September 2022                     www.hermann-mensing.de      

mensing literatur 

Bücher von Hermann Mensing bei: Amazon.de  

zum letzten eintrag

Do 1.09.22 11:20 frische und sonnig

Tobbe hat Tatoos auf dem ganzen Körper.
Allein sein rechter Arm hat 4000 Euro gekostet.
Dann bist du, wertmäßig, ein Mittelklassewagen, oder?
Ja, sagt er.


Sa 3.09.22 12:48 sonnig, windig

ich rette mich
seit 73 jahren
in großer finsternis
erkenn ich jeden
noch so faden schein
erlaube göttern
mich zu reiten
und lad sie ein

beim frühstück ahnen
dass nichts dauert
im kaffeesatz steht
dass nicht bleibt
jede gelegenheit
wird kühl belauert
ich nehm sie wahr
eh sie verweht

wir stärken uns mit brot
und rotem wein
vergeben uns
alles muss sein
doch hinter
halb geschloss'nen lidern lauert
etwas so namenlos
wie ich und du

es führt zum styx
den wir
mit charon überqueren
bis es so weit ist
leben wir
von luft von liebe kunst
vom tageslauf
& geben niemals auf.


16:50

Version 6

ich rette mich
seit 73 jahren
in tiefer finsternis
erkenne ich noch jeden
faden schein
ich glaube göttern
die mich reiten
und lade sie
zum frühstück ein

da ahnen wir dann
dass nichts dauert
der kaffeesatz sagt
dass nicht bleibt
jede gelegenheit
wird kühl belauert
bin nicht verzagt
sondern bereit

wir stärken uns mit brot
und rotem wein
vergeben uns
alles muss sein
doch hinter
halb geschloss'nen lidern lauert
das namenlose
ich und du

es führt zum styx
den wir mit charon überqueren
bis es so weit ist
leben wir in sphären
von luft von liebe kunst
vom tageslauf
& geben niemals auf.


Mo 5.09.22 15:05 sonnig und warm

Ich könnte ins Schwärmen geraten über das Wetter, aber dazu müsste ich 20 sein. Hielte am Autohof Mailand nach LKW-Fahrern Ausschau, die mich weiter nach Süden brächten. Ich will mich in Ankona einschiffen, um über Patras, Korinth, Athen, Rhodos und Zypern nach Haifa zu reisen. Da ist es warm. Da gibt es die schönsten Frauen. Und in Eilat den coolsten Hangout für Jungs und Mädchen wie mich. Der Welt drohte der Kollaps des kalten Krieges. Der Sechs-Tage-Krieg war gerade vorbei. Es war ungemütlich.

Heute ist es immer noch ungemütlich. Das mag der Grund sein, warum ich das öffentliche Geschrei über jede Äußerung eines Politiker nicht mehr ausstehen kann. Alles wissen immer alles besser. Ich auch. Ich weiß, dass die Welt immer ungemütlich war. Ich weiß, dass die Menschen um jeden noch so kleinen Fortschritt kämpfen mussten. Kämpfen gegen die Mächtigen, die in diesem Jahrtausend noch mächtiger sind, als sie je waren. Das ist ungemütlich. Womöglich wird es im Winter noch ungemütlicher. Und alle schreien, aber kaum jemand nimmt zur Kenntnis, wie komplex und schwierig Politik ist. Demokratie eben. Weil das unseren Mimimis zu anstrengend scheint, läuft ihnen der Sabber aus den Mundwinkeln, wenn sie selbsternannten Weltrettern zuhören. Die Welt (nicht nur das Klima) ist also nicht nur ungemütlich, sondern höchst gefährdet. Es liegt an jedem, dieser Gefahr die Stirn zu bieten. Demokratie ist das höchste Gut. Demokratie kann sehr lebendig sein und steckt voller Fallstricke. Ständig werden Fehler gemacht. Jeder könnte wissen, dass Fehler unumgänglich sind, wenn man fortschreiten will.

Ich schreite heute nirgendwo mehr hin. Mir ist zu warm. Ich sehne mich nach Regen. Die Abende jedoch sind genau die, die ich in Israel schätzte. Bis Mitternacht in den Himmel schauen, trinken, rauchen, in den Parks von Tel Aviv flirten. Herrlich. Herrlicher Klimawandel und dummes Geschrei. Haltet doch einfach die Klappe. Engagiert euch. Geschrei ist das Gegenteil. Also, im Schatten fließen. Hoffen, dass der Herbst beginnt. Und daran denken, dass 80% (mindestens) aller Weltbürger sich die Finger lecken, wenn sie an die Zustände unserer Welt denken. Klo. Fließend Wasser. Genügend zu Essen. Gesundheitsversorgung. Die Liste ist lang. Ich versteh' die Welt nicht. Aber ich bin auch nicht auf der Welt, um sie zu verstehen. Mir reicht es, sie zu beobachten. Selbst in der Dürre ist sie umwerfend schön.


Di 6.09.22 12:54 sonnig, warm

Vorletzte Woche kurz vor der Autobahnbrück das erste Signal. Der Roller zickt. Der Motor läuft zwar, aber wenn ich Gas gebe, sackt er weg. Ich stellte den Motor aus, startete, alles war wieder gut. Bis vor drei Tagen. Diesmal hinter der anderen Autobahnbrücke. Ich brachte ihn nur mit Mühe und vielen Neustarts nach Haus und stelle ihn in die Garage. Gerade habe ihn in die Werkstatt gebracht. Sie ist nicht weit von hier, aber den Roller dorthin zu schieben, hätte Schweiß gekostet. Also startete ich den Motor. Und was soll ich sagen: mit minimalem Gas konnte ich im Fahrradtempo die Dorffeldstraße hinauf fahren. Übermütig geworden gab ich mehr Gas. Der Motor sackte weg. Puckerte zwar noch vor sich hin, hatte aber keinen Vortrieb mehr. Ich stellte ihn aus. Ich wartete. Ich startete. Er fuhr. Zwar nicht, wie er sonst fährt, eher gesteigertes Schritttempo, aber er brachte mich bis zur Werkstatt. W., der Vespa Roller sammelt und repariert, meinte, der Motor zöge wahrscheinlich irgendwo Luft. Mal sehn, wie das ausgeht. Jetzt ist Mittag. Ich lege mich hin.

