Hermann Mensing

Der Mann in der rotweißen Badehose

Da hinten das Meer, davor der Strand und die Menschen. Der Himmel bleich blau. Der Sand geharkt. Das Wasser erträglich. Mittdrin bauchhoch ein Mann, der gleich zu gestikulieren beginnt. Er winkt, denken alle, ein Opa, der einen Enkel heranwinkt, einer, der für ein Foto posiert, hier, schaut, der Opa, noch gut beieinander, im Sommer 2016 am Meer. In ein Album wird das Foto es nicht mehr schaffen, Alben gibt es kaum noch. Er wird auf einer Festplatte enden oder in einer Cloud neben hunderten und tausenden anderer Fotos. Denkt man, denkt einer vielleicht, der am Strand liegt und den Mann sieht, der gestikuliert. Aber dann, die wenigsten bemerken es, dann hört der Mann auf zu gestikulieren und hebt sich sehr langsam aus dem Wasser. Wenn man verrückt genug wäre, so etwas zu glauben, würde man sehen, wie er aufsteigt, wie an einem unsichtbaren Seil senkrecht emporgezogen, so steigt er auf, und jetzt weiß man nicht mehr, soll das wirklich ein Foto werden, oder sind vielleicht irgendwo Kameras versteckt, dreht man einen Film über einen Mann, der bauchhoch im Meer steht, gestikuliert und dann senkrecht zum Himmel steigt. Aber dafür bräuchte man einen Kran, und hier ist nirgendwo ein Kran, hier sind nur das Meer, der Strand, die Menschen, der Himmel, der Sand, also was geht da vor. Der Sommer 2016 war alles andere als biblisch, der Sommer war wie mehr oder weniger alle Sommer seit damals, als es noch derartige Erscheinungen gab, durchwachsen, und der Himmel ein Ort, an dem Vögel und Flugzeuge unterwegs waren, aber doch niemals Männer, zudem noch Männer, die ihren Zenit längst überschritten hatten, dieser Mann jedenfalls, der da gerade aufstieg, langsam, Zentimeter für Zentimeter, und jetzt, jedenfalls schien es so, bemerkten die Umstehenden, dass dort etwas vorging. Vielleicht hatten sie zunächst gedacht, der Mann habe vorher nur im Wasser gekniet, und wäre halt aufgestanden, aber damit war nicht zu erklären, wieso er jetzt schon fast auf der Wasseroberfläche stand und dann gleich darauf schon zwanzig Zentimeter darüber, um dann, ganz plötzlich, mit einem irrwitzigen Schwung aufzusteigen, so dass alle sich die Augen rieben und glaubten zu träumen. In gewisser Höhe blieb der Mann stehen, es mögen fünfzig oder hundert Meter gewesen sein, wie ein Drachen hing er da, und dann begann er, Kunststücke zu fliegen, jedenfalls sagten das später die, die zugeschaut hatten. Die, die ihre Smartphones emporgerissen hatten, um das Ganze zu filmen, denn das tut der Mensch ja, wenn er am Strand ist, er inszeniert, bildet ab, faket, die staunten später nicht schlecht, denn ihre digitalen Zweitaugen hatten nichts von dem registrieren können, was die, die nur zugeschaut hatten, im Brustton der Überzeugung erzählen. Aber wie es so ist, ein Ereignis ohne Bilder ist kein Erzeignis, und da Männer nie und nimmer aus dem Meer aufsteigen und am Himmel Kunststücke vollführen können, wie alle behaupteten, ging man davon aus, dass es sich wohl um eine Massenhalluzination gehandelt haben müsse, so wie die Menschen in biblischen Zeiten eben auch in Massen halluziniert hatten und dabei beließ man es. Die Zuschauer aber bombardierten die Medien mit Fragen. Sie hätten nicht halluziniert, sagten sie, Lügenpresse, riefen sie, denn dieses Wort war gerade modern und passte für jede Gelegenheit, denn die Welt war derart aus den Fugen geraten, dass sowohl das eine wie das andere ständig zur unumstößlichen Wahrheit erklärt werden konnte. Die Medien wehrten sich. Die Spezialisten gaben Kommentare ab. Massenhalluzinationen seien nichts Ungewöhnliches, bis schließlich die Zeichnungen mehrer Kinder auftauchten, und die zeigten das Meer, den blauen Himmel und am Himmel diesen kunstfliegenden Mann, der, das allerdings muss angemerkt werden, verschiedenfarbige Badehosen trug, einmal rot mit weißen Punkten, dann weiß mit roten Punkten, aber da nahmen es Kinder mit ihrer Fantasie nie so genau, denn wozu sollte Fantasie sonst gut sein, wenn sie nicht dürfte, was sie will, und so kann man abschließend sagen, dass dieser Sommer ein Sommer voller Wunder war, die nie aufgeklärt wurden. bb

