Hermann Mensing

Immer frei (mit den Ultras dabei)

Ein Ultra (Ultras dürfe man sie nicht nennen, sagt jemand, das fänden Ultras nicht angemessen, sie seien Gardisten) ein Gardist also muss unter Umständen früh aufstehen, wenn er seiner Lieblingsbeschäftigung nachgeht. Oft geschieht das an einem Sonntag, und vielleicht hat er Samstagabend gefeiert, wahrscheinlich sogar, es kann also mühsam werden. In der Regel ist er noch unter vierzig, aber er spürt schon, dass das Feiern ihm nicht mehr so leicht von der Hand geht, und wenn er schon Kinder hat, überlegt er natürlich, was er wann trinkt und/oder raucht. So eine Reise kann dauern.

Der Gardist wird also eine Reise tun, weil er immer, wenn seine Mannschaft auswärts spielt, eine Reise tut. Mit seiner Mannschaft ist das so eine Sache. Der Gardist liebt sie. Man könnte glauben, er liebe sie mehr als seine Freundin, aber wenn es hart auf hart kommt, wird die Freundin das letzte Wort behalten, sonst würde das mit den Männer und Frauen ja gar keinen Sinn ergeben.

Ob die Mannschaft ihn ebenso liebt, wie er sie, bleibt dahingestellt. Auch in der dritten Liga werden Gehälter gezahlt, und Gehälter haben selten mit Liebe zu tun, Verträge schon gar nicht. Der Gardist aber spricht gern von der Liebe zu seiner Mannschaft und er hat Rituale, ihr diese zu zeigen. Er gibt sich größte Mühe, Choreographien zu ersinnen, er näht, er klebt, er kopiert, er organisiert, er tackert und hängt auf. Er opfert Zeit. Viele Menschen sind beteiligt und das alles kostet Geld, aber das tut der Gardist gern. Die Mannschaft hingegen baut sich nach einem Spiel vor der Kurve der Gardisten, Ultras und Fans auf und applaudiert, aber reicht das schon?

Es ist also Sonntag, es geht gegen zehn und man hat Glück gehabt, man fährt nicht nach Sachsen, sondern ins Emsland. Der Bus ist ein Linienbus, übermäßiger Komfort ist nicht zu erwarten, ein Bordklo gibt es nicht, was bei zehn Kästen Bier und knapp vierzig Mitreisenden angebracht wäre. Alle kennen sich. Natürlich kennen sich alle. Alle kennen ihre Pappenheimer, einer ist einem näher, ein anderer ferner, aber alle eint ihre Mannschaft.

Dritte Liga, leider seit Jahren schon, eine Nervenzerreißprobe für jeden Gardist, denn die Mannschaft kriegt den Arsch einfach hinten und vorne nicht hoch. Wenn sie einmal kurzzeitig Morgenluft, sprich Aufstieg, wittert, kann man davon ausgehen, dass sie kurz darauf wieder verzagt. Im Augenblick sieht es noch schlechter aus, als sonst immer. Abstieg droht, aber der Gardist sagt, Liebe kenne keine Liga, er wird also zu ihr halten, und wenn er in Schwung kommt (was durchaus dauern kann), singt er "einmal Gardist, immer Gardist, was gibt es Schöneres, als Preußen Fan zu sein.

Wieso eigentlich Gardist? - Nun, wir reisen mit der Punzen Garde, und die Punze ist wahlweise ein Werkzeug zur Bearbeitung von Gold oder die Vulva einer Frau, einer Dirne eher. Punzen Garde also nennen sich diese jungen Männer, ausschließlich Männer, und ich bin ihr Gast.
Juristen, Kaufleute, Lehrer, Kindergärtner, Betriebswirte, Ingenieure, Handwerker, Veganer und Fleischesser, Linke und Rechte, alles da. Ob Frutarier dabei sind, weiß ich allerdings nicht. Ist der Neger an Bord, ruft der Bärtige, und jemand ruft ja. Draußen ziehen die Letzten noch einmal am Joint, denn drinnen wird nicht geraucht, drinnen kann man ja trinken. Auswärtsmöhre? fragt jemand und bietet mir geschälte Möhren an. Nein, Danke, Gebissträger, sage ich.

