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Di 3.09.19 16:20 bewölkt

Altenburg ist ein Dorf bei Schaffhausen. Hauptstraßen meiden es, wer hier herumfährt, lebt auch hier. Unweit der Kirche gibt es einen Brunnen, in dem an warmen Tagen seit Generationen Kinder hocken und planschen. Über einen schattigen Weg geht es in kaum zehn Minunten hinunter zum Rhein, der hier, zwischen zwei Wehren fast ruhig und tiefgrün fließt. Hinterm Rheinfall jedoch ist er eher türkis und hat es sehr eilig. Dort war ich jeden Tag schwimmen, obwohl ich mir das, als ich ihn am Spätnachmittag meiner Ankunft zum ersten Mal sah, kaum hatte vorstellen können.


Mi 4.09.19 20:15 es regnet

Ein schöner Tag, trotz des Regens, der am späten Nachmittag einsetzte. Noch kann ich nicht erzählen, was war und was ist, denn es war und ist so überwältigend viel, dass es schwer fällt, eine Auswahl zu treffen. Ich warte also, und tue stattdessen Dinge, die Opas tun. Den großen Enkel vom Gymnasium abholen zum Beispiel und durch den Stadtverkehr zum Schlagzeugunterricht begleiten. Mit dem zweitjüngsten Enkel Uno spielen. Den jüngsten Enkel auffressen, was er zum Schreien lustig findet. Eis essen mit den Enkeln. Der zweitälteste Enkel nickt kaum, als er mich sieht. Das müssen Opas mit einem Schulterzucken wegstecken, denn in Enkelköpfen geht vieles vor, von dem weder Eltern noch Opas etwas ahnen. Später, wenn sie groß sind, und ich hoffentlich greis und gesund, kann es sein, dass man mehr erfährt. Am frühen Nachmittag fiel mir der Titel für das vom LWL und mir angedachte Lesebuch meiner Literatur der letzten zwanzig, dreißig Jahre ein: Wir denken Wir träumen


22:07

Und was, wenn der erste Satz keine Nachfolger will, heißt das, dass ich ihn schachtle und winde, bis ich den Überblick verliere, die Kommata mich überwältigen und zwingen, endlich zum Ende zu kommen?


Mo 9.11.19 8:04 leicht bewölkt

Das Wetter hatte gehalten, entgegen aller Prognosen hatte es nicht den ganzen Tag geregnet, das Fest, ein großes, rundes Jubiläum, war lange vorbereitet worden, eine Band spielte Lieder, die fast jeder kannte, sie spielte sie nicht einmal schlecht, ein bisschen schlampig manchmal, aber man konnte mitsingen und tanzen und die Stimmung war gut. Das Tanzen jedoch blieb den Frauen überlassen. Die Männer standen stocksteif herum und schauten zu. Höchstens, dass mal einer mit dem Kopf nickte. Man hätte nicht sagen können, ob sie sich amüsieren, sich in Fantasien verloren oder beides, aber die mutigen Frauen, die die Arme in die Luft warfen, sich drehten, dass die Haare flogen, mit dem Hintern wackelten und womit Frauen sonst wackeln, waren Objekte der Begierde, auch wenn jeder der hier anwesenden Männer das abgestritten hätte. Der Abend ging dahin. Die Männer blieben stocksteif. Vielleicht lag es daran, dass es anders als bei den jährlichen Festen, die an gleichem Ort stattfinden, keine Caipirinhas und Mojitos gab, was allseits bedauert wurde, denn sich mit Bier zu betrinken ist eine freudlose Sache, zudem muss man ständig aufs Klo. Als die Nacht den Zenit erreicht hatte, hörte die Band auf zu spielen, und das Fest zerlief.

