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Hermann Mensing

Verschiedene Zimmer Verschiedene Räume

 

Prelude:

Bei der Suche nach Definitionen stieß ich zwar auf eine mathematische und eine physikalische Definition des Raumes, nicht aber auf die eines Zimmers. Ob ein Raum zum Beispiel Fenster hat, war nicht zu erfahren. Auch, ob ein Zimmer Fenster haben muss, um Zimmer genannt zu werden, erfuhr ich nicht. Ich beschloss daher, einen physikalischen Raum nur dann Zimmer zu nennen, wenn er Fenster  hat. Hat er die, braucht er natürlich auch eine Tür. Was aber, wenn ein Raum keine Fenster, wohl aber eine Tür hat? Worüber sprechen wir dann? 

***


Zimmer s: Das altgerm. Substantiv mhd. zimber, ahd. zimbar
"Bau[holz]", mniederl. timmer "Baumaterial; Gebäude", engl. timber
"Bauholz", schwed. timmer "Bauholz" gehört zu der unter -ziemen
entwikkelten idg. Wurzel "dem[o]- "[zusammen]fügen, bauen". Es
bedeutete urspr. "Bauholz", woraus sich im Westgerm. die Bed.
"[Holz]gebäude" entwickelte. Auf das Dt. beschränkt ist die weitere
Bedeutungsentwicklung zu "Wohnraum" (15. Jh.) Das -b- in den mhd.,
ahd. und engl. Formen ist der leichteren Aussprache wegen
eingeschoben. Abl.: zimmern (mhd. zimbern, ahd. zimbron). Zus.:
Zimmermann (mhd. zimberman, ahd. zimbarman). 

 

Zimmer/Raum 1:  

Es geht um einen Raum, der einmal Fenster und Türen hatte, aber nie ein Zimmer war, jedenfalls keines in dem Sinne, in dem wir über Zimmer zu sprechen bereit wären. Es war ein Raum im Keller eines zweistöckigen Geschäftshauses. Das Haus war bombardiert worden und lag in Schutt und Asche. Der Raum, der kein Zimmer war, wenngleich er einst Türen und Fenster hatte, ist unter den Trümmern des Hauses zusammengesunken. Zwischen diesen Trümmern sind Hohlräume entstanden. In einem dieser Hohlräume (keine Tür, keine Fenster) liegt Tante Ä. Sie hatte sich zur Zeit des Angriffs im Keller aufgehalten. Sie hat kaum Platz, sich zu bewegen, ist aber unversehrt. Es ist dunkel. Und es ist gespenstisch ruhig. Sie weiß, was geschehen ist und hofft auf Rettung. Sie ruft. Irgendwann wird ihr geantwortet. Aber es dauert noch Stunden, eh man sie aus dieser Lage befreien kann.

 

Zimmer/Raum 2: 

Ich war fünfzehn, als ich es bezog. Mehr als ein Bett, ein Schrank, ein kleiner Tisch und ein Stuhl standen nicht drin. Vom Fenster konnte ich die vergitterten Zellenfenster des Gefängnisses im Amtsgericht sehen. Mit achtzehn zog ich in ein Zimmer unterm Dach. Tante Ä., die bis dahin im Geschäftshaushalt ihrer Schwester in dem Haus, in dem sie verschüttet - und das nach dem Krieg wieder aufgebaut worden war - gearbeitet hatte, zog jetzt zu uns. In mein ehemaliges Zimmer. Ein gusseiserner Ofen stand in der Ecke links gegenüber der Tür, die Verbindungstür zum Schlafzimmer meiner Eltern war mit einem olivgrün gestrichenen Schrank verstellt, ein Bett stand rechts neben der Tür, davor ein kleiner Tisch, zwei Cocktailsessel, ein Sofa, auf denen zwei Kissen thronten wie kleine Könige. In meiner Erinnerung ist in diesem Zimmer alles grün bis olivgrün. Und obwohl Tante Ä. in diesem Zimmer bis vor drei Jahren wohnte, hat sie es nie wirklich genutzt. Manchmal ging sie für ein Mittagsschläfchen nach oben, aber abends saß sie immer mit meinem Vater und meiner Mutter im Wohnzimmer, während ich oben unterm Dach laut Musik hörte.  