Kaum eine Viertelstunden unterwegs wird nach einer Pause gerufen. Sie wird gewährt, das frühe Bier muss nach schnellem Durchlauf durch die Nieren entsorgt werden, Sticker konkurrierender Fußballmannschaften müssen unter Umständen entfernt- und durch eigene ersetzt oder überklebt werden, es scheint da einen Beauftragten zu geben, der all diese selbstklebenden Werbemittel in seiner Tasche mitführt und freigiebig verteilt. Ich bekomme auch welche: Punzengarde Münster steht darauf, ein Siegel, das einem Polizeisiegel ähnelt, daneben: Wer dieses Siegel beschädigt, ablöst oder unkennlich macht oder den dadurch bewirkten Verschluss unwirksam werden lässt, macht sich nach §134StPG strafbar. Ich versiegele damit die Damen- und Herrentoilette. Die Gardisten urinieren lieber in die freie Natur, als in das nicht gut riechende Urinal. Man raucht noch eine Purpfeife. Komisch, wo die Gardisten doch die Hippies nicht sonderlich achten.

Es geht über die B70, und eh der Bus seine Bestimmung erreicht, werden zwei weitere Pausen gemacht. Jedesmal wird geraucht, getrunken, uriniert, Scherze fliegen hin und her, es geht dann und wann derb zu, aber herzlich. Beim letzten Stopp an der Stadtgrenze taucht ein Polizeiwagen auf, um den Bus mit Blaulicht vor das Stadion zu eskortieren.

Meppen hat ein ordentliches Stadion. Zehntausend Menschen passen hinein, sagt jemand, und heute sei es ausverkauft. Die Preußen haben ein an vielen Stellen nach wie vor marodes Stadion, und aus Gründen, die niemand so recht versteht, kann man sich nicht entschließen, das eine (Neubau) oder das andere (umfassende Renovierung) endlich in Angriff zu nehmen, wenngleich natürlich schon vieles besser ist als noch vor ein paar Jahren. Das vorherrschende Thema dieses Sonntages aber ist, dass der Verein sich gerade entschlossen hat, sich in eine KGaA zu verwandeln, also in eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, um, nehme ich an, Kapital zu aquirieren, denn auch die dritte Liga kostet Geld, und Geld, so der Tenor, schießt Tore. Das gefällt den Gardisten zu großen Teilen ganz und gar nicht. Einen Verein könnten sie lieben, eine KGaA nicht, finden sie.

Als alle ausgestiegen und schließlich unter den Augen vieler Polizisten in beeindruckenden Kampfuniformen im Stadion sind, als das Spiel angepfiffen wird und sich die Unterstützung für die eigene Mannschaft in Grenzen hält, raunt der Bärtige mir zu, es gäbe eine Art Boykott, mehr sage er nicht, aber ich schließe, dass das mit der Missbilligung der Umwandlung von Verein zur Gesellschaft bürgerlichen Rechts zu tun hat.

Zur Halbzeit liegen die Preußen 0:1 hinten, um die 75. Minute gibt es einen Elfmeter gegen sie, 0:2, und ich frage mich, wie eine Mannschaft, die die Räume zwischen den Sechzehnern über weite Strecken dominiert hat, so sang und klanglos verliert. Die Meppener Ultras springen zu Hunderten zum bum, bum, bum, bubumm einer Trommel auf der Stelle, die Preußenfans sind still.

Draußen wartet die Polizei, ich zähle über dreißig Mercedes Sprinter und mehrere Staffeln. Es sind auch Pólizistinnen dabei. Die werden gerne zur Deeskalation eingesetzt. Aber es bleibt ruhig, die Polizei regelt den Verkehr, und wenig später ist die Punzengarde auf dem Heimweg. Es geht mitten durch den Nachbarort Lingen, und als ich frage, warum, sagt jemand, wir bringen den Neger nach Hause. Fickt euch, ihr Fotzen, ruft der Neger, und alle singen, einmal Gardist ... Weiter geht es, wieder mit drei Pausen. Überm Land liegt feiner Abendnebel, die Situation der Mannschaft ist prekär, aber es bleibt ja noch Zeit, das Blatt zu wenden. Es wird dunkel. Morgen ist Montag. Im nächsten Spiel geht es gegen die Würzburger Kickers. Eines Tages fahren wir nach Mailand, um den SCP zu sehen, singt jemand. Träum weiter! ruft jemand anderes.


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