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Hermann Mensing

Ruhige, glückliche Tage

17:48

Was geschehen ist, ist entsetzlich. Aber es gibt Ursachen. - Man spricht von einem Anschlag auf die freie Welt.

Was ist mit dem Rest der Welt? Dem Rest, der unter der ökonomischen Diktatur der "freien Welt" leidet? 

Das bitte ich bei allem Entsetzen zu bedenken. Was dann bleibt, ist Trauer. Tiefe Trauer über den Zustand der einen Welt, denn nur die gibt es.  

 

12.09.01     15:31

B. Brecht

Was nützt die Güte

1

Was nützt die Güte / Wenn die Gütigen sogleich erschlagen werden, oder es werden erschlagen / Die, zu denen sie gütig sind? //

Was nützt die Freiheit / Wenn die Freien unter den Unfreien leben müssen? //

Was nützt die Vernunft / Wenn die Unvernunft allein das Essen verschafft, das jeder benötigt? //

2

Anstatt nur gütig zu sein, bemüht euch / Einen Zustand zu schaffen, der die Güte ermöglicht, und / besser: / Sie überflüssig macht! //

Anstatt nur frei zu sein, bemüht euch / Einen Zustand zu schaffen, der alle befreit / Auch die Liebe zur Freiheit / Überflüssig macht! //

Anstatt nur vernünftig zu sein, bemüht euch / Einen Zustand zu schaffen, der die Unvernunft der einzelnen / Zu einem schlechten Geschäft macht!

 

15:43

Würden dieses Bild gern besitzen. Es steht auf unserem Schrank. Müssen es nur noch kaufen. 

( Zum Künstler: http://www.klausgeigle.de )

 

 

13.09.01   9:10

Während um 10 Uhr die "Räder still stehen", damit wir den Opfern der Anschläge in New York und Washington gedenken, denke ich an die Opfer in Palästina, an die Opfer der täglichen Ausbeutung der angeblich unfreien, unzivilisierten Welt durch das marodierende internationale Kapital, dessen Nutznießer ist bin und das zu diesem schrecklichen Ereignis geführt hat. Die Chance, jetzt Frieden zu finden ist groß, ich glaube, dass sie nie größer war, aber es steht zu befürchten, dass man sie nicht nutzt. Man hört, das die Soldaten der USA aufgerufen werden, sich darauf vorzubereiten, sich einzureihen in die "heldenhafte Tradition" amerikanischer Militärgeschichte. 

bullshit. 

13:35

Seit Woodrow Wilson profitiert amerikanisches Kapital von Kriegen in aller Welt. Amerika hält sich für den Hort der Freiheit. Seine gigantische Propagandamaschine wiegt noch den hinterletzten Idioten in dem Glauben, Amerika sei das Land der Freien, dabei hat es in seiner Geschichte Völkermorde, Revolutionen und Gegenrevolutionen initiiert oder selbst durchgeführt. Es ignoriert die Vereinten Nationen, es tut, was es will, so bitter es ist, Amerika hat sich dieses grauenhafte Ereignis selbst eingebrockt. 

Ich will, dass die Nato-Staaten den Amerikanern klipp und klar sagen, dass es so nicht weitergehen kann. Dass auch Amerika nur ein Land unter vielen der Völker dieser Erde ist, dass auch Amerika sich an Resolutionen der UNO halten muss, mir wird kotzübel, wenn ich daran denke, wozu dieses Amerika militärisch fähig ist, und was es zu tun bereit wäre, wenn sich ihm niemand in den Weg stellt. 

Das kriecherische Beschwören der Freundschaft zu den Amerikanern geht mir am Arsch vorbei. Freunde kriechen sich nicht in den Arsch. Freunde sagen, was sie denken. Jetzt besteht die historische Chance, an einem Strang zu ziehen, und am anderen Ende dieses Stranges darf nicht Vergeltung stehen, Krieg, sondern muss stehen: Friede. 

Ich weiß ich weiß ich weiß, das klingt alles sehr einfach, ich weiß ich weiß, es ist so kompliziert, aber alles wissen es doch. Alle wissen, worum es jetzt geht. Hier und da hört man schon warnende Stimmen. Ich würde ja beten, aber ich weiß kein Gebet. Ich würde ja fortlaufen, aber ich weiß nicht, wohin. 

17:16

Ticket für Wien gekauft. Samstag werde ich dort lesen. Seltsames Gefühl in diesen Zeiten. Wird mich einige Überwindung kosten. Aber wie sagt der Volksmund: the show must go on. Arschloch. Zynisches. 

20:35

Masters of War

Come you masters of war / You that build all the guns / You that build death planes / You that build the big bombs / You that hide behind walls / You that hide behind desks / I just want you to know / I can see through your mask. //

You that never done nothin' / But build to destroy / You play with my world / Like it's your little toy / You put a gun in my hand / And you hide from my eyes / And you turn and run farther / When the fast bullets fly. //

Like Judas of old / You lie and deceive / A world war can be won / You want me to believe / But I see through your eyes / And I see through your brain / Like I see through the water /  That runs down my drain. //

You fast the triggers / for the others to fire / Then you set back and watch / When the death count gets higher / You hide in your mansion / As young people's blood / Flows out of their bodies / And is buried in the mud. //

You've thrown the worst fear / Than can ever be hurled / Fear to bring children / Into the word / For threatening my baby / Unborn and unnamed / You ain't worth the blood / That runs in your veins. //

How much do I know / To talk out of turn / You might say that I'm young / You might say I'm unlearned / But there's one thing I know / Though I'm younger than you / Even Jesus would never / Forgive what you do. //

Let me ask you one question / Is your money that good / Will it buy you forgiveness / Do you think that it could / I think you will find / When your death takes its toll / All the money you made / Will never buy back your soul. //

And I hope that you die / And your death'll come soon / I will follow your casket / In the pale afternoon / And I'll watch while you'r lowered / Down to your deathbed / And I'll stand o'er your grave / 'Till I'm sure that you're dead // (b.dylan)

 

17.09.01    10:44

Folgender Dialog stammt aus geheimer Quelle. 

Teilnehmer sind: George W. Bush, im folgenden George, Donald Rumsfeld, genannt Rip van Rummy und Michael Jackson. 

Rip: You know George, I saw you embracing this firefighter in New York. That was great. And I heard you, I heard what you said. I heard, what they answered. They want us to nuke them, George, they want us to do that...