Der Imbiss steht auf der Düne, sie ist gepflastert, versiegelt, verengt sich auf der einen Seite zu einem sandigen Weg zum Meer hinunter, auf der anderen öffnet sie sich zueinem Kreisverkehr und dem Reservat, das im Süden bis an die Ij und weit in den Norden reicht. Vor dem Imbiss stehen ein Chinese und eine dicke blonde Frau, beide mittelalt, beide sich lebhaft unterhaltend, beide mit einer Tüte Pommes in der Hand. Sie ziehen ein Stäbchen nach dem anderen heraus, tauchen sie in Mayonnaise, lecken sich nach dem Verzehr die Finger, nehmen ein neues, als der Mann in einem Zappa-T-Shirt und einer rot-weiß gepunkten Badehose auftaucht. Gerade noch hat er die Menschen verblüfft, als er am Himmel Kunststücke flog, was er für sein Leben gern tut, ihm aber nicht immer gelingt, denn manchmal, nicht selten, bricht die Kraft, von der er nicht einmal weiß, woher sie kommt, weil sie ja gegen jedes bekannte physikalische Gesetz verstößt, einfach ab, weshalb es es vorzieht, überm Wasser zu fliegen, denn da ist ein Absturz zwar auch nicht ganz ungefährlich, aber da der Mann in der weiß-rot gepunkteten Badehose gelernt hat, zu fallen, ist es bis jetzt immer alles glimpflich ausgegangen. Man muss sich halt strecken und aufpassen, dass man dem Wasser so wenig Aufschlagfläche bietet wie eben möglich. Sich lang machen, die Arme voraus, die Hände wie Spaten aneinandergelegt, die das Wasser beim Eintauchen aufreißen wie schwere Erde, dann geht es. Der Chinese blickt kurz auf, als der Mann sich setzt, die dicke blonde Frau kichert, sie findet dessen Badehose albern, alles in allem aber bleibt der Mann unerkannt, unbemerkt, er hat auch das lange geübt, die Anwesenheit unter vielen so einzurichten, dass er nicht auffällt. Er hat ein halbes Hähnchen vor sich, so ein Kunstflug macht hungrig, und er mag halbe Hähnchen sehr. Eine Mutter mit zwei Kindern nimmt am Nebentisch Platz nimmt. Die Mutter ist eine gute Mutter, zeitgenössische, vegan Mutter, und Pommes sind immer vegan. Sie weiß so gut wie alles über gesundes Essen, aber Pommes, das darf. Aber dann fangen die Kinder an, auf den Mann mit der rot-weiß gepunkten Badehose zu zeigen, und iiii zu rufen, denn Hähnchen sind nette Tiere, und Tiere, die isst man nicht, das hat die Mutter den Kindern beigebracht und das haben die Kinder sofort verstanden, denn erstens glauben sie, was ihre Mutter sagt, und zweitens gibt es kaum Kinder, die Tiere nicht lieben, zumal Hähnchen doch gackern und lebensfroh scharren, wie kann man also bloß Tiere essen. Der Mann in der weiß-rot gepunkteten Badehose kriegt mit, dass die Kinder etwas an seinem Hähnchen auszusetzen haben, und er überlegt, was zu tun ist, dann sagt er den Spruch, der ihn selbst in Erstaunen versetzt, und das Hähnchen steht auf und flattert davon. Da sind die Kinder vor Staunen sprachlos.


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