22:08

Der Weg führte einen Hang hinauf durch Maisfelder, rechts eine Wiese, auf der Radwanderer ihr Zelt aufgeschlagen hatten, am Waldrand entlang auf das Zollhäuschen zu, das die Grenze markiert, aber nicht mehr besetzt ist. Jeder, der hier unterwegs ist, muss seinen Ausweis mitführen. Deutschland ist an manchen Stellen kaum 800 Meter breit, ein Bauernhof am Weg liegt teils im Kanton Zürich, in Deutschland und die Scheunen wieder in einem anderen schweizer Kanton. Was für einen Ausweis man da bekommt, weiß ich nicht, aber es verdeutlicht, wie absurd Grenzen sind. Hinterm Zollhäuschen führt ein Weg schräg hinab nach Nohl. Durch die Bäume sieht man tief unten den schnell fließenden, türkisgrünen Rhein. Erreicht man Nohl, führt ein weiterer Weg hinunter zum Fluss und von dort am rechten Ufer flussauf zum Rheinfall.

Es ist früh, kaum sechs, Eintritt wird noch nicht erhoben, ein paar Angler sitzen am Ufer, der tägliche Trubel hat noch nicht begonnen. Treppen führen hinauf und nah am Fall vorbei, dann geht man über eine Eisenbahnbrücke zum gegenüberliegenden, auf einem Berg gelegenen Schloss und von dort wieder hinunter zu den Terrassen, die kaum einen Meter vom schäumenden Wasser nahen Einblick gewähren. Es rauscht, Gischt spritzt, ich bin allein mit mir, meinem Fotoapparat und dem Fluss.


Mi 11.09.19 20:11 seit etwa 15:00 regnet es zunehmend

In der Schlange vor der Kasse saß ein Junge im Einkaufswagen der Oma. Vier Jahre alt, älter nicht, blond und blau-grünäugig, und starrte mich ununmwunden an, so dass ich reagieren musste. Ich zog also ein gräusliches, wenngleich lachendes Monstergesicht, damit er die Intention spürt, schließlich wollte ich nicht, dass er zu weinen beginnt. Er verzog keine Miene. Seine rechte Backe war ausgewölbt, und von der Oma erfuhr ich, dass dort noch immer eine Scheibe Wurst zwischengelagert sei, die er an der Wursttheke bekommen habe. Ob er sie nicht mochte? Die Oma ermunterte ihn, ich sagte, vielleicht ist er ein Hamster, der für den Winter zwischenlagert, wir lachten, aber der Junge verzog noch immer keine Miene. Nur dieses unumwundene Anschauen mit großen, blaugrünen Augen, das ließ er nicht. Ich schaute weg. Unterdessen ans Band vorgerrückt, registrierte ich, dass eine Frau Anfang vierzig zehn Pakete Kekse auf das Band legte, runde, mit Gelee und Schokoglasur. Offenbar jemand, der mit Keksen haushalten kann, ich äße jeden Tag ein Paket, weshalb ich nie Kekse im Hause habe. Die Kassiererin vor mir hatte Probleme mit ihrer Kasse. Der Barcode für Rosenkohl funktionierte nicht, dann kam jemand mit Weinbergpfirsichen, und auch denen verweigerte sich das Lesegerät, so dass es dauerte und dauerte. Auf dem Heimweg lange Autoschlangen, es wird täglicher enger auf den Straßen, zum Glück kam ich auf dem Radweg ungehindert voran und war drauf und dran, allen Automobilisten, meist nur einer pro PKW oder SUV, die lange Nase zu zeigen.


Do 12.09.19 11:50 schwül

Unterm grauen Himmel stockt die Luft, man schwitzt, ist lustlos, es bleibt einem nichts als die Hoffnung, dass die, die da gerade auf dem Hof stehen, eine Gruppe von mindestens 30 Menschen, unangemeldet, nichts weiter wollen, als schauen, sonst werde ich führen müssen, wie ich die beiden jungen Menschen aus gutem Hause gerade geführt habe, unangenehm sein Körpergeruch, gerade von einem längeren Aufenthalt im Literarturarchiv Marbach zurück, der mir erklären kann, dass Annettes Schrift Kurrent heiße.

13:30

Fast anderthalb Stunden bin ich mit zwei alten Männern herumgegangen, höchst aufschlussreiche Gespräche habe ich wir geführt, einer ein evangelischer Pastor, der andere ein promovierter Geologe, viel habe ich von ihnen erfahren und sie von mir, jetzt mache ich Mittag.