 

Zimmer/Raum 2.1:  

Es war auch das Zimmer, in dem K. sich die Pulsadern ritzte. Ein Signal, dass sie Unterdrückung und Gewalt nicht länger ertragen konnte. Der Hausarzt kam und spielte alles herunter. Sagte sinngemäß: "So ist das mit der Liebe manchmal." - Was hätte er sonst sagen sollen? Den Finger in die offenen Wunden einer familiären Katastrophe legen? - Nein. Er verklebte K.'s Wunden mit Heftpflaster und verabschiedete sich. Zurück bleibt dieses Bild: K. im Bett. Große Blutflecken auf der Bettwäsche. Verschämtes Wegsehen. Nicht verstehen. Schweigen. 

 

Zimmer/Raum 2.2: 

Letztes Jahr starb jemand in diesem Zimmer. Es war die Großmutter einer türkischen Familie, die in das Haus zog, nachdem meine Mutter und meine Tante ins Altenheim gezogen waren. Seit der vorletzten Jahrhundertwende hatten meine Großeltern und Eltern dort gewohnt.  

 

Zimmer/Raum 2.3: 

Wurde kopuliert? - Das entzieht sich meiner Kenntnis. Bei der allgemeinen Fortpflanzungsfreude der Menschen muss man jedoch davon ausgehen. Wer mit wem? - Das weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass während des Krieges bis in die frühen 50er Jahre ein ausgebombter Bäcker mit seiner Familie im ersten Stock wohnte. Das Zimmer war Teil ihrer Wohnung. Ich weiß, dass masturbiert wurde. Der Ausführende war ich selbst. Ich weiß auch, dass sich jemand fast 24 Stunden lang in regelmäßigen Abständen in einen neben das Bett gestellten Eimer erbrach. Das war Folge meines ersten und in dieser Intensität nie wiederholten Besäufnisses. Was in der Gegenwart in diesem Zimmer geschieht, weiß ich nicht. Meine Menschenkenntnis sagt jedoch, dass alles, was Menschen tun, auch in diesem Augenblick in diesem Zimmer geschieht. 

 

Zimmer/Raum 3:  

In diesem Zimmer ist Nacht. Zwei Lampen sind an und im Fernsehen läuft Trainspotting. Einer sitzt vorm Computer. Er ist aus der Stadt zurück. Er hat dort auf einer Session gespielt. Gut gemacht, haben sie zu ihm gesagt. Ich nehme an, nur aus diesem Grund hat er sein Zimmer verlassen, sich auf ein Rad gesetzt, ist gegen einen steifen Ostwind geradelt und hat einen SchankRAUM betreten. 

 

Zimmer/Raum 3.1: 

Fast ein ganzes Leben hat sich hier abgespielt. Es ist eine Bühne. Vater und Mutter betreten sie, als schon ein Kind auf der Welt ist. Kurz darauf kommt ein zweites hinzu. Auf- und ab treten verschiedene Tiere: Katzen meist, aber auch ein Meerschweinchen, ein Igel, ein Kaninchen und Vögel. Die Requisiteure haben während dieser Zeit alle Hände voll zu tun. Sie tragen Sofas hinein und wuchten sie abgenutzt wieder hinaus. Sie bauen Regale auf und ab. Sie postieren Stühle um einen Tisch. Sie diskutieren über den günstigsten Ort für den Tigersessel. So geht das jahrein und jahraus. Eigentlich gibt es nur einen Ort in diesem Zimmer, der in all den Jahren unverändert geblieben ist. Das ist die Ecke links unterm großen Fenster. Dort steht ein Verstärker, ein Kassettenrecorder, ein Radio, ein CD-Player und ein Plattenspieler. Noch eh überhaupt klar war, wie das Leben in diesem Zimmer dekoriert werden sollte, standen diese Geräte schon dort. Die Boxen wurden an der gegenüberliegenden Wand postiert. Dann wurde die Musik zur Installation ausgewählt, und die Requisiteure machten sich an die Arbeit. Man darf davon ausgehen, dass sie immer noch tätig sind. Seit ein paar Jahren hantieren sie gern mit Bildern und Skulpturen. Hängen und stellen sie um, als gäbe es einen Plan. Aber es gibt keinen. Alles wird augenblicklich entschieden. Alles kann augenblicklich vorbei sein. Das, finden seine Bewohner, ist wichtig zu wissen.