18:24

die küche duftet
licht zerfällt
ich ruhe
nebenan in meiner welt
die zwiebeln brutzeln
eine pfanne zischt
die tomatillos abendsehnsucht
bald wird aufgetischt
ich träume
staubiger gesang
die sonne dörrt
die bäume
haben so etwas
noch nicht erlebt
wohin jetzt welches lied
man schwebt
noch singen
wo jetzt noch
welche wunde lecken
schwerter schwingen
noch immer dreißig grad
ob heut noch
wolke kommt ob wolke bricht
ob wasser fällt
herr brecht: die welt
will saufen ficken fressen
ich auch und alles übrige
vergessen


Mi 7.09.22 14:34 frischer, dann und wann bisschen Regen

Das Fahren mit meinem E-Bike ist angenehm. Ich reize den Antrieb kaum aus. Ich fahre Rad wie vorher, der Unterschied liegt allein in der Reisegeschwindigkeit. Lag diese vorher bei 15 KmH, liegt sie jetzt bei zwanzig, zweiundzwanzig. Wollte ich die mit meinem alten Rad über eine längere Strecke halten, würde es mühsam. Mit der Gazelle ist es entspannt. Am liebsten würde ich ihr einen Namen geben, aber sie hat schon einen. Sie heißt Citizen. Mein altes hieß Pegasus. Citizen sieht unverschämt gut aus, auch deshalb habe ich sie gekauft. First Impression. Das war bei Pegasus genauso. Citizen ist eine Gazelle, also solide gebaut, zumindest gehe ich davon aus, denn meine alten Gazellen, ein klassisches Herrenrad und das ikonische schwarze Damenrad waren das auch. Ich bin immer gern Rad gefahren, die längste Tour mit dem Pegasus ging über 140 Kilometer, aber ich spüre natürlich, dass ich 73 bin, deshalb der Umstieg. Die Neue bremst wie Butter und hat eine wohl durchdachte, geschmeidige Acht-Gangnabenschaltung, die mir entgegen kommt. Das Komische ist, dass sich meine neue Reisegeschwindigkeit viel langsamer anfühlt, als würde ich sie auf dem alten Rad fahren, mit dem ich
in den letzten 5 Jahren 28.0000 Kilometer zürückgelegt habe. Australien wäre drin gewesen. In dieser Zeit habe ich vier Sättel ausprobiert und bin viermal auf die gleichen Werbelügen hereingefallen. Der Sattel am neuen Bike ist härter, flacher, hat eine Vertiefung in der Mitte und läuft lang und schmal in die Spitze. Das Sattelrohr federt zusätzlich, als würde der Sattel leicht schwingen. Vor ein paar Tagen bin ich meine erste Tour gefahren, knapp 80 Kilometer, Ebenen, Steigungen, Gefälle, Landwirtschafts- und Sandwege. Mein Hintern blieb schmerzfrei, die Schultern auch, nur der rechte Daumen schmerzte ein wenig. Meine rechte Hand findet ergonomisch geformte Fahrradgriffe nicht gut. Meine uralten Gazellen hatte lange, röhrenartige Griffe, die fand sie gut. Wenn meine Liebste und ich jetzt gemeinsam fahren, sind wir gleichauf und können reden. Das ist auch schön. Ich überlege, wie es mit meinem aprilia Roller weitergeht. Ob ich ihn missen könnte. Ob ich es überhaupt wollte. Ich glaube, ich will nicht. So. Jetzt ist Zeit für ein kleines Klavierkonzert, danach ein Schläfchen.


19:04

Sonntag werde auf dem Kulturgut Nottbeck Spontangedichte schreiben.
Ich werde da sitzen, Leute flanieren, manche sind neugierig, einige wollen ein Gedicht, und ich schreibe es ihnen.
Sie müssen mir nur zwei Worte sagen, die darin vorkommen sollen. Oder eines. Oder ein Thema.
Gut, sagte D.
Tango. Innige Umarmung.

mein tango geht ins fünfte jahr
mit inniger umarmung
so manches schöne wurde wahr
und and'res blieb erwartung.

Wow! sagte sie.
Ja, sagte ich.
Kommt am Sonntag 11.09. zum Kulturgut Nottbeck in Oelde, dann kriegt ihr auch eines.


Fr 9.09.22 11:24 wechselnd bewölkt, Regen möglich

Auftrag heute,
hier, im neuen Büro,
das mein altes ist,
aber refurbished,
einen Text zu schreiben,
mit zumindest einem Lacher,
einem todtraurigen Seufzer
und eventuell einer Spinne,
die sich von der Decke abseilt,
um ihr Morgengeschäft (klein und groß)
auf meinem Kopf zu verrichten.
Kaum abgeseilt
tritt eine Frau ein,
die, wie viele Frauen,
unter einer Spinnenphobie leidet,
während das literarische Ich
unter Gynophobie leidet,
seit Menschengedenken
ein unter Männern verbreitetes Leiden,
das im Verlauf der Geschichte zu
unüberschaubaren Fortschritten
für die Menschheit geführt hat,
der Atomkraft etwa,
dem Marschflugkörper
dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nationen
dem Social Network
und vielen anderen prächtigen Dingen,
die nur Männer erfinden können,
die sich von Frauen fernhalten.
Aber wie Freud schon erkannte,
ist auch das literarische Ich gespalten,
so dass es, wenn es
(wie die Frau beim Anblick einer Spinne)
ein Weib (sie/ihr) sieht, zusammenzuckt,
dann aber in Millisekunden von oben bis unten rastert,
(von der Evolution so eingerichtet, um die Art zu erhalten),
und zu Erkenntnissen gelangt:
fuckable or not,
das ist hier die Frage,
seit Erfindung der Emanzipation
peinlich vermieden,
dennoch in jedem maskulinen Kopf
als zentrale Steuereinheit installiert.
So einen Text will der Autor verfassen,
der vor einem bequemen Schreibpult sitzt,
vor ihm ein keyboard, daneben ein Klavier,
hinter ihm ein Bass und was er sonst braucht,
um Übersprungshandlungen auf kürzestem Weg
erledigen zu können.
Es ist Freitag,
Lilibet ist gestorben,
Harry hat es nicht mehr geschafft,
es ist immer noch Freitag,
der Russe kriegt eins auf die Fresse,
der Amerikaner,
der nichts kann als heiße Luft quirlen,
profitiert wie immer,
weil er sich gut verkauft,
es ist Freitag,
und im Grunde ist alles gesagt.