George: ... nuke them we will, Rip. We'll chase them out of their damn rat holes, we'll pulverize them wherever they are, even if it will take time and cost lives. We'll beat them.

Michael: Yes, beat them, beat them.... 

Rip: But what about Colin then? He's considering diplomatic actions instead of warfare. What do you think we do with him?

George: Fuck this black bastard, Rip. Let him talk. We have the vote from the people of the United States. The land of the brave and the free. And we fuck these muslim terrortist bastards. We fuck them, yes, we will. 

12:45  

Als die USA erste Atombombenversuche in Nevada durchführten  und von US-Soldaten beobachten ließen, sagten viele, sie hätten nie vorher etwas so schönes gesehen wie diesen in sich glühenden, aufsteigenden Atompilz.  

Ich habe nie vorher etwas Faszinierenderes gesehen, als das Verschwinden dieses Verkehrsflugzeuges in einem der World Trade Center Türme. Enttäuschend war, dass es am anderen Ende nicht wieder herauskam und weiterflog. 

14:45

Wir waren in Wien, Mensing. Wir haben in Wien gelesen, Mensing. Wir sind zurück jetzt, Mensing, und wir sagen, wie's war, dieses Wien, dieses imperiale Wien am Rande des Balkan. 

off we go:  

wien 14.09.01  

19:55 regen fällt auf die festgesellschaft, die im schatten der votivkirche unter bäumen feiert, lautstark und lachend. blitzlichter zucken, unterwasserfotos werden gemacht, blitzlichter, während ich auf der fensterbank lehnend hinausschaue und höre, wie die tropfen auf dem verbleiten sims wienerisch schlagen. so fängt das an. müde bin ich, sehr müde. werde paradeisersalat mit mozarella und basilikum essen im café roth, werde bandnudeln verspeisen und ein achtel weißen dazu trinken und dann, später noch, werde ich sehen, ob auch ich dem wiener platzregen trotzen kann. 

20:35 es ist so, wie ich dachte. tony blair sagt, die engländer stünden zu ihrem wort, ohne wenn und aber. man sieht förmlich, wie sie sich darauf freuen, munition in die röhren ihrer mordmaschinen zu schieben. als hätten sie je damit aufgehört! sie fliegen doch ständig mit dem großen bruder nächtliche angriffe auf den irak. politikpolitikpolitik. 

20:43 in wien sein. auf den rooseveltplatz blicken. allein sein. in wien sein, wo der regen dick ist und ich ohne schirm bin. wenn ich nur erst zuende gegessen habe, wird es aufgehört haben und ich gehe ins jazzland. 

20:50 natürlich gibt es genug zu sehen und zu beschreiben. etwa diesen radfahrer, der die währinger  richtung schottentor jagt. sein orangefarbener regenumhang bläht sich wie ein fallschirm, aber will ich das wissen? 

20:55 ich lebe nur einmal, insofern werde ich zahlen, was immer es kostet. aufschrift auf einer straßenbahn: planlos? wir holen dich da raus.  www. falter. at.

21:50 im lesezelt neben dem burgtheater: was von leichen wird gelesen. ein zelt, durch das feuchte luft zieht und gemurmel. schaue mich nach gesichtern um, kenne keines. komm setz dich her, da ist dein platz. junges volk in dieser regennacht. immerhin: unter menschen. *** im zug bistro setzte ich mich neben diesen ungeschlachten mann. noch jung war er, knappe dreißig, aber schon grau, die augen hinter dioptrenstarken gläsern. da sitzt mein freund, sagt er. meint er den polizist, der gerade vorher aufgestanden war und mir den platz angeboten hatte?  ja, ja, sage ich, wenn er dann wiederkommt, steh ich schon auf. das hört er nicht mehr, denn er starrt vor sich her, starrt auf das land, das vorbeifliegt und verwischt und stößt plötzlich worte aus: braun braun braun etwa, oder wolken wolken wolken. explodiert fast dabei. später seh ich ihn nochmal. wieder dieses wort-stammeln: lok lok lok. *** wolfgang bauer liest derbes. *** franzobel liest noch derberes.  ***  anne bennent liest und otto lechner spielt akkordeon dazu. frau bennent lebt ihren text nicht. otto lechner wirkt todwund wie er da sitzt, blind, die augen hinter einer sonnenbrille, den 3/4 kahlen schädel, das strähnige lange blondhaar hinten, sein instrument nach gutdünken bearbeitend.  *** nasse füße auf dem heimweg. 

15.09.01

8:45 beim frühstück im café roth. so ein androgyner 16 jähriger serviert. unvergleichlich lässig wie er daher läuft, den linken arm angewinkelt, die finger der hand bis auf daumen, zeige- und mittelfinger gewinkelt,  erstere seltsam gespreizt nach vorn weisend. mittelblond, der kragen seines weißen hemdes zu weit, die schwarze fliege sitzt ungeschickt. eine rothaarige sehr hübsche auch. mein personal sozusagen im **** hotel, das ein sehr schönes bad hat, lachsfarben, beige, grün und silbrig die streichholzschachtelgroßen mosaiksteine. *** bin ich gespannt auf mein publikum? ja, bin ich. sehr. sah gestern kein zweites lesezelt.  *** und wieder gilt: jeder ist seine eigene karikatur. *** portugiesen, alles voll mit portugiesen. *** im literaturzelt. rilke wird gelesen, rilke und die briefe einer erika mitterer an ihn, den verehrten. *** streife ein wenig herum durch das samstägliche wien, das sich gerade aufmacht, zu erwachen. sah einen schlawiner auf dem kutschbock eines fiakker. (?) strizzi nennt man den schlawiner in wien.  *** 

11:50 ueberreuter hat einen stand vorm zelt, muß mich also nicht mehr mit frau k. vorm burgtheater treffen. im kinderzelt das theater heuschreck. was die mit bunten kostümen, langen nasen, gitarren und trommeln machen, schaffe ich nur mit text. gleich. wir werden ja sehn. *** sah colin powell auf cnn. er sagte sinngemäß, man habe alle operativen optionen, aber denkbar sei natürlich, dass man zunächst die diplomatischen kanäle nutze. *** 