18:35

Nach Mittag nur noch in sich verschlossene Gäste. Wenn sie mir mit vor der Brust verkreuzten Armen zuhören, kriegen sie weniger, als die, die sich öffnen, das habe ich schon auf der Kutsche so gehalten. Statt einer Stunde dann eben nur knappe 40 Minuten, das muss reichen.

22:56

Ich saß kaum auf dem Roller, um vom Kösters Kämpken in die Dorffeldstraße abzubiegen, als ich stürzte. Ich kann weder rekonstruieren, wie es dazu kam, noch, wie ich vom Roller kam, Fakt ist nur, dass ich mich rechts neben ihm auf der Straße fand, unverletzt, aber verwirrt, denn eigentlich gab es keinen Grund, zu stürzen. Vielleicht hatte ich den Lenker zu sehr eingeschlagen? Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass die Straße Hochrisikogebiet ist. Dieser Sturz ist eine Warnung, die ich sehr ernst nehme. Rollerfahren kann töten, aber alles andere auch. Ich bin leicht wieder auf die Beine gekommen, möglicherweise bin ich nur umgekippt, ein Nachbar kam, um zu fragen, ob alles gut sei, ja, es war alles gut, bis auf diese Unachtsamkeit, die, hätte sie bei höherer Geschwindigkeit stattgefunden, ernstere Folgen hätte haben können. Das war letzte Woche, es regnete. Seitdem bin ich nicht mehr gefahren. Erst heute habe ich mich wieder auf den Roller gesetzt, um zum Rüschhaus zu gelangen. Ich fühlte mich sicherer, als vorher, seltsam.Vielleicht wird man durch Schaden klug. Heute waren mir die kleinen Verwerfungen des Straßenbelages nicht mehr so unheimlich, wie sie es noch vor einer Woche waren. Vielleicht sind der Roller und ich einander wieder ein Stückchen nähergekommen.


Fr 13.09.19 9:55 es regnet, es ist mild

Wir wandern durch die Wutachschlucht, zwölf Kilometer flussaufwärts. Die Wutach ist kaum knietief, aber die Schlucht, die sie sich über die Jahrtausende gegraben hat, ist an manchen Stellen beachtlich tief. Es gibt schmale, an steil aufragenden Felswänden entlang führenden Pfade, neben denen es dreißig Meter steil abfällt, dann wieder leicht begehbare Wege. Wir pausieren an idyllischen Stromschnellen, wir haben zu essen und zu trinken, aber jeder Schritt, den man hier setzt, muss konzentriert gesetzt werden, es gibt Geröll, es gibt Baumwurzeln, nach fünf Stunden, meist schattig und zu meinem Erschrecken durch fast vogelfreie Vegetation sind wir erschöpft. Einen Tag später, wir sind ganz in der Nähe, um Steinpilze zu sammeln, hören wir Martinshörner. Am Abend erfahren wir, dass in der Schlucht eine Frau abgestürzt und zu Tode gekommen ist.


Sa 14.09.19 13:15 sonnig

Lemmy, Bassist bei Mötorhead, ein vierschrötiges, britisches Original mit Piratenhut und dickem Pickel auf der linken Backe, antwortet auf die Frage, wie man erfolgreich wird, man müsse zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Sei man woanders, könne man besser sein als alle anderen, man sei eben woanders, und dann habe man keinen Erfolg. Ich war immer woanders. Das hat Vorteile. Man ist woanders freier. Das genieße ich.