12:40

störrisch
und uneinsichtig
unter- und übergewichtig
lebhaft und stoisch
feig und heroisch
hässlich und schön
frierend im föhn
klug und stockdumm
ein erwachsener Trumm
lädiert und verschlissen
vernäht und gerissen
raus und kein rein
wer könnte das sein

13:17

Übungen
für meine Aktion am Sonntag auf dem Kulturgut Nottbeck
Gedichte auf Zuruf

Martina Espeter:

allein lassen
sturmboe

allein
sie lassen
die sturmboe ziehn
sie seufzen & prassen
ihr tag geht dahin

13:30

Der Deal: jemand nennt mir zwei (oder mehr) Wörter, und ich mach ein Gedicht draus.


random auf fb gefunden:
extreme geringe zahl / genieße

zahl geringe(n) betrag
habe extreme erwartung
genieß den belag
deiner bronchen bei atmung.


wirklich eng
kostenlos


eng & kostenlos
war's wirklich nicht
doch der knopf an meiner hose
hielt mich dicht.


14:20

Karin Uplawski
Wehmut, Unruhe, Pflaumenkuchen

Wehmut fasst den armen Mann
Unruhe und stummes Suchen
überall, selbst nebenan
fand er keinen Plaumenkuchen.


15:40

Heiko Günzel
Augenbrennen Tango Espresso

augen brennen
o ich hänge durch
immer dieses rennen
zum espresso-lurch.


15:42

David Nadjakowsky

du ich wein

du hast keinen wein mehr in der flasche,
ich hab haschisch in der tasche,
komm, wir hocken uns wo hin,
und vernebeln sinn.


18:20

Annette Paulssen

Stand, Hund, Glück

am strand, gleich hinterm hafer,
lag eine hübsche, kleine frau mit hund,
jemand aus tokio, ein vater,
erfand ein glück, das macht nicht wund.


18:22

Günter Landsberger

Idylle Luftbüchse, Chorgestühl

Im Chorgestühl von St.Marien Hinterkappeln,
entwich Novizin L. beim Zappeln
viel Luft aus ihrer Büchse,
Idylle steigt dem Pfarrer in die Mütze.


18:25

Jutta Allgeier

Fisch, Fahrrad, Orchidee,

ein fisch steckt sich die orchidee,
ans fahrrad und sticht dann in see.


Sa 10.09.22 15:14 regnerisch

Seit gestern senden Menschen mir Gedichtwünsche. Ich verarbeite sie und habe viel Spaß. Morgen mache ich das vor Publikum.

Cor Ella

Bass, Honig, Dohle

o du schöne honigdohle
warte bitte nicht auf mic
h,
bis ich meinen bass raushole,
denn ich lieb dich nicht.

Matthias Rethmann

Matthias Rethmann

als matthias, dieser rethmann,
sich von seinem schock erholte,
sagt er, canon, heute geht man
ohne schuhe, nur auf sohle.

Helmut Buntjer

Goldlast, Mehl

die goldlast meines esels
wog mehr als 50 kilo mehl,
er strauchelte, dann lief er fehl,
er stürzte in das loch der taliban,
wo man ihm flugs das gold abnahm.

Goldast Mehl

am goldast hing eine posaune,
sie war verstaubt mit altem mehl,
sie hatte daher schlechte laune,
denn jeder ton ging fehl.

Tilmann Thiemig

Rittersporn, Leitfähigkeitsprüfung, Schwanengesang

tilmanns rittersporn hat sich im burgfrollein verhakt,
die leitfähigkeitsprüfung wurde hinterfragt,
und so klang noch tagelang
durch ganz b.schweig schwanensang.

Muna Tacker

Camping, Plusquamperfekt, Gliedermaßstab

wem schnitten wir die glieder
im massstab 1 zu 5 wohl nieder,
wem, wenn nicht dem plusquamperfekt,
das gern beim camping glieder streckt.

Joachim Scholz

Atombombe, Durchfall

Atombomben mit Ultraleichtflugzeug zu transportieren,
ist noch kaum möglich, oder blanker Hohn,
wir raten dem Piloten, nicht zu flatulieren,
mit Durchfall führte das zur Explosion.


Mo 12.09.22 10:30

So sah das aus, gestern in Nottbeck.





Mi 14.09.22 17:45 regnerisch

Der Roller ist repariert. Obwohl nur der Vergaser gereinigt werden musste, hat das etwas mehr als 200 Euro gekostet. Leid Geld, sagte meine Mutter in ähnlichen Fällen. Mich ärgert, dass ich so gar kein Verständnis für Otto-Motoren entwickelt habe über die langen Jahre, die sie mich durch die Welt bewegt haben. Kerzen konnte ich wechseln, früher auch mal eine neue Lampe einsetzen, aber so etwas geht heute längst nicht mehr, da werden Module getauscht, damit Geld reinkommt. Jetzt ist das Geld weg, und die Hoffnung, dass ich mit der Bearbeitung von Übersetzungen der koreanischen Dichters Kim Juntae neues verdienen könnte, hat sich zerschlagen. Die koreanische, an der Ruhruniversität Bochum arbeitende Übesetzerin fand meine "Nachdichtungen" zu frei. Schade, mir hatte die Arbeit an den ersten drei Gedichten, die ich nach ihren wortwörtlichen Übersetzungen geschrieben habe, Spaß gemacht.