16:47 sitze auf einer bank auf dem leopoldsberg, schau auf die donau, die weinberge um grinzing und die diesige stadt, ein brunnen plätschert, ein kühler wind weht, kann, glaub ich, sogar den prater sehen. mit dem nächsten bus geht es zurück in die stadt. grinzing schenke ich mir und fahr stattdessen zum café landmann, esse eine kleinigkeit und sehe dann zu, dass ich karten für den nestroy bekommen. *** 

18:15 im café landmann. diesmal allein ohne, frau d., frau h., frau j., frau sch. und  habe eine karte für die burg. war billiger als eine tasse kaffee. 25 schilling für die galerie seite rechts, platz 9. *** in der straßenbahn gerade ein doppelgänger von dave dem saxophonisten. das gleiche gesicht, der gleiche akzent eines deutsch sprechenden engländers, beängstigend fast. war nur ein wenig dicker als dave. *** kellner heißen hier herr .... (vorname) heute mittag bediente uns ein herr rudolf. *** der wein ist zu süß. vorsicht. *** die ideale figur für den österreichischen kellner ist der buckel. dazu passt der schwarze anzug, das weiße hemd, die fliege. wie er da um die ecke schießt, ein tablett auf den fingerspitzen der gespreizten linken hand hoch überm kopf. servil. das ist wien. und schon wieder geistert meister e. fuchs durch das café, dessen bilder ich nicht sehr schätze und dessen funkelnde steine, die er an einem kettchen um den hals trägt, und die sicher echt oder unecht sind, ich äußerst albern finde. chris sagt, seine mützen wären scharf. finde ich auch nicht. muss aber dazu sagen, dass surrealisten mir sowieso ziemlich egal sind. *** herr reinhard bedient mich. auf meine frage, ob ich es noch schaffe könne, eine kleinigkeit zu essen, eh der nestroy begänne, nickt er und bedient mich flott. esse schinkenfleckerl.  *** nestroy: der zerrissene: eine art millowitsch-theater. tricks im bühnenbild, exotisch- bis einheimisch die musik, unterhaltsam, witzig, bissig und manchmal anstrengend, wenn man so in der galerie über der brüstung hängt und versucht zu sehen.  *** 

21:30  wieder im café landmann und die wirklichkeit ist so umfangreich, dass ich's kaum aufschreiben kann. und wenn ich nach plan vorginge?  1. vor der lesung. 1.1 treffe die verlagsfrauen 1.2 die moderatorin wird mir vorgestellt oder umgekehrt, man stellt mich ihr vor. 1.3 ICH LESE  2. nach der lesung 2.1 allein unter frauen im café landmann. 2.2 frau j. zahlt aus dem mensing-fond. 3. theater: mein gespräch über peymann und dessen "nathan der weise" inszenierung, die 30 schauspieler, die er von bochum mitbrachte, die blutige skulptur, die ein drittel des zuschauerraumes einnahm, die unappetitlichen kostüme etc. 3.1 die portrait galerie im foyer, in die nur die besten burgschauspieler aufgenommen werden. steigerung dieser ehre: das ehrengrab. auch das typisch österreich. 

 

18.09.01    9:26

fortsetzung wien: 

22:50 4. nach dem theater. teilte den tisch im landmann mit einem pensionierten juristen der polizei, der wegen der literaturnacht nach wien gekommen war, und festgestellt hatte, dass er einen tag zu spät war. da würde seine frau ihn aber auslachen! wir reden. so nach und nach stellt sich heraus, dass er schreibt. nicht beruflich, nein, nur so, für sich. sein letztes gedicht handelt von clintons beziehung zu monica lewinsky. er versprach, es mir zu schicken. bin gespannt. *** herr anton bedient uns, der bucklige herr anton. mitten in wien. könnte ihn auf der stelle zum helden einer geschichte machen und jeder hätte gelegenheit, sich ihn anzuschauen, wie er da um die ecke schwebt mit leicht vorgereckten kopf, der natürlich doppelt gereckt ausschaut, weil der buckel die perspektive verändert. - ja. könnte ich. lasse es aber. ich bin ja noch nicht einmal mit meinen schullesungen fertig. ***

00:30 jazzland. storyville heißt die band und genauso spielt sie. jammernde klarinette, durchgeschlagener beat der bassdrum, schlagbass und alles übliche. ich kann nicht recht darüber lachen. werde wohl besser gehen, schon wegen der beiden zigarrenraucher links neben mir. *** zurück immer der nase nach, vorbei an schummrigen kneipen. eine heisst hölle. ich zögere, gehe dann aber doch nicht hinein.

16.09.01  

9:25 sitze im ice, der erst in knapp einer stunde abfährt, habe einen sicheren platz bis kassel, bin nicht zu weit vom speisewagen und schätze, dass ich plus/minus null aus dieser ganzen sache herauskomme. gelesen, gegessen, gut geschlafen, also ab die post. ein junger mann, der wie ein pakistani aussieht, sagt zu mir, als 'dunkler mann' hätte er es im augenblick nicht so ganz leicht, aber er käme klar. *** wer für sich in anspruch nimmt, zivilisiert zu sein, indem er andere zu barbaren erklärt, kann so zivilisiert nicht sein. ***

11:30 herr reinhard, kellner im landmann, fragte mich gestern abend, als ich das café verlassen wollte, ob es mir im theater gefallen habe. hat also ein gutes auge, der mann. hatte mich ja erst drei stunden vorher zum ersten male gesehen. wünscht mir alles gute, hofft, dass wir uns vielleicht im nächsten jahr wiedersehen. profis, dieses herren reinhard, anton und wie sie alle heißen. ***

12:15 nach linz. vorm bier im zugbistro. warte auf meine kartoffelsuppe. draußen wird land vorbeigejagt. weiß nicht, wo sie all die kulissenschieber herkriegen. *** schön ist das, dieses gleiten durch landschaft, dabei essen, trinken und sich bewußt werden, dass man, was immer man tut und wie immer man auftritt, es nie zu mehr als zur darstellung seiner eigenen karikatur bringt. das erheitert am sonntag danach. ***

13:00  das rennen der regentropfen auf den scheiben setzt wieder ein. manchmal sind es einzelne, die sich zu strömen vereinen, ströme, die in unterschiedlichen geschwindigkeiten über das fenster fließen, mäandern, sich zu einem großen vereinen und am entgegengesetzten ende der scheibe verschwinden. man könnten wetten abschließen, wenn man wettsüchtig wäre. ***