Gestern Abend saßen wir vor Lieschen Müller. Es war frisch, der Mond voll, im Metro gegenüber spielte ein Psychobilly Trio, und immer, wenn die Tür aufging, drückte der Sound wuchtig und laut auf die Straße, wo die Raucher in großen Gruppen standen. Im Lieschen Müller legte S. auf, ein Freund, der eine so große und vielfältige Vinylsammlung besitzt, dass sie wahrscheinlich eines Tages ins Museum kommt. Er könnte ohne mit der Wimper zu zucken Abende mit türkischer Rockmusik aus den späten 50er Jahren, Popmusik aus Uganda, Madagaskar oder anderen, uns popmusikalisch fernen Weltgegenden bestreiten. Er kenne niemanden, der so eine Sammlung habe wie S., sagte B., der ebenfalls tausende Platten besitzt und mit Raritäten handelt. Wir hatten Gin-Tonics und Rauchkraut, Verkehr brandete, Menschen kreuzten die Straßen, man hätte glauben können, dies sei ein Hauptstadtkiez. Wir unterhielten uns aufs angenehmste über die Welt. B., ein Ergotherapeut mit fünfjährigen Zwillingen, M., der in einer Psychiatrie arbeitet, M., meine Lebensgefährtin und ich. Grundverschiedene Lebensalter und Lebensläufe kamen aufs Tapet. Irgendwann hielt ein Taxi und ein sehr gut gekleideter Mann fortgeschrittenen Alters stieg aus, eine Erscheinung mit kahlen, schräg vor- und nach unten gebeugtem Schädel, der ein wenig unsicher auf den Beinen die Straße überquerte. Um zwei gingen wir heim und schliefen den Schlaf der Gerechten.


So 15.09.19 12:27 sonnig

Vor Appelrath Cüpper in der Salzstraße sitzt häufig ein Bettler mit Porkpie Hat, ein sehniger, südosteuropäisch braunhäutiger Mann in Jeans und Jeansjacke mit abgetrennten Ärmeln. Er hat ein skeptisch, symphatisches Gesicht mit Bartschatten und ist hager. Er sitzt auf einer Decke, an deren Rand Schilder stehen. Auf einem hat er Hunger, auf dem anderen bittet er um eine Spende für sich und seinen Hund. Der Hund ist schwarz, kräftig, aber nicht sehr groß, und er scheint eins mit dem Bettler. Hin und wieder wirft der Bettler einen Tennisball fort, den der Hund hochspringend aus der Luft fängt. Er fordert weitere Würfe. Der Bettler erfüllt seinen Wunsch. Nach einer Weile legt er den Ball beiseite. Der Hund akzeptiert sofort, trinkt ein wenig Wasser aus einer Schale am Rande der Decke und legt sich hin. Dort schlummert er, schaut Passanten nach, mustert den Bettler. So sitzen die beiden und warten. Irgendwann taucht eine Frau auf. Gefärbtes Blond, klein, stämmig, eine, die anpacken kann. Sie trägt ein Strickkleid. Sie spricht mit ihm, man gestikuliert. Eine halbe Stunde später sehe ich beide am Aegidimarkt. Sie radeln Richtung Schlossplatz. Er zieht einen Kinderanhänger, in dem der Hund sitzt. Fahren sie nach Hause? Bleibt das Bettelgeschäft bis auf weiteres geschlossen. Wo wohnt er? Welche Sprache spricht er? Hat er tatsächlich Hunger? Ist er Teil der südosteuropäischen Bettlergilde, oder Alleinunternehmer?

Wenig die Salzstraße hinauf spielt zu gleicher Zeit ein rumänisches Trio. Ich kenne den Akkordeon- und den Dabukaspieler aus meiner Kutscherzeit. Den Saxophonisten kenne ich nicht. Er ist kaum Mitte zwanzig, intoniert klar, improvisiert temporeich und harmonisch sicher, das Repertoire reicht vom Schlagern bis zu Jazzstandards. Ich staune. Ich stelle mir vor, dass er das Instrument autodidaktisch gelernt hat. Studierte Musiker spielen anders.


22:40

ich habe alles
alles einmal
doch nichts davon ist mein
ich kenne weder meine vorwahl
noch dreh ich mich im schönen schein
ich gäbe mich gern fort an eine seele
doch wenn sich eine nähert wird mir bang
wenn ich mich aus dem tage schäle
erscheint die nacht mir unerträglich lang.