Kim Juntae

Ein Körnchen Bohne
(wörtliche Übersetzung)

Wer hat es verloren?

Ist es herausgefallen
durch ein Loch aus einem Bündel mit Siebensachen
der alten Dorffrau mit tausend Falten,
die unterwegs zu ihrer jüngsten Tochter war?

Ein Körnchen sattgrüne Bohne,
das vor dem Bahnhof
auf dem Asphalt
getreten wird und herumkullert

Ich hob dieses immense Leben auf
und trug hinaus aus der Stadt

über den Fluss auf das Feld
dort buddelte ich es tief ein
Da blickte mich aus allen Himmelsrichtungen
die Abenddämmerung.

Versuch einer Nachdichtung

Kim Jun Tae

Eine Bohne

Die Frau vom Dorf,
das Leben hat ihr tausend Falten
ins Gesicht geschrieben,
will in die Stadt
zu ihrer Tochter?

Ihr Bündel ist geschnürt,
es hat ein Loch
und etwas kullert raus.

Auf dem Asphalt
vorm Bahnhof
liegt eine Bohne,
das grüne, satte Leben
zwischen tausend Füßen.

Ich hob sie auf
und trug sie aus der Stadt,
über den Fluss hinaus aufs Feld,
ich buddelte sie ein,
und hoffte, sie würd' leben,
da blickte mir
die Abenddämmerung entgegen.


Do 15.09.22 10:55 bewölkt

im haus daniel wohnt eine frau,
die wie ein mann aussieht,
wie ein mann geht
sich schminkt,
keine schlechte grundierung,
nur die augen kriegt sie nicht hin,
hellblaues geschmier,
sie ist größer als ich,
läuft aufrecht, sehr langsam,
streckt mir die hand entgegen,
hab dich lang nicht gesehn',
sagt sie
aber ich habe mühe,
sie zu verstehen,
sie verschleift jedes wort,
die medikamente, denk ich,
wogegen wofür weiß ich nicht
im haus daniel wohnen
die mühseligen und beladenen
die tagsüber in werkstätten arbeiten
so wie vladimir,
der mich schon von weitem
militärisch grüßt,
und sich kindlich freut,
wenn ich zurück grüße,
mein freund, ruft er, ah mein bester freund,
hemman,
sie sind mir lieb,
lieber als viele der anderen nachbarn,
die sich für normal halten,
ihre gärten pflegen
und im kirchenkreis engagieren,
ich mag die verrückten,
die seitlich angeknickten.<

13:15

der hollunder hat es zu nichts gebracht
die wäschestange rostet
der himmel zögert
texte können aufstehen und weggehen
ich kann nur hier sein
und muss es aushalten
ich halte mich
schaue mir fotos an
auf denen vergangenheit ist
glorreiche lügen
ich kleckere
ich klotze
ich habe dreck am stecken
ich kotze
ich gurgle mit auswurf
ich würge die welt
sie hängt mir zum hals raus
mit ihren lügen
lästige mücken
schwerreiche potentaten
mehr panzer mehr tote
schlagt tot schlagt tot
ja ja und die liebe
nicht mal die funktioniert
alle sind krank
und der doktor weiß auch nichts
komm wir gehen uns erschießen


15.35

Google Translator

Afrikaans

die oudste het dit tot niet gemaak
die klerereling roes
die lug huiwer
lirieke kan opstaan ??en wegstap
ek kan net hier wees
en moet dit verduur
Ek hou myself vas
kyk na foto's
waarop die verlede is
heerlike leuens
ek mors
ek is besig om te vul
ek sit vas
Ek kots
Ek gorrel van slym
ek verstik die wêreld
sy is siek en sat vir my
met hul leuens
irriterende muskiete
swaar potentate
meer tenks meer dood
doodmaak doodmaak doodmaak
ja ja en liefde
nie eers dit werk nie
almal is siek
en die dokter weet ook niks nie
kom ons gaan skiet mekaar


Afrikaans - Englisch

the elder destroyed it
the clothes rail is rusting
the sky hesitates
lyrics can get up and walk away
i can only be here
and have to endure it
I hold myself
look at photos
on which the past is
delicious lies
i mess up
i am filling
i'm stuck
I puke
I'm gurgling with mucus
i suffocate the world
she is sick and tired of me
with their lies
annoying mosquitoes
heavy potentates
more tanks more death
kill kill kill
yes yes and love
not even that works
everyone is sick
and the doctor doesn't know anything either
let's go shoot each other

Englisch - Deutsch

der Älteste zerstörte es
Die Kleiderstange rostet
der Himmel zögert
Texte können aufstehen und weggehen
Ich kann nur hier sein
und das aushalten müssen
Ich halte mich
Fotos anschauen
auf dem die Vergangenheit liegt
köstliche Lügen
Ich vermassele es
ich fülle
ich stecke fest
Ich kotze
Ich gurgele vor Schleim
Ich ersticke die Welt
sie hat mich satt
mit ihren Lügen
lästige Mücken
schwere Potentaten
mehr Panzer mehr Tod
töten töten töten
ja ja und liebe
nicht einmal das geht
alle sind krank
und der Arzt weiß auch nichts
lass uns aufeinander schießen

21:00

2 Version

der hollunder
trägt kaum früchte
die wäschestange rostet
der himmel zögert
ich schaue mir alte fotos an
glorreiche lügen
ich kleckere klotze
ich kotze
lügner
blutsauger
potentaten
mehr panzer
mehr tote
die liebe lügt
alle sind krank
der doktor tappt im dunkeln
komm wir erschießen uns


Fr 16.09.22 00:25

oh loretta
schöne warme runde
kannst so vieles
vieles better
doch du glaubst dich
niemals ernst genommen

stimmt
sagt petter
petter nimmt dich
oft nicht ernst
petter weiß
tatsächlich auch was better
denn im gegensatz zu dir
hat er aufgepasst im hier
glaubt nur
was er selbst getan hat
selbst gefühlt
nicht selbst gelesen
filettiert in exegesen

oh loretta
petter lässt dir sagen
dass du klüger bist als er
du bist netter
aber petter
dichtet
nicht loretta Dear