13:35 nach passau. grüß gott. personalwechsel. die fahrscheine bitte. *** ausweiskontrolle, die alle angeht, nur ich werde ausgespart. das sind die vorteile des alters. hatte das auch schon genau anders herum. gehörte lange zu den bevorzugten individuen der fahnder. wie sich die zeiten ändern! dabei ist mein kopf heute radikaler als damals. aber das sehen sie nicht, die herren in grün. ***

15:30 nürnberg. ab regensburg bis hierher saß eine junge frau neben mir, die ein gothic magazin las. kamen ins gespräch. scherzte über weiß geschminkte gesichter, spinnweben im haar und fledermäuse am revers. sie fand das lustig. nannte mir ein paar gruppen, die sie gern hört: das ich - lakrimosa - silke bishop. als sie ausstieg, wünschte ich ihr schöne totengedanktage im november. sie lachte und freute sich. ***

18:10 völlig überfüllter zug richtung hamm. durch kluges stehen und frühen einstieg in den bistrowagen hatte ich mir strategische vorteile erarbeitet, denn ich war schon im wagen, als die nach kassel reisenden noch in schlangen ausstiegen und die ab kassel reisenden noch auf dem bahnsteig warteten. habe also einen sitzplatz. ***

18:30 klares, farbenspendendes licht um warburg. vorhin, gleich nach kassel, machte das bordeaux-farbene erde. drei vier äcker weiter war das schon wieder vorbei. *** mein gegenüber trägt eine schwarze jeans, schwarzes jeans-hemd, schwarze lederweste und ein unterhemd mit schwachen v-ausschnitt und einem bündchen mit feinen ornament-stickereien. sagt man so??? - so eines mit verzierungen??? - liest eric ambler. trägt schwarze camper-boots und kommt aus dresden. *** links neben mir sitzt ein monströs fettes mädchen. ihre knie sind bei all dem fett kaum auszumachen. alles quillt und ist dick wie elefantenbein.  *** habe mich gleich nach lippstadt mit einem bier ins 1. klasse abteil vorm bistro gesetzt und wurde gleich darauf kontrolliert. fürchtete schon, mich rechtfertigen zu müssen, aber der schaffner hatte keine beanstandungen. "halbe stunde noch" sagt ein mann schräg gegenüber zu seiner lesenden frau. die nickt nur. wenn der wüsste. könnte auch "keine sekunde mehr" heißen. 

10:20

In der Wirklichkeit. Sonne. Werde spazieren gehen. 

11:34

Mitgehört: zwei Lagerarbeiter einer großen deutschen Spedition. 1: Hey Osama? 2. Ja, was gibt's? 1. Bin laden. 2. Okay. 

 

19.09.01   17:36

Herr Schröder behauptet, Deutschland sei bereit. Mich kann er damit nicht meinen. Meine Frau auch nicht. Meine Söhne schon gar nicht. Wir wären bereit, zu teilen. Aber das scheint nicht im Kalkül der internationalen Politeska. 

19:53

Lieber Präsident Bush, 

ich bitte dich herzlich,  Deutschland zu bombardieren, denn hier wohnten immer schon  Terroristen. In den 70igern war es ganz schlimm, aber jetzt, wo überall Dönerbuden stehen, ist es bestimmt noch schlimmer. Deshalb zögere nicht und hau ihnen die Kebab -Stände unterm Arsch weg, diesen Turban-Fritzen. Ich freue mich schon auf die Bilder im Fernsehn, wenn deine Missiles da angecruist kommen, und rumms löst sich der Ali in Luft auf. Ja. Und eines musst du wissen: wir Deutschen lieben euch Amerikaner sehr und wünschen uns, dass ihr uns jetzt wieder helft,  so wie damals. Danke, George, dein Hermann....

 

20.09.01     9:53

flashback wien 15.09.01 12:30

In der Seitengängen des Lesezeltes steht die Firma. Vier Frauen, abgeordnet oder gekommen, weil Interesse besteht? M. weiß nicht, es ist ihm fast unheimlich. Die Damen beobachten ihn. Wird M. seinen Kopf aus der Schlinge ziehen? Wird er beweisen können, dass ihr Vertrauen in ihn gerechtfertigt ist? - M. wird sich Mühe geben. Die Bedingungen sind allerdings denkbar ungünstig. Das Zelt ist zugig, es herrscht ein Kommen und Gehen, die Zuhörer sind da, weil Samstag ist und die Langeweile vertrieben werden soll, es sind Mütter und ein paar Väter mit Kindern zwischen zwei und zwölf Jahren. Noch während Frau H. den Schriftsteller M. vorstellt, ihn als halben Holländer anpreist und als Percussionisten, schaut M. in die Runde. Er ist eintausend Kilometer gereist, um an dieser Veranstaltung teilzunehmen, er hat gut geschlafen, die Aufregung hat genügend Adrenalin freigesetzt, um Zweifel verstummen zu lassen, er ist bereit. Gleich gilt nur noch das gesprochene Wort. Er wird mit dem Mikrofon kämpfen, das ihn in seinen Bewegungen einschränkt, er wird Partner suchen, Blickkontakte: das Mädchen mit den schwarzen Haaren in der zweiten Reihe, der Junge vorn links, der Vater in der vorletzten Reihe, die beiden Jungen in der ersten Reihe außen rechts. Jeden einzelnen wird er ansprechen, und er wird in ihren Augen lesen können, dass auch bei dieser Unruhe ein Feuer entflammbar ist. Darauf setzt er, als man ihm das Wort gibt. Er hört noch, dass er sagt, er sei aufgeregt wie ein Sack Flöhe, er hört, wie er den ganz Kleinen rät, sich auf den Schoß ihrer Eltern zu setzen, man könne nie wissen, dann geht es los. "Ein seltsames Haus war das ...." Nur M. und die Worte. Ohne Pappnase, ohne Trommel, ohne Saxofon. Mit einfachen Sätzen gegen den Samstagmorgen, weit fort von zu Hause, von allen beobachtet. Nachher werden sie über ihn sprechen. Sie werden sagen, M. hat... - M. hat ... - M. wird.... - M. wird nichts von diesen Sätzen erfahren. M. hat eigene Sätze. Mehr hat er nicht. Die Aufregung legt sich. M. wird sicherer. In den Augen der Kinder steht, dass er Recht hat. Also hat sich die Reise gelohnt.