 

Zimmer/Raum 4: 

Dies ist ein Raum, in dem sich jeder schon einmal aufgehalten hat. Es gibt weder Türen noch Fenster. Dennoch findet jeder hinein und - wenn auch unter Mühen - wieder hinaus. In diesem Raum wird nicht gesprochen, nicht gegessen, nicht einmal getrunken. Es herrscht völlige Dunkelheit. Man schwebt. Man verändert sein Aussehen. Alles in allem ist dies ein Raum, in dem Märchenhaftes geschieht. Ungeheures. Ein heiliger Raum. Der erste, in dem man sich aufhält, und der erste, den man wieder verlässt. Viel später versuchen viele, in diesen Raum zurückzukehren. Leider gelang das noch nie.  

 

Zimmer/Raum 5: 

Wer hätte gedacht, dass wir so schnell von Raum zu Raum eilen. Schließlich liegt ein ganzes Leben zwischen dem vorigen und diesem. Ein Leben dauert so und so lange. Niemand erhält Garantien, aber wenn es endet, endet es immer hier. Auch dieser Raum hat weder Fenster noch Türen. Auch diesen Raum betritt man nicht aus eigener Kraft. Verlassen wird er schon gar nicht. An seinem Äußeren ist leicht zu erkennen, ob er von Armen oder Wohlhabenden bewohnt wird. Und noch etwas unterscheidet ihn von anderen Räumen. Man trägt ihn. Links und rechts sind Messinggriffe angebracht. Man trägt ihn von hier nach dort, wobei dort entweder ein Loch in der Erde oder ein Ofenloch ist. Wie auch immer, der Raum verschwindet darin und löst sich samt Inhalt nach langer oder kurzer Zeit auf. Wer hätte gedacht, dass Räume sich auflösen können? Man lernt eben nie aus. 

 

Zimmer/Raum 6: 

Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein.

 

Zimmer/Raum 7: 

Auch ein Zimmer, dessen Fenster zum Amtsgericht weist. Aber man muss sich strecken, um die vergitterten Zellenfenster zu sehen. Streckt man sich nicht, schaut man auf eine hohe, rote Ziegelmauer. Was man dahinter vermutet: Verbrecher, die  ein- zweimal pro Tag ihre Runden drehen. Es gibt eine Tür in dieser Mauer, ein hohe, graue Eisentür mit zwei Flügeln. Geöffnet hat sie noch nie jemand gesehen. In den fünfziger Jahren stand ein Ofen mit emaillierten Türen, einer Ofenplatte, aus der Ringe genommen werden konnten, um einen Topf der Glut aussetzen zu können, in diesem Zimmer. Rings um den Ofen verlief ein Handlauf. Später stand an seiner Stelle ein Gasherd. Die beiden Schränke waren uralt. Zweiteilig. Unten die Töpfe, oben die Teller. Ein Tisch in der Mitte, an dem jeder seinen Platz hatte. Stirnseite mit Blick zum Fenster: Vater. Links neben ihm: Mutter. Ihr gegenüber: Sohn. Dem Vater gegenüber : die Tochter. In der Ecke rechts neben dem Fenster eine Spüle. Später auch eine Waschmaschine. Dieses Zimmer war lange das einzig und ständig beheizte Zimmer im Haus. In diesem Zimmer fanden Kämpfe statt. In diesem Zimmer wurde geschrieen und krakelt. In diesem Zimmer flog ich aber auch auf den in die Höhe gereckten Füßen meines auf der Chaiselongue liegenden Vaters über den Atlantik nach Amerika. In diesem Zimmer hörte ich Sätze, die ich nie jemandem sagen werde. Dieses Zimmer war das Zentrum der Welt. Bis ich eines Tages eine Tasse Kaffee nahm und sie meiner Mutter entgegen schleuderte. 

 