14:23

Das Schwierigste beim Schreiben ist das Warten auf den Beginn. Beim Klavierspiel ist es genauso. Seit Wochen teste ich Akkordverbindungen, Halbtöne rauf und runter, mit mäßigem Erfolg. Gestern nacht habe ich mir, nachdem auf der Burg ein Jazz-Quartett Paper Back Writer spielte, die Akkorde dazu im Netz gesucht. Es war nur ein einziger: G7. Jemand hat mir mal erklärt, dass die Sieben für eine Septime steht, ich hatte schon Septimen gecheckt, um zu hören, was sie harmonisch bewirken, aber so richtig abgelagert hatte sich das noch nicht. Gegen halb zwei heute früh spielte ich G7, und kaum eine Viertelstunde später begann ich darüber zu improvisieren. Seit zwei Stunden variiere ich nicht nur die G-Akkorde, sondern alle anderen auch. Für mich ein großer Schritt. Die Wand muss lang genug schwarz sein und man darf nicht verzweifeln. Dahinter nämlich arbeitet es Tag und Nacht. Und wenn es soweit, hat man Zugriff. Das ist ein wundervolles Erlebnis.


Sa 17.09.22 11:54 wechseln bewölkt, windig, frisch

ich tue meiner fliege
nichts zuleide
wenn ich sie abends sanft entkleide
ihr beinchen ausreiß
ihre flügel stutze
ihr das gesäß
mit perlweiß putze
sodann die fliegenbrüstchen
hübsch verpacke
und sie in wachs einbacke
sie dann zu meiner sammlung füge
weit über hundert
selten siege
meist niederlagen
niederträchtig
als fliegensammler
weltweit sehr geschäftig
während die rippe klagt
unwirsches an die türe klopft
das tollhaus den verstand verstopft
schwirren die nächsten schon um's licht
der nächste überfall
das wievielte massaker
verstehe das wer will
ich nicht


17:35

ich tu der dame
nichts zuleide
wenn ich sie abends sanft entkleide
die beinchen streichle
ihre flügel stutze
ihr das gesäß
mit perlweiß putze
sodann die brüstchen
hübsch verpacke
ein kuss noch auf die rechte backe
sie dann zu meiner sammlung füge
weit über hundert
selten siege
meist niederlagen
niederträchtig
als sammler
war ich sehr geschäftig
während die rippe klagt
unwirsches an die türe klopft
das tollhaus den verstand verstopft
schwirren die nächsten katastrophen schon um's licht
verstehe das wer will
ich nicht


So 18.09.22 17:52 bewölkt, frisch, regnerisch

Der schönste Krieg
ist der, der immer wiederkehrt,
Mars ist ein Handlungsreisender,
wird ihm der Ausbruch hier verwehrt,
bricht er das Leben anderer.

Und immer schuldlos sind die
drunter Leidenden,
ihr Sterben ist kollateral,
die sich im Hintergrund dran weidenden
verdienen kolossal.

Kein Wunder also,
dass die Herrschenden
ihn immer wieder neu entfachen,
und sich in ihre Megatonnenfäustchen lachen,
kein Wunder,
dass sie Blut aus Eimern trinken,
und abends mit Champagner
den Getöteten zuwinken.

Wann drehen wir
den Herrschenden die Hähne zu,
wann endlich sperren wir sie weg,
wann gibt die Bestie in uns Ruh
oder ist Krieg dem Leben
inhärenter Lebenszweck?

Frage an Hannes Demming: dem Leben... oder des Lebens...

Du kannst es als Dativobjekt zum Partizip INHÄRENT betrachten; dann nimmst du "dem Leben".
Du kannst es als Genitivattribut zum Prädikatsnomen LEBENSZWECK betrachten; dann nimmst du "des Lebens".
Beide Versionen sind richtig. Gruß!


Mo 19.09.22 15:21 regnerisch, windig


Wo zum Teufel stecken Beckett, Godot und Herr M.?


15:43

Die Regen ist weiter gezogen, hat aber gereicht, mich zu durchnässen, als ich von der Stadt heimfuhr. Es ist kalt geworden. Heute nachmittag habe ich den Herd geputzt. Zwischen sieben und acht sitzen wir in der Küche. Wir reden. Sie kocht. Wir diskutieren. Wir essen. Ich spüle. Abends strickt sie und schaut irgendwas. Ich schreibe. Wir trinken Wein. Ich gehe früh ins Bett. Ich nehm ein Buch mit. Henschels Abenteuerroman hab ich durch. Den Kindheitsroman lass ich für später, jetzt bin ich wieder bei Clemens Setz, die Stunde zwischen Frau und Gitarre. Ich möchte mich bei ihr einrollen. Aber ihr Sofa ist zu klein. Meines ist viel größer. Sie sagt, da wisse sie nie wohin mit den Beinen. Wir heizen noch nicht, wickeln uns stattdessen in Decken. Übermorgen lese ich auf der Burg. Und jetzt ist schon wieder jemand gestorben.


Di 20.09.22 16:50 wechselnd bewölkt, windig

Den Tag damit verbracht, die Lesung für morgen vorzubereiten. Ich habe jetzt einen gut gespannten Bogen, Texte und Loops, die miteinander korrespondieren, bleibt nur noch die Hoffnung, dass die Technik mitspielt, aber das muss sie, schließlich zahl ich horrende 300 Euro dafür.