 

21.09.01   10:26

Ich habe sie unterschätzt. Dennoch traue ich ihrem Braten nicht. Wollen Sie, dass die Welt geeint wird, oder wollen sie nur weiter in Frieden Geld scheffeln und die anderen zusehen lassen? Politikpolitikpolitik.  

11:48

Die Kinder standen in Zweierreihe im Flur und grüßten. Guten Morgen Herr Mensing. Was das wohl für einer ist? stand in ihren Augen. Dieser Herr Mensing. Dieser Schriftsteller. Guten Morgen, antwortete ich. Die Kinder machten sich auf den Weg zur Aula. Ich stand vorm Rektorzimmer und ließ sie vorbeiziehen. Das ein oder andere Kind streckte mir seine Hand entgegen. Dann drängte sich ein blondes Mädchen zu mir, streckte mir ihren linken Arm entgegen und ich nahm ihn. Aber es war keine Hand dran. Wir sagten guten Morgen und sie ging weiter, lachend. Ich folgte. Auf der Treppe fragte ich, wo ihre Hand geblieben sei, ob sie einen Unfall gehabt habe? Sie antwortete: Nein, der liebe Gott hätte keine Hand für sie übrig gehabt. - Was für ein Mädchen! Wie viel Mut, mir ihren Arm entgegen zu strecken. Sie wollte ganz genau wissen, wer Mensing ist. Einer, der wegzuckt? - Nein. Tut er nicht. Wir schauten uns an. Wir waren einverstanden miteinander. Müsste ich einen Aufsatz schreiben, wäre dies "mein schönstes Erlebnis."

15:10

Wie hätte ich reagiert? - 

Mein erster Impuls: sie haben es verdient, diese Amis. Mein zweiter: macht sie platt, diese Muslime. Wenn es nach mir gegangen wäre, wären wir alle schon tot. 

16:25 

Arlo Guthrie in "Alices Restaurant": 

I want to kill, kill, kill. 

19:14

Ich habe mich nicht geirrt. Die Besonnenheit der letzten Tage war nur eine Maske. Dahinter brodelt es. Rache, schreit es, Rache Rache Rache, damit Amerika wieder stolz sein kann. Die Devise lautet: wer nicht für uns ist, ist gegen uns. 

Aber auch: junge Amerikaner protestieren gegen Krieg.  

23:58

Hoch am nächtlichen Himmel das Schreien von Jagdflugzeugen. Ich nehme an, man übt. Im Fernsehen zur gleichen Zeit: die handelnden Personen: Herkunft, Bildung, Karriere. Dann: die Spezialeinheiten. Jederzeit weltweit einsatzbereit. Jäger und Mörder. Geiselnehmer. Für die freie Welt. Für protestantische Fundamentalisten.  White Anglo Saxon Protestants. 

 

22.09.01   10:39

Welcome to infinite justice. Willkommen in der Welt grenzenloser Gerechtigkeit. Wir sind doch alle gleich, nicht wahr?  

 

23.09.01    17:21

Geht mir am Arsch vorbei, ihr. 

 

24.09.01    9:13

flashback samstag 22.09.01: Ich klopfte drei- viermal an die Glastür der Buchhandlung, nicht sicher, was ich tun würde, wenn mir niemand öffnete. Aber ich war zweifellos richtig. Dies war die Baedeker Buchhandlung. Hier fand eine Lesenacht statt. Wie das vonstatten gehen sollte, konnte ich mir nicht so recht vorstellen, aber man hatte mir gesagt, zwanzig Kinder übernachteten hier. Zwanzig hochmotivierte Kinder, denn sie hatten an einem Wettbewerb teilgenommen und sich qualifiziert. Komisch fand ich das trotzdem. Der Laden war leer. Hell erleuchtet und leer. Aber dann sah ich, dass jemand die Treppe herauf kam. Uns wurde geöffnet. Meine Frau und ich betraten die Buchhandlung. Hochmodern, licht, sich über mehrere Stockwerke erstreckend. Man führte uns ins Untergeschoss. Und da waren sie, die hochmotivierten Kinder, zwanzig Mädchen, um die zwölf Jahre alt, kein Junge. Sie hatten Luftmatratzen aufgeblasen, Schlafsäcke ausgerollt, das ein oder andere Mädchen hatte ein Kuscheltier im Arm. So saßen und lagen sie im Halbkreis, um dem Autor H. zuzuhören, der aus einem Kinderkrimi las. Um die ganze Sache aufzulockern, stellte er nach jedem Kapitel Fragen zum Inhalt. Seine Zuhörerrinnen hatte er in zwei Gruppen geteilt. Die Gruppe, die am schnellsten antwortete, bekam entsprechende Punkte. Die Mädchen waren engagiert bei der Sache. - Die Mädchen! Waren Mädchen meine Zielgruppe? - Nicht, dass ich etwas gegen Mädchen habe, aber ausschließlich Mädchen, zwölf Jahre alt? Und der Held meiner Geschichte ein Junge? - Mir wurde mulmig. Ich begann mich weit fort zu wünschen. Die Mädchen aßen Salzstangen und Gummibärchen, sie kreischten, wenn ihre Gruppe eine Frage als erste beantwortet hatte, und schließlich gab es erste und zweite Sieger. Was natürlich blödsinnig ist, denn wenn man schon an einem Wettbewerb teilnimmt, dann deshalb, weil man gewinnen will. Alles andere ist pädagogische Augenwischerei. H. verteilte Plastiktüten mit "giveaways", so nennt man die kleinen Geschenke, mit denen Verlage Kunden einzuseifen versuchen: Bleistifte, Kugelschreiber, Aufkleber. Frau L. verkündete, es gäbe nun Abendbrot. Das war gegen neun. Um zehn waren alle wieder im Keller versammelt. Das Licht war aus, nur eine Leselampe brannte. Ich stellte mich vor und begann zu lesen. Ich las eine Stunde, aber ich hatte nie das Gefühl, dass ich sie in Bann schlug. Meine Frau sagte, ich solle froh sein, dass sie sich nicht zu kichernde Grüppchen zusammen gesetzt hätten, um über boy groups zu sprechen. Außerdem hätte ich sie in Bann geschlagen. Manchen Mädchen sei es sogar zu unheimlich gewesen. Sie hätte gesehen, wie sie sich Schlafsäcke über die Ohren gezogen hätten. Sie hätte gehört,  wie sie "oh - nein, bitte nicht...." und ähnliches sagten. - Ja. War das so? - Als ich zuende gelesen hatte, kamen Mädchen und sagten, dass es Klasse gewesen wäre, aber das hat meine Zweifel nicht zerstreut. Zwölfjährige Mädchen geben nichts von sich preis. Sie sind mir unheimlich. Biologisch zwischen den Welten und vollauf damit beschäftig, sich zu verpuppen. Von allen Lesungen der letzten vierzehn Tage war diese die anstrengendste.  Mal sehn, wie es morgen wird, wenn ich aus der "Großen Liebe Nr.1" lese. 

