.17
20:44

Im Heim war es heute sehr schön. Die Pfleger hatten gesagt, kommt Jungs, an die frische Luft. Morgen ist es vorbei mit dem Wetter. Dass sie Jungs sagen, ist ok, finde ich. Scholz, der beim Essen neben mir sitzt, Dr. Scholz, sollten sie zumindest Herr Scholz nennen. Kriegen Sie mal 8 Jungs startklar, drei im Rollstuhl, einer davon elektrisch und fast immer kaputt, drei Rollatoren, alle aufs Messer verfeindet oder in tiefer Zuneigung verbunden, oft beides. Einer setzt sich an die Spitze, der Rest torkelt hinterher. Sie ärgern sich oder sind kurzzeitig fröhlich, die frische Luft kann die meisten, sie kriegen davon nur Krankheiten. Heute solltenzu einem Kanal, der in etwa 25 Meter lichter Höhe über einen Fluss führt, einem Kanalübergang. Einer wird bestimmt ersaufen, dachte ich und wusste auch schon, wer mir am liebsten wäre.


Sa 28.10.17
17:40 grau, kalt

Vier Stunden war ich auf der Kutsche und habe gefroren. Zum Glück musste ich nicht herumstehen und mir die Zeit vertreiben, ich hatte eine Fahrt nach der anderen. Eine Italienerin mit ihrem Sohn geriet beim Anblick der Häuser in der Raesfeldstraße (viel Jugendstil, unversehrte Fassaden) in Verzückung und wollte wissen, wie ich es mit der modernen Architektur halte, fände ich die auch so schrecklich? Ich antwortete, dass Architektur den Lebensraum der Mensche präge wie kaum eine andere angewandte Kunst, und sie daher natürlich eine hohe Verantwortung trage, der sie in dem einen Fall gerecht und im anderen nicht gerecht werde, aber schrecklich könne ich nicht bestätigen, nein.

Dieses Aufstoßen bei "zeitgenössischer Architektur" kömmt viele Menschen auf der Himmelreichallee in Höhe der ehemaligen West LB an. Ein mutiges Gebäude. Es liegt gut in der Landschaft, es hat Schwung und Ruhe, drum rum ist viel Kunst, aber viele Menschen mögen es nicht. Der Bau stammt aus den frühen 70ern des letzten Jahrhunderts.

Drei Erwachsene mit drei Kindern im Alter zwischen 5 und 10. Eine Erwachsene bat mich in Höhe des Sends (der münsterischen Kirmes), bei dessen Anblick die Kinder sofort auf die Karussells wollten, ob ich ihren Kindern nicht erklären könne, dass der Send eine Illusion sei. Gar nicht! sagten die Kinder, und ich sagte, wie soll das gehen, wo doch alles Illusion ist.

So fährt der ältere Herr Mensing also samstagmittags durch eine Stadt schwarz vor Fußgängern und Radfahrern, gejagt von Linienbussen, die ihn häufig, gern, wenn er zu gerade zu einer längeren Rede anheben will, von hinten schieben. Schöner Beruf, gefällt ihm ausnehmend gut trotz der erbärmlichen Bezahlung, aber die schönen Dinge tut er häufig für zu wenig bis gar kein Geld.


18:30

Eh sich Ende Oktober die Sonne auf Jahrzehnte in Nebel, Regen und Tristesse auflöst, und die Hypothese, morgen gehe die Sonne auf, das einzige ist, was uns noch retten kann, möchte ich von einem Mädchen erzählen, das ich vor ein paar Tagen auf dem Send sah. Es war vier, fünf Jahre alt, hatte den rechten Arm vorm Körper angewinkelt, und in ihrer Handfläche saß ein rosafarbenes, kurzhaariges Stofftier. Wahrscheinlich ein Hund, nicht größer als eine Pampelmuse, der intensivst gestreichelt wurde. Totgestreichelt fast, wobei das Mädchen selig schaute.