Mi 21.09.22 12:55 sonnig mit Wolken

In den Hohen Heckenweg hat sich hinter einem Zebrastreifen eine fünf, sechs Meter lange, armbreite Spurrille gesenkt, die einem, wenn man im Dunkeln mit dem Motorroller fährt und sie nicht sieht, einen gehörigen Schrecken einjagt. Als führe man über einen Wellenkamm ins Tal und wieder hinaus, ein beunruhigendes Schwingen. Ich war auf dem Weg zur Meerwiese. Quadro Nuevo sollte dort spielen, eine Band aus Bayern. Ich wollte Tango tanzen. Als ich den Saal betrat, spielte die Band noch ihr Konzert, danach räumten alle Gäste die Stühle beiseite und das Tanzen begann. Ich war mit der Erwartung gekommen, Tänzerinnen zu treffen, die man in Münster nicht jeden Tag sieht, Gäste aus anderen Städten, aber nach einem kurzer Check war ich ziemlich ernüchtert. Ich umkreiste die Tanzfläche und begegnete einer Frau in einem grau-lila chiffonartigen Kleid, Mitte vierzig. Sie sah mich an, ich schaute zurück und nickte. Das ist das von den Tangueros verabredete Ritual, wenn man miteinander tanzen will. Nach ein paar Schritten sagte sie, "bist du Tangotänzer"? Was für eine dämliche Frage, dachte ich, sagte aber: "das wirst du dann gleich schon merken." Sie kam nicht auf den Beat, war schwer zu bewegen und reagierte kaum auf meine Impulse. Als sie dann noch sagte: "was sind das denn für Schritte?" hatte ich die Nase voll und brach ab. Ich hatte die Nase so voll von diesen oft arroganten, sich besonders fühlenden Tänzer:innen, dass ich meine Sachen packte und nach Hause fuhr. Wieder die Spurrille. Wieder dieses Schwingen. Ich hasste alle und schwor, das Tanzen aufzugeben.

15:05

ich werfe die angel
sie beißen an
ich zieh sie raus
ich lasse sie zappeln
ich werf sie zurück
oder erschlage sie
mit dem holz
ich schmeiß sie
in meinen eimer
ich brate die
schwätzer
die neunmalklugen
tätowierten
die künstler:innen
ich (er/ihm)
mag kein' fisch


Do 22.09.22 11:00 sonnig

Godot trug seinen Lieblingsanzug, den er in Cork gekauft hatte. Er ist abgewetzt, ausgebeult, widerstandsfähig und zu allem fähig. Beckett trug seine schwarze Lederjacke. Vor ihnen stand mein Publikum, Angestellte der Firma. Ich hatte mich entschlossen, zunächst ohne Mikro zu sprechen, meine Stimme trägt das. Godot nickte aufmunternd. Ich begann mit dem Annettebrief 47. Beckett stand vorm Rauchen verboten Schild und qualmte. Ich war froh, die beiden zu sehen. Die Angestellten der Firma ahnten nicht, wer hinter ihnen stand. Sie konnten sie nicht einmal sehen. Die Firma ist ein öffentlich-rechtliches Konstrukt für Kulturarbeit. Sie verbrennt Steuergeld. Kultur ist Definitionssache einer intellektuellen Oberschicht. Nicht unbedingt herzenswarm, zweischneidig, aber notwendig. Ich profitiere davon. Hoch lebe der Kulturbetrieb, sage ich, wenn man mich bucht. Aber ich glaube nicht an ihn, und erwarte auch nichts.

Hätte ich mich von Beginn an mit ihm arrangiert, wäre ich erfolgreicher gewesen, aber mein Bauchgefühl riet immer zur Vorsicht. Duzen ist obligatorisch, man kleidet sich leger, trägt Tattoos, gendert, aber im Hintergrund wirken Mechanismen, die immer wirken, wenn Menschen miteinander arbeiten müssen. Der Chef ist letztlich doch Chef, der wiederum ist seinen Vorgesetzten verpflichtet, und die den "kulturellen Sponsoren". In der Szene umarmt man sich häufig und streicht mit flacher Hand auf dem Rücken des Umarmten kleine Kreise. Die Angestellten, fast alle mit Zeitverträgen am Anfang ihrer beruflichen Laufbahn, fallen darauf rein. Tatsächlich macht dieses Verhalten den Umgang miteinander noch komplizierter als in einer Firma, die eine beliebige Ware produziert und verkaufen muss. Meine Ware ist nicht feststofflich. Die einzige Auszeichnung, die nachhaltig wirkt, ist - wenn auch kaum ausgesprochen - auch hier der wirtschaftliche Erfolg. Der trifft Autoren meist nur, wenn sie in den Medien besprochen und gelobt werden. Mich lobt man selten, und wenn, kaum überregional. Ich bin subventionierter Hofnarr von Westfalen und einverstanden, dass es so gekommen ist. Das macht mich frei, was immer das auch bedeuten mag. Vogelfrei. Für die Tote Lerche, ein Gedicht der Droste, ging ich ans Mikrofon, denn ich wollte es zu einem Loop von Meshelle Ndegeocello lesen. Manchmal brach mir fast die Stimme, weil klar war, dass keiner der Anwesenden gekommen war, um mich zu hören, sondern, weil es eine für die Angestellten unausgesprochen verpflichtende Veranstaltung war, die das Betriebsklima verbessern soll. Ein undankbarer Job. Ich war sehr niedergeschlagen danach. Aber du warst gut, sagte Godot. Beckett sah das ähnlich. Und immerhin, du hast zwei Bücher verkauft, sagte Beckett. Hoch lebe der Kulturbetrieb, sagte ich.


Mo 26.09.22 12:01 kalt, feucht

Ungemütlich.
Heizen ist eine Antwort.
Zwei Pullover übereinander die andere.
Badewanne wäre auch nicht schlecht.