20:53

Mord, Totschlag und Hexenschuss. Wer weiß, ob ich je wieder aufstehen kann. Sollte Mord und Totschlag sich ausbreiten, werde ich laufen. Trotz Hexenschuss. 

 

25.09.01   9:29

Vertrag zwischen ... und (ich) ... 

1. Der Vertragspartner verpflichtet sich, in den Räumen der ... zum angegebenen Termin und der festgesetzten Zeit folgendes Programm zu geben: Titel: Lesung aus dem Roman "Große Liebe Nr.1" Datum 25.09,01  Uhrzeit 15:30. 

2. Der Vertragspartner ist mindestens eine viertel Stunde vor Veranstaltungsbeginn in der ... eingetroffen. 

3. Der Vertragspartner erhält für sein Programm nach erbrachter Leistung ein Honorar plus evtl. anfallender Nebenkosten von DM 35.000.-- 

Ja Leute. Das Leben ist schön.  

12:05

Langsam steigt die Spannung. Wer wird zuhören wollen? Werden überhaupt welche zuhören? Und wenn, werden sie es gut finden, oder sich gähnend abwenden? 

Wie immer ist das Leben voller Fragen, aber ich lasse mich nicht bange machen. Werde ihnen den Text um die Ohren hauen , dass es nur so scheppert. 

17:41

Niemand wollte zuhören. Aber was soll's?  Habe das Geld eingesackt und in Aktien investiert. Der Markt ist augenblicklich voller Schnäppchen. - 

Schreiben ist ein geiles Geschäft. Fragt sich, wer davon lebt. Ich? - Nein, ich nicht. Ich schreibe. Ich lebe. Aber nicht vom Schreiben. - 

Bin gespannt, was die Frau von der Zeitung schreibt? Wird es ein kritischer Artikel über die Trägheit junger Menschen zwischen 12 und 15? - Wird es eine nachdenkliche Betrachtung über die verlorenen kulturellen Traditionen? - Wird es ein Verriss träger Lehrer, denn auch diesmal waren wieder alle Schulen benachrichtigt, oder haut sie der Einfachheit halber mich in Pfanne, obwohl sie nicht einen Satz von mir gelesen hat? - 

Wir werden die Sache verfolgen. Vor Ort zeigte sie sich jedenfalls verwirrt. So etwas hatte sie noch nicht erlebt. Ich auch nicht. Aber immer noch besser, niemand kommt, als während der Lesung mit Coladosen beworfen zu werden. Na ja, und dann bleiben mir ja immer noch die 350.000 Euro, von denen ich sprach. 

Venceremos. Wenn nicht heute, dann morgen. 

21:22

Gut, vielleicht übermorgen. 

 

27.09.01     20:38

Heute ist übermorgen. Ich habe gestern in Moers gelesen. Zweimal vor jeweils sechsten Haupt- Real- und Gymnasialklassen. Und um jede habe ich kämpfen müssen. Ob ich gewonnen habe, weiß ich nicht. Kinder in diesem Alter neigen dazu, sich zu verschließen. Sie wollen in ihrem Verpuppungsprozess nicht gestört werden, sie entdecken gerade die Einsamkeit des Coolseins und finden sie aufregend. Nass geschwitzt war ich nach einer Viertelstunde. Keines der Signale, die ich sonst empfange, kamen über ihre Sender, und so bleibt die Erkenntnis, dass 12-13jährige nicht meine Zielgruppe sind. Was nicht ausschließt, dass sie die Geschichte genossen haben. Sie würden es nur nie zugeben. Wer bin ich denn? sagte ein Junge zu mir, als ich ihn fragte, ob er in der Lage sei, die sich mit einem lähmenden, durch Mark und Bein fahrenden Geräusch öffnende Schranktür nachmachen könne. In Grundschulklassen war das kein Problem. Da machten siebzig Kinder bereitwillig mit, zu ihrer und meiner Freude. Sechste Klassen sind zu alt für so etwas. Und dann höre ich, dass einer sagt, dass die Geschichte nicht gruselig war, und später sehe ich, dass welche vorm Bibliothekscomputer R. L. Stine Titel aufrufen, der plump und höchst erfolgreich mit Versatzstücken aus Horror, Fantasy und Grusel arbeitet. Dagegen will ich nicht angehen. Dagegen kann ich nicht angehen. Dagegen gehe ich nicht an. Ich habe die Lesungen der letzten Wochen sehr genossen. Sie waren anstrengend und aufschlussreich. Jede Lesung unterschied sich von der vorherigen. Ich hoffe, dass ich noch oft lesen kann. Es könnte allerdings auch sein, dass ich morgen tot bin. Alles kann sein. Aber ich gehe davon aus, dass ich überlebe. 

22:08

Und die Zeit verging, wie sie zu vergehen pflegt, wie ein Schatten durch die Welt oder wie ein schwarzer Tänzer mit Seidenstrümpfen und Mohairhosen. Und eine schwerer Duft von  Blumen und totem Wasser schlug mir entgegen. (lars saabye christensen "Der Alleinunterhalter")

 

28.09.01    8:57

I give you everything I got for little peace of mind....(the beatles)

17:00

Heute bat man mich auf, für eine im nächsten Jahr erscheinende Autorenbroschüre einige Fragen zu beantworten.  

Wann haben Sie angefangen, Bücher zu schreiben? Erstes Manuskript 1972.

Wie sieht ihr Arbeitsalltag aus? Langes Frühstück, danach drei Schritte vorwärts und zwei zurück. Bei Arbeit an einem Projekt jeden Tag.