22:07

wenn der mond sich schuppt
die meere aufgehen
wenn die sonne sich schminkt
und die wolken ein bier schütten
wenn das allgemeine schwer wiegt
und töne macht
hat der tag hausschuhe angezogen
und wartet darauf
dass du kommst und dich endlich setzt
zu ihm setzt und sagst
du hast die erde im schuh
und das universum zwischen den schneidezähnen
geh wasch dich geh putz dir die zähne
und dann lass uns theater machen
mit der sonne dem mond den meeren
was hältst du davon


So 29.10.17 10:48 sonnig, 10 Grad

Ja. Ich werde aufstehen, aber ganz gleich wann, heute ist immer eine Stunde zu früh bzw. zu spät, ich habe ja jedes Jahr dieses Problem. Noch aber liege ich im Bett. Ich habe Kaffee getrunken und Müsli gegessen, ich habe mich gewogen und festgestellt, dass das Abnehmen trotz geringer Kalorienzufuhr im Augenblick stagniert, will aber nicht weniger essen, denn ich liege eh weit unter den empfohlenen Werten. Hat das damit zu tun, dass ich ein besonders guter Kostverwerter ist, oder klammert sich mein System mit aller Gewalt an das, was es hat, weil der Winter ins Haus steht?


13:17

ich atme nicht
verlass den himmel
meine haut wird gold
im dritten wird ein schimmel
aus dem bad gerollt

wie ich verehrt und liebt er licht
im finstern meiden wir den raum
er ist nicht da ich bin es nicht
das leben ist ein traum


Mo 30.10.17 12:45 wechselnd bewölkt, neun fucking grados


ich fische jeden teich
wo meine angel hin will
will ich mit
ich starre auf den see
auf fluss kanal auf schwimmer
die mir blinken
in stiefeln bis zum bauch
auf einer bank
in einer bretterbude
auf der böschung
am alten arm
seit 00Uhr00 im paradies
bin ich schon unterwegs


Di 31.10.17 12:19 bewölkt, 9 Grad

Wenn er im Fernsehsessel sitzt, weiß man nicht, sitzt da einer im Fernsehsessel, oder ist der Fernsehsessel ein Berg, den niemand wegräumen kann. Und dann all die Medikamente in der Küche. Große und kleine Kartons, nicht zwei, nicht fünf, eher fünfundzwanzig, vielleicht mehr. Mit deren Inhalt hält der Berg Balance. Ohne sie würde er errodieren. Er ist jünger als ich. Er ist ein jovialer Mann mit ordentlichem Händedruck. Freundlich. Mit einer Wohnung, in der alles so eingerichtet ist, als wäre man in der Wohnzimmerabteilung eines großen Möbelmarktes. Kunst ist an den Wänden, gute, gegenständliche Kunst. Nirgendwo liegt etwas, das jemand dort hingelegt und vergessen hätte. Nirgendwo ist etwas verrückt, verrutscht, geschweige nicht klinisch rein.

Dort bin ich und werde bewirtet. Jakobsmuscheln, Sauerbraten, Serviettenknödel. Rotwein, Schnaps. Alle 1A. Er kennt den Winzer. Er kennt den Schnapsbrenner. Und irgendwie gelingt es ihm, dass mein Glas immer voll ist, was dazu führt, dass ich nach etwa zwei Stunden ein Auge schließen muss, um Doppelsichtungen zu vermeiden. Aber ich lalle nicht und stürze auch nicht in die Glasvitrine. Stattdessen trete ich meiner Freundin vor's Schienbein. Sie hat mich hierher geschleppt, jetzt soll sie auch sehn, dass wir wieder wegkommen.

Kurz darauf bin ich im Bett. Um vier erwache ich. Mir ist nicht gut. Mein System ist instabil. Um acht breche ich zu einem Spaziergang auf, und erst, als ich mir eine Stunde später beim Bäcker eine Flasche überteuertes, von Coca Cola hergestelltes "gesundes" Wasser kaufe und auf der Stelle leere, lenkt mein System ein. Jetzt will es Kaffee und Frühstück.


zum November 2017