Di 27.09.22 12:01 kalt, feucht

Annette Brief 49

Liebe Annete,

als ich letzten Donnerstag zum Rüschhaus kam, standen auf dem Hof vier große Automobile, motorisierte Kutschen zum Transport verschiedenster Lasten: Requisiten, Metallgestänge, Scheinwerfer, Kameras und technisches Gerät, das zu erklären nicht ganz leicht fällt. Ich hatte dir doch erzählt, dass kaum sechzig Jahre nach deinem Tod die Bilder laufen lernten. Ganz ähnlich wie bei der Laterna Magica entstehen beim Filmen bewegte Bilder. Um aus Einzelbildern jedoch einen Film zu machen, braucht man 24 Bilder pro Sekunde. So schnell hätte das dein Fotograf mit dem schweren Daguerrefotoapparat deiner Zeit nicht bewerkstelligen können, aber wie gesagt, seither es ist viel passiert. Heute haben wir Kameras, die kaum größer sind als eine Schminkdose und trotzdem tadellose Filme machen können. All die Automobile vorm Rüschhaus waren gekommen, weil ein Regisseur im Rüschhaus einen Film drehen wollte. Er wird Haus Kummerveldt heißen. Es geht um eine junge Adelige, die als Schriftstellerin weltberühmt werden möchte.

Schau mal, hier sind ein paar Bilder.
Erkennst du die Burg und das Rüschhaus?

Man hatte mir einen Tag vorher mitgeteilt, dass ein Filmteam käme, aber die Information war unvollständig, es hieß, es kämen erst am späten Nachmittag, um für den Folgetag aufzubauen, aber nun waren im und ums Haus fast 30 Menschen, Kameras waren aufgebaut, Scheinwerfer, große Lampen, standen an verschiedenen Plätzen, kostümierte Schauspieler warteten auf ihren Einsatz. Im italienischen Zimmer hatte man umgeräumt und ein Bett unters Fenster gestellt. Mikrofone hingen an Auslegern in der Luft, um das, was die Schauspieler sprachen, aufnehmen zu können. Die bewegten Bilder der Gegenwart können sprechen, Annette, sprechende Illusionen, bei denen alles mehr oder weniger Lüge ist. Es gibt in diesem Film eine Szene, in der Luise von Kummerveldt verzweifelt aus einem Fenster des Gartensaales springt. Dann hört man ein Platschen. Natürlich wissen wir, dass unter diesen Fenstern weder eine Gräfte noch ein Teich ist, aber der Zuschauer wird es glauben.

Immer, wenn der Regisseur "Aufnahme" rief, mussten alle ganz still sein, selbst vorm Haus durfte nicht gesprochen werden, denn die Mikrofone haben feinste Ohren, sie können "die Flöhe husten hören". Hat man zu deiner Zeit auch schon "Ich hör' die Flöhe husten"? gesagt? Gemeint sind damit Menschen, die Dinge vermuten, die noch gar nicht gesagt, aber unausgesprochen im Raum stehen.

Das Filmteam arbeitete bis in den frühen Abend. Erst gegen 20:00 Uhr hatten sie das Haus geräumt, so dass ich abschließen und nach Hause fahren konnte. Es war interessant, ihnen zuzusehen. In einer Szene brauchte man Sonnenlicht auf den Kissen des Bettes im italienischen Zimmer. Weiß du, wie sie das gemacht haben? Sie haben vorm Fenster einen großen Reflektor aufgebaut und ihn mit einem Scheinwerfer angestrahlt, eine Lichtquelle, die Licht bündelt und auf den Reflektor werfen kann. Dieser Reflektor strahlt es durchs Fenster, sodass es auf dem Bett aussieht, als schiene die Sonne hinein. Ach, Annette, und das ist nur eine von vielen Illusionen, die der Film beherrscht. Du kämst aus dem Staunen gar nicht wieder heraus.

Die Geschichte der Luise von Kummerveldt ist übrigens deine Geschichte. Ich nehme an, dass es juristische Gründe gibt, sie nicht "Annette von Droste zu Hülshoff" zu nennen. Zudem hat man sie in die Zeit nach 1871 versetzt, als das Deutsche Reich gegründet worden war und es einen Kaiser gab. Er hieß Wilhelm I. und war ein Preuße.

Innerhalb weniger Tage ist die brütende Sommerhitze in kaltes und regnerisches Wetter umgeschlagen. Die Saison im Rüschhaus neigt sich dem Ende zu. Ich habe noch vier Führungen bis Ende Oktorber, dann wird das Haus bis Ende März geschlossen. Alle erwarten einen schwierigen Winter, denn der Krieg zwischen Russland und der Ukraine tobt noch immer und bewirkt, dass viele Dinge knapp werden, vor allem Öl und Gas, mit dem wir unsere Wohnungen heizen. Aber auch Holz ist knapp, alles ist irgendwie knapp und die Preise steigen, und ob die Corona-Pandemie, von der ich dir erzählte, nun vorbei ist oder nicht, kann auch niemand mit Sicherheit sagen.

Es bleibt kompliziert, Annette, aber wir verzagen nicht.


15:10

das eichhörnchen
muss zwei walnüsse tragen
es will sie im garten verstecken
windbräute rauschen im offenen wagen
durch pfützen und pfeifen um ecken
die gräfte grützgrün
der himmel mausgrau
im rüschhaus ein glüh'n
die adlige frau

23.45

eichhörnchen
muss viele walnüsse tragen
will sie im garten verstecken
windbraut rauscht im offenen wagen
durch pfützen und um die ecken
die gräfte grützgrün
der himmel mausgrau
im rüschhaus ein glüh'n
eine ad'lige frau
gefangene sehnsucht
dem leben fern
ihr lieben ein bangen
ungreifbarer stern

23:05

Es wird schlimmer. Jetzt schreib ich schon Gedichte über die Droste.


Mi 28.09.22 11:40

Arbeite mich durch die Akkordtabellen, übe die Verminderungen und Erhöhungen, die Minor und Major rauf und runter, und hoffe, dass sich das auf meine Improvisationen auswirkt. Im Augenblick also kaum Spielen, eher Üben. Heute abend lese ich in Gronau-Epe aus Pop Life. Daraus habe ich seit Jahren nicht mehr gelesen. Bin gespannt.