Was ist ein wesentlicher Faktor beim Schreiben für Sie?  Wesentlicher Faktor beim Schreiben: macht es mir Spaß? - Wenn nicht, lasse ich die Finger davon.

Wodurch lassen Sie sich inspirieren?  Inspiration ist nicht mehr so wichtig wie früher. Wichtig ist, am Ball zu bleiben, wenn ich einmal angefangen habe. Im Grunde kommt dann alles von selbst. Dieser Zustand ist aber ohne Disziplin schwer zu erreichen.

Wie ist ihr Verhältnis zu ihren Protagonisten? Meine Protagonisten wachsen mir im Lauf der Arbeit ans Herz. Danach vergesse ich sie. Ich vergesse sowieso alles, was ich einmal geschrieben habe. Ich nehme an, dass das so etwas wie Selbstreinigung ist, um den Kopf für weitere Arbeiten frei zu bekommen.

Welche Bedeutung hat Lesen für Sie? Lesen bedeutet beste Unterhaltung.

Welche Helden gibt es für sie? Keine Helden.

Woran erinnern Sie sich besonders gern in ihrer Kindheit?  An das Leben an der Grenze zu den Niederlanden.

Was macht für Sie ein gutes Buch aus? Ein gutes Buch ist dann gut, wenn ich es gut finde. Der Rest interessiert mich nicht.

Wer ist für Sie der größte Kinder- und Jugendbuchschriftsteller?  Habe keine großen Helden, denen ich nacheifere. Will alles ganz allein machen.

Ihr Lieblingsbuch? Habe auch kein Lieblingsbuch. Mein Lieblingsbuch ist immer gerade das, welches ich lese. Habe wohl einen Lieblingsschreiber. Ernesto Sabato.

Ihr Lieblingsmaler?  Ich kaufe Kunst, die mir gefällt. Lieblingsmaler? - Nein. Die Welt ist voll guter Kunst. Wie sollte ich da den einen einem anderen vorziehen.

Lieblingskomponist?  Eric Satie, weil er so wenig spielt und so eindringlich ist. Zappa, weil er so viel spielt. Die Beatles, weil sie mich auf die Welt gebracht haben.

Ein paar Leidenschaften?  Schlagzeugspielen. Spazieren gehen. Die anderen verrate ich nicht.

Was mögen Sie überhaupt nicht? - Schlechte Bücher. Schlechte Musik. Pfusch in jeder Hinsicht. Wenn jemand sich keine Mühe gibt.

Was möchten Sie unbedingt erleben? - Opa werden.

Was ist das Verrückteste, was Sie jemals gemacht haben? - Das, was ich jeden Tag tue. Glauben, dass sich meine Literatur durchsetzt. Verrückter geht's kaum.

Was würden Sie niemals tun? - Weiß ich nicht. Alles ist möglich. Ich schließe nichts aus.

Was halten Sie im Leben für völlig überflüssig?  Überflüssig sind Idioten.

Was würden Sie zaubern, wenn Sie es könnten?  Wenn ich zaubern könnte, zauberte ich Vernunft.

Wo und wie erholen Sie sich?  Ich erhole mich beim Schlagzeugspielen, beim Spazieren gehen. Wobei  ich mich sonst noch erhole, verrate ich nicht.

Was bedeutet für Sie Erfolg? Erfolg bedeutet, dass ich in Frieden meiner Arbeit nachgehen kann.

Was wünschen Sie Ihren Büchern? Meinen Büchern wünsche ich viel Erfolg.

Was wünschen Sie Ihren Lesern? Meinen Lesern wünsche ich allerbeste Unterhaltung und die Einsicht, dass sie es bei mir mit jemandem zu tun haben, der sie nicht verarscht.

19:07

Sagte er, dieser Baum ist schön, fragte sie, woher er das wissen könne, sagte er, ich denke, wir gehen jetzt links, zerrte sie so lange an seinem Arm, bis sie rechts gingen. Und so kam es, dass er eines Tages ohne noch ein warnendes Wort eine Axt griff und ihren Schädel spaltete. Und als sie mit gespaltenem Schädel vor ihm lag, fragte er sie, was sie denn nun glaube, ob das ein guter Hieb gewesen sei oder ein schlechter? Als sie sagte, ein miserabler, rannte er schreiend aus dem Haus auf die Straße und geriet unter die Doppelreifen eines LKW. Mittlerweile hatten Nachbarn das Stöhnen seiner Frau gehört und einen Notarzt alarmiert. Der hatte nun beide Hände voll zu tun, oben die Frau und auf der Fahrbahn der Mann. Und als man die Frau, die schon starb, aber noch wusste, wie ihr geschah, auf einer Bahre zum Krankenwagen trug, sah sie den Mann, der schon starb, aber noch wusste, was ihm geschah und sie rief so laut sie nur konnte, das hast du davon. Worauf er lächelnd flüsterte, o ja, ich weiß. 

 

29.09.01   18:11

Man wird oft von einem Wort behext. Z. B. vom Wort "wissen". (L.Wittgenstein)

22:44

Ich kann mich nicht erinnern, dass sie je zärtlich war. Ich kann mich an gar nichts erinnern. Die Bismarckstraße und jede mit ihr aufsteigende Geschichte könnte eine Erfindung sein. Ein Traum, den man träumt und als sein Leben ausgibt. Nur wenn ich sie liegen sehe in ihrem Totenbett, in dem sie schon so lange liegt, wenn ich sie sehe, wie ich sie letzte Woche sah, als ich in ihr Zimmer kam und sie eines der Lieder sang, die sie in ihre Gegenwart hinüber gerettet hat, kann ich nicht umhin, sie zu lieben. "Das machen nur die Beine von Dolores, dass die Seniores nicht schlafen gehn...." singt/spricht sie und ahnt nicht, dass ich in der Ecke des Zimmers sitze und zuhöre. Sie sieht und hört ja nicht, sie ist ja ganz allein mit sich in ihrer vierundneunzig Jahre alten Welt, und ich weiß nicht, wie ich ihr begegnen soll. Einmal mit den Fingern geschnippt, schon könnte sie für immer fort sein, morgen schon, jetzt, und ich werde zurück bleiben und nie erfahren haben, was das zwischen uns war, zwischen ihr und mir und warum sie nie zärtlich war und ich nie mit ihr sprach. So eine Mutter ist das und so ein Sohn bin ich. Und mein Vater, der warm war, ist vier Jahre tot. 