Di 17.09.19 23:30 schöner Tag

Gestern hat es geregnet. Ich habe gebügelt und Bücher aussortiert. Dabei fand ich ein Tagebuch von S. aus G., meiner Heimatstadt. Er war zwei, drei Jahre jünger und ging aufs Gymnasium. Ich ging zur Realschule, insofern wussten wir wenig voneinander. Er war dünn, und hatte einen Afro, um den ihn viele beneideten. Das Tagebuch beginnt im Oktober 66 und endet am 21. Dezember desselben Jahres. Immer wieder taucht SIE auf, meine spätere Frau. Er nennt sie "schau", und "scharfe Clunte". Wenn sie mit ihrer engsten Freundin (die beiden wurden für Zwillinge gehalten) unterwegs war, geriet er in Schockstarre. Einmal, er trifft die zwei und die dritte, das Trio, CP. PT. und GF, ist er im Himmel und gleichzeitig in der Hölle, denn seine Mutter hatte nach vierzehn Tagen durchgesetzt, dass er zum Friseur ging.

Mutti hat oft schlechte Laune. Dann gibt es Frühstück ohne Ei. Die erste Stunde fällt aus, dann aber: Englischarbeit. Nachmittags Cello. Nichts gekonnt. Oma stirbt. Kirmes ist, und er hat erst 1,50. Papa erhöht auf 3,50. CP PT und GF sind auch da, aber sie registrieren ihn nicht. Auf Nummer Eins steht Good ver bratson. Hermann Hermits findet er sehr dufte. Ob er mitkommt? Blaue Briefe hat er. Manchmal notiert er Sätze auf Latein. Nach einer Englischarbeit schreibt er zwei, drei Tage nur Englisch, um sich zu verbessern. Ich habe S. im Internet gesucht und schnell gefunden. Dann habe ich ihn angerufen, ihm vom Tagebuch erzählt, und es ihm heute früh zugeschickt. Er hat mir erzählt, dass er sein Leben lang Tagebuch geschrieben hat.


Do 19.09.19 10:37 sonnig, frisch

Am Himmel zogen helle und dunkle Wolken, aber die Sonne schien, ein guter Tag, um mich mit meinem Roller noch näher bekannt zu machen. Ich fuhr ohne Ziel. Bis zum späten Nachmittag wurden daraus sind hundertfünfzig Kilometer.

Am Südhang der Baumberge habe ich etwas entdeckt. Es hatte Platz für ein Haus aus Sandstein, eine Remise, und einen Hof. Rundum ist ein Sandsteinbruch, zehn, fünfzehn Meter hoch, dann beginnt der Buchenwald, hohe, kräftige Stämme. Ich folgte einem Weg, und kam an fast gleicher Stelle heraus, an der ich in die Baumberge gefahren war.

Jetzt hatte ich ein Ziel. In Billerbeck trank ich bei Freunden Kaffee, alberte mit deren Sohn, später mit der Tochter, und erfuhr große und kleine Geschichten. Die nahm ich mit auf den Roller, verließ die Stadt und bog in den nächsten Landwirtschaftsweg. Wiesen mit milchfarbigen und braunen Kühen, wogendem Mais, geeggten Feldern und den sanften Verwerfungen der Baumberge. Unter mir brummte der Roller, sonst störte nichts. Es dauerte, eh ich ahnte, wo ich auf Bekanntes träfe. Dort gab ich auf einer schnurgeraden Straße zweimal Gas. Einmal fuhr ich 110. Das fegte, aber der Roller lag gut. Dennoch fühle ich mich bei achtzig besser.

Im Dreieck Ahaus, Heek, Düstermühle überquerte ich die verschattete Dinkel, mein Heimatfluss, dort ein idyllischer Bach. Schon war ich an Ahaus vorbei und in Gras, um zu schauen, ob C. im Studio wäre. Vorbei an den unterirdischen Gas- und Ölspeichern eines deutsch-niederländischen Konzerns fuhr ich durch das Venn nach Epe, aß bei Freunden zwei Bütterken mit Käse, trank Kaffee und machte mich auf den Heimweg. Dort angekommen fühlte ich mich bis auf die Knochen durchgekühlt, selbst beim Zubettgehen war mir noch kalt, so dass ich ein zweites Oberbett auf mich legte. Heute ist alles wieder normal.


16:45

Eh ich's vergesse, vorgestern sprang der Tacho an meinem Fahrrad beim Einfahren in die Garage auf exakt 19.000 Kilometer. Ende März stand er auf 17.000.


Sa 21.09.19 17:49 sonnig

Warum dort Fotografierverbot gilt, weiß keiner so recht, und oft übersehe ich, dass jemand fotografiert, wenn aber ein penetranter Mensch auftaucht wie diese Dame, die nur auf ihr Smartphone starrte, spreche ich das Verbot aus. Es war eh mühsam heute, die Saison geht zu Ende, eine gewisse Ermüdung, die sich mit Widerwillen paart, wird schon jetzt deutlich. In der Regel denke ich mir meinen Teil, wenn Gäste einfach nur abhaken und nicht wirklich zuhören, aber wenn ich mich allein wähne, kommt es vor, dass ich kommentiere. Als ich gestern hinter einer Gruppe Desinteressierter, zu der auch die Dame gehörte, die Türen schloss, zischte ich, verpisst euch. Genannte Dame stand aber noch im Nebenraum, und starrte auf ihr Smartphone wie ein Teenager. Es galt ihr, sie hatte es gehört, als hätte sie nichts gehört, aber mir war es egal, so geht es eben.


Mo 23.09.19 16:23 bewölkt, mild

Nach einem Wochenende in Münster wieder zuhause weiß ich nicht recht, wie ich den Faden, den ich spinne, aufnehmen soll. Ich bin lustlos. Ich bin voller Energie und Trauer. Ich bin glücklich und betrübt. Ich bin, was ich schon ein Leben lang nicht ergründen konnte und wohl auch nicht mehr ergründen kann. Ein Einzelexemplar, das in Wolken Trost finden und am liebsten hier wäre und dort und dann doch wieder woanders.

Gestern fuhren wir mit dem Roller zum Naturschutzgebiet Franzosenbach zwischen Dülmen und Merfeld, um Pilze zu finden. Über die Baumberge ging es nach Nottuln, von dort Richtung Kartause. Der Franzosenbach ist ein Waldgebiet voller Buchen, Espen, Eichen und Kiefern. An manchen Stellen ist es sehr feucht, an wieder anderen trocken. Wälle und mehrere Bäche durchziehen das Gebiet. Wir stellten den Roller ab, und gingen los. Vorletztes Jahr war ich mit einem Freund dort. Wir hatten Maronen und einen Steinpilz gefunden, der Traum eines Pilzfinders. Gestern fanden wir lange nichts, was nicht ungewöhnlich ist, wenn man in die Pilze geht, weil man sorgfältig schauen muss. Mein Blick war nicht der Beste, sodass ich mich schließlich ins Moos legte, während M. weiter suchte. Dann der erste schrille Schrei. Sie hatte einen Steinpilz gefunden. Ihr erster Steinpilz überhaupt. Dem ersten folgten noch ein paar schrille Laute. Als wir heimfuhren, hatten wir Steinpilze, Maronen, einen Hexenröhrling und einen lila Schleierling gefunden. Letzteren aßen wir nicht, wenngleich essbar.


Do 26.09.19 13:30 regnerisch, mild

Vor den Kühlschränken für Fleisch steht ein Ehepaar Mitte sechzig. Sie hat den Einkaufswagen. Er, die Hände hinterm Rücken gefaltet, schlurft gerade davon. Sie ruft hinterher, ob sie nun Gehacktes kaufen solle, ja oder nein. Er murmelt. Er ist eigentlich gar nicht hier. Er ist mitgekommen, weil sie drängelte, hatte aber nicht begriffen, dass sie ihm etwas kochen wollte, was er besonders mag, er hört ja nicht zu. Er säße lieber zuhause und schaute fern. Sie fragt nochmal, und er sagt schließlich etwas, das sowohl ja als auch nein bedeuten kann. Worauf sie zu sich oder zu ihrem Einkaufswagen sagt, des Menschen Wille ist sein Himmelreich und den Kopf schüttelt. Er ist längst auf der anderen Seite des Supermarktes und begutachtet Käse, obwohl er noch nie welchen gekauft hat.


Fr 27.09.19 16:05 sonnig

Heute gegen zehn klingelt mein Telefon. Herr H. meldet sich. Er sei vom Verkehrsverein und wolle mal hören, was ein Dorfschreiber eigentlich tut. Er geht herum, er schaut, er schreibt auf. Freitags säße er auf dem Markt, und böte Interessierten ein vor Ort verfasstes Gedicht gegen eine Geschichte. Oder er gehe in eine Bäckerei, sage Guten Tag, ich heiße Hermann Mensing, ich bin Dorfschreiber, und wollte mal Guten Tag sagen. Guten Tag, sagt die Verkäuferin. Habe Sie eine Geschichte für mich, würde ich fragen. Ach, sagt Herr H. Ja, sage ich, so ungefähr. Der Rest wird sich finden. Interessant, sagt Herr H. und erzählt, dass er aus Bochum sei. In Wattenscheide habe ich zwei Jahre eine Literaturwerstatt geleitet, sage ich. Und meine größte Enttäuschung erlebt. Wie? Ich dachte, wenn ich in Bochum bin, könnte ich mal in einen Schacht einfahren. Da gibt es doch so einen Museumsschacht. Ja, ja, sagt Herr H., da habe ich Führungen gemacht. Ich war Betriebselektriker unter Tage. Dann wissen Sie, was für eine Enttäuschung das ist. Ich dachte, nun ginge es hinab, aber mehr als 20 Meter waren es nicht. 17 sagt er. Ich frage ihn, ob er den Hainbusch kenne? Ja. Da sind Panzerstraßen, sage ich. Wofür waren die gut? Dort haben vor dreißig Jahren Senkrechtstarter geübt. Ach, sage ich. Ja, ja, sagt er. Und wie tief sind Sie eingefahren? 1000 Meter sagt er. Mich gruselt. Wenn man da mit 14, 15 Meter im Aufzug in die Tiefe saust, hat man keine Flugangst mehr, sagt er. Als wir aufs Alter kommen, ich hatte ihm von den Konditionen meines Dorfschreiberjobs erzählt, sagt er, er sei 81 und habe drei Grundsätze: Nicht rauchen, nicht trinken, nicht mit Männern schlafen. Ich rauche und trinke, sage ich.


Mo 30.09.19 17:37 bewölkt, Regen und Sonne, mild

Das Autofahren habe ich nicht verlernt. Das Navigieren auch nicht, ich weiß, wie ich am Besten von A nach B komme, ich schaue mir den Weg vorher auf der Karte an, und wenn das Navi anderes vorschlägt, ignoriere ich es. Heute habe ich es bis auf den letzten Kilometer komplett ignoriert. Dann war ich vor Ort, die erste Lesung war mühsam, auch an dieser Schule herrscht Inklusion, aber die entsprechend ausgebildeten Kräfte gibt es nicht, falls es sie doch gibt werden den Schulen offenbar nicht genügend Mittel zur Verfügung gestellt. Das ist beschämend.

Und während ich also da vorne stehe, müde, weil ich wegen meines Lampenfiebers schlecht geschlafen hatte, frage ich mich, wie oft ich das noch mache. Dann hocke ich mich auf das Pult, lege die Beine übereinander und stelle fest, dass unter meinem rechten Schuh im Winkel von Absatz und Sohle ein fetter Hundeschiss klebt. In der Pause entsorge ich ihn. Die zweite Lesung wird besser, die dritte hat schließlich den Standard, den ich verlange, dennoch war es alles in allem mühsam. Auf dem Heimweg zwischen Haltern und Dülmen pladdernder Regen. Jetzt bin ich zuhause und will gar nichts mehr, außer vielleicht essen, irgendetwas Gehaltvolles essen, ich weiß nur noch nicht, was.