21:42

Nach einem Systemabsturz vor drei Minuten ist der Text, den ich zu meiner Lesung geschrieben hatte, verschwunden. Der neue wird anders. Ob er soviel Bumms kriegt wie der abgestürzte? Ich versuche es mal. Ich bin also im Auto unterwegs. Ich fahre durch die Beerlage, meine Lieblingsstrecke, streife meine Lieblingsorte und Wälder, Silhouetten. Zwei Bäume in der Ferne, Solitäre in leuchtendem Licht, der Wald (die Silhouetten) einen Daumensprung rechts und links. Und Cumulus, ich hab mir die Begriffe noch immer nicht gemerkt, Cumulus, sage ich, und wenn es Schönheit gibt, gibt es Cumulus.

Ortsauswärts des letzten Dorfes ist es eine Tankstelle, Autowerkstatt und Getränkemarkt in einem. Das alles gehört Heinz. Wir waren in einer Klasse. Seit 72 habe ich ihn einmal gesehen. Am Ort meiner Lesung
halte ich vor einer Imbissbude. Vier Kunden, zwei wartend, zwei essend. Dick, nackenlanges, verbleichendes Blondhaar, er, sie dunkel gekleidet, kurzes Haar. Beide sind laut. Eingeborene. Die wissen sofort, dass ich da nicht hingehöre. Ich bestelle. Es ist kurz vor sechs. Katrin, ebenfalls blond, Mittdreißig, stämmig, ihre Nippel drücken unterm weißen Kittel nach außen, sagt: Macht 5euro40. Dauert n bisken. Nach acht Minuten werfe ich ein, dies sei doch ein Schnellimbiss, ich sei in Eile. Schnellimbiss steht nicht dran, sagt Katrin. Stimmt.

Ich esse in Eile, werfe die halbe Schale Pommes weg, so lecker waren sie auch nicht. Ich hatte mir die Anfahrt zur Bücherei gemerkt, war aber einen Augenblick irritiert, als die Keppler Straße nicht da war, wo sie hätte sein sollen. Als sie auftauchte, sah ich ein
Gebäude, das ich für die Bücherei hielt. Zwanzig junge Frauen alberten davor herum. Ich parkte ein und stieg aus. Da man beim Aussteigen nach hinten blickt, sah ich die Bücherei.

Niemand.
Abrupter Druckabfall.
Sammeln.
Denen zeige ich es.

Drei Büchereiangestellte sind da, ein Mann, zwei Frauen. Eine zeigt mir den Arbeitsplatz. Ein Ohrensessel mit floralem Muster. Ich setze mich. Rechts steht eine Lampe mit zwei elipsenförmig runden Strahlern. Links ein kleiner Tisch, Sprudel mit und Apfelschorle in designten Flaschen, das sieht wertiger aus und kostet auch mehr. Ich setze meine Mütze ab. Fünf Stühle. Man hat also mit Andrang gerechnet.

Ah. Der erste Zuhörer:in : er/ihm sie/ihr war Mitte sechzig, schlank, mittelgroß, schwarzes Kurzhaar, attraktiv. Wir nicken uns zu. Haben wir uns schon einmal gesehen? Wüsste sie nicht, sagt sie. Sie käme von hier.

Ah. R. kommt, das freut mich.
Ich kenne ihn seit Ende der Sechziger. Er war Gymnasiast, ich Höherer Handelsschüler. Rivalen, aber ich war akzeptiert. Beim Imbiss hatte ich an ihn gedacht, aber sein Name war mir nicht eingefallen. Jetzt wusste ich ihn sofort. Ein eingeborener Bürgersohn, der mit anderen Bürgersöhnen einen Kotten gemietet hatte. Auf dem Heuboden lag Marihuana. Wir machten Krach und kifften. Als irgendwann die Polizei kam, hielt sie das Gras für Heu und zog wieder ab. Später war er in der DKP, dann Lehrer einer Realschule, schließlich Rektor einer anderen. Er erzählte mir von einem jüdischen Friedhof in Gronau, meiner Stadt. Ich habe in all den Jahren nicht einmal davon gehört. Er hat die Schlüssel. Vielleicht fahren wir mal hin.

Ah. Da kommt B.
Den kenne ich seit der Volksschule. Ein anglophiler Hallodri, den ich sehr mag. Er hat immer Probleme mit Frauen, und damit, dass er das Geld zusammenkriegt für sein Kind aus einer gescheiterten Beziehung. Wir wollen mal wieder einen Abend saufen. Das versprechen wir uns seit vier Jahren. Wir reden dann nix. Wir erzählen nur, wie es damals war. Als die Searches in der Concordia spielten. Die Swinging Blue Jeans. Casey Jones & the Governors. Golden Earring. Und wie wir in London waren mit Linda. Das ist schön und tut weh wie die Gegenwart. Er wird kommen, wir werden saufen, aber es ist zu erwarten, dass das noch zwei, drei Jahre dauert.

Ah. Noch ein Gast. Eine unscheinbare, mittelblonde Frau (sie/ihr). Schüchtern, aber als ich sie begrüße, fällt ein bisschen davon ab. Wir sind also: 1 Bibliothekar, der sich als Vertreter der Stadtbücherei Gronau-Epe vorstellt, zwei Bibliotheksangestelltinnen, zwei Zuhörerinnen und zwei Zuhörer.
Vierzehn Ohren. Für die werde ich mir Mühe geben. Sie werden es bemerken, und tatsächlich kauft eine Frau ein Buch. Sie will dass ich ihr was reinschreibe. Sie heiße Barbara. Dieses Buch ist nur für Barbara und sonst niemand!


Fr 30.09.22 11:15 sonnig


olaf am morgen
die hose am knie
zur morgenverdauung
putin meldet verhärteten stuhl
biden braucht cola
zum durchfall
die guten und schlechten
alle sind kompliziert
alle sind menschen
mir geht es gut
aber vielen anderen
auf anderen erdteilen
geht es unbeschreiblich schlecht
mimimi republik deutschland


23:55

friedhoff am rott

ich habe keine hand frei
doch ich geb sie dir
von allen deinen schwestern
warst du die liebste mir
du hast gekämpft
selten besonnt
hast eingesteckt
paar blumen rund ums loch
verschreckt
stehn' schon die nächsten reisenden