 

30.09.01  11:21

Langsames Erwachen auf dem Lande.

19:36

Mein Plan: 

1. Offizielle Entschuldigung der industrialisierten Länder gegenüber den Ländern der "dritten Welt", aus der deutlich wird, dass sie Willens sind, alles Unrecht, das sie aus Habgier gegenüber diesen Völkern begangen haben, wieder gut zu machen. 

2. Schuldenerlass 

3. Sofortiger Stop aller Kampfhandlungen in Israel/Palästina. Israel zieht sich aus allen besetzten Gebieten zurück. Friedensregelung vor internationalen Gremien (UN). Gleiches Recht für Israeli und Palästinenser.  

4. Aufhebung der Sanktionen gegen Irak.

5. Sofortige Hilfe bei infrastrukturellen Maßnahmen, beim Bau von Schulen, Krankenhäusern etc. 

6. Grenzverhandlungen in allen ehemaligen Kolonialgebieten auf Basis ethnischer Grenzen.  

7. Bildung einer internationalen Eingreiftruppe. (UN) 

20:04 

So einfach, wie Sie sich das vorstellen, ist das nicht (ist das doch, ist das nicht, ist das dooooochhhhh).

 

1.10.01   8:00 

Dämonen, Knochendreher, Verwirrer, ich kann sie nicht zählen, aber sie waren da diese Nacht.  Sie hockten auf mir. Sie schlugen auf mich ein und ließen kein gutes Haar an mir. Ich denke, dass sie mit dem Wind kamen, der über Nacht stark wurde. Ich denke, sie sind Vorboten des Vollmondes. Sie wussten alles. Ich habe jetzt kein Geheimnis mehr. Sie haben alles verhandelt und mich in allem schuldig gesprochen. Da hilft nur Kaffee. Und dann werde ich meinen Traum Lüge für Lüge wieder zusammensetzen. Am Ende könnte es dann wieder heißen: Hermann Mensing. Schriftsteller. 

10:11

Sehr geehrter Herr M. (also bin ich, zumindest glauben es andere) 

Aller Anfang ist schwer ... Die Gültigkeit des Sprichworts konnten wir bei der Einführung unserer neuen Verlagssoftware nicht widerlegen. Die beiliegenden Honorarabrechnung wurde erstmals über das neue System erstellt und von uns im Detail geprüft. Wir bedauern, dass Sie die Abrechnung daher ausnahmsweise später als gewohnt erhalten.  Die Abrechnungswährung ist der Euro, der Zahlbetrag ist jedoch in der gültigen Transaktionswährung dargestellt. ....Wir danken Ihnen für die bisherige gute Zusammenarbeit und verbleiben mit der Bitte um Verständnis und besten Grüßen....

Grüße zurück. Wäre nur schön gewesen, der zu verrechnende Betrag hätte hintendran noch eine Null gehabt. So bleibt weiter nichts als die Einsicht, dass man vom Schreiben nicht leben kann. Es sei denn, ich begäbe mich in die Serienproduktion. 

10:37

Auch wenn er es tausendmal war, die Beweise, von denen Bush spricht und die laut Tony Blair unmissverständlich sind, müssen der Weltöffentlichkeit präsentiert werden. Es darf nicht der geringste Zweifel bleiben. Nur durch Offenlegung aller Tatsachen wäre ein Prozess in den Augen der Muslime dieser Welt ein gerechter Prozess. Alles andere wäre kontraproduktiv. 

14:07

Ist der Idealist ein Zwilling des Bösen?

 

14:44

Gestehe, dass man "Alles ist gut, gar nichts" ins Rhätoromanische übersetzt hat. Erhielt DM 27.-- anteiliges Lizenzhonorar. Na? Neidisch?

17:28

Im Westfälischen beginnt das Weihnachtsfest früh. Schon Ende August beginnen Mütter Lebkuchenherzen zu kaufen, verstecken Marzinbrote in Küchenschränken und Spekulatius unter Handtüchern. Für die Kinder ist das ein aufregendes Spiel. Und wenn dann Anfang September die ersten Nikoläuse in den Regalen stehen, leuchten die Augen der westfälischen Kleinen. In den Möbelhäusern an der Peripherie großer Städte hängt nun auch schon die Weihnachtsdekoration. Große Glocken aus Polyestergrün, darauf Schnee aus Styropor und Musik, die süßer nie klingt. So ist das in Westfalen, so ist das und nirgendwo sonst könnte es schöner sein. So friedvoll und voller Vorfreude. Mutter und Vater tun es wieder wie früher, so entspannt sind sie, so ausgelassen und irgendwie angesteckt vom westfälischen Frieden. Ja. 

21:04

Habe mich re-konstruiert. Der erste Satz lautet daher: Sehr geehrter Herr Mensing: Würde macht den Meister. 

 

2.10.01   7:53

Lautet der Schluss, den ich ziehen muss: Hut ab, Amerika? - Ich weiß nicht mehr. Ich kenne Amerika ein wenig, ich war in den 70igern acht Wochen dort, dann Anfang der 80iger noch einmal drei Wochen. Meine Kritik hat sich nie gegen die Menschen, immer gegen die Großmacht gerichtet. Aber was bleibt einer Großmacht? Sie muss entscheiden. - 

Die Hast, mit der Herr Schily täglich Pläne zur Ergreifung der Terroristen verkündet, lässt fürchten, dass er an Stelle Amerikas nicht so gelassen geblieben wäre. - 

Was also soll ich nun denken? - Ich war nie auf Seite des großen Amerika. Aber ich achte es neuerdings mehr. Meinen Plan  gebe ich dennoch nicht auf. 

Was sagt bin Laden?  

http://homepages.compuserve.de/Gnisnem.binladeninterview.htm

 

 

9:35

komm / tanz mit mir, bis unsere füße brennen / musik zum vollen mond trieb mich in diesen saal / kein dach wehrt kalte luft / und trotzdem / spür ich atemnot // komm ... tanz / vielleicht birgt ja der silberstreif am horizont / ein wenig wärme für uns überlebende // tanz wie du willst / nur / lass uns feuer legen / lauter singen / hierher / ihr tänzer / rettet uns und euch 

zu viel politik. 

verschwinde für eine weile. 

 

***

22:54 

Nein. Hut nicht ab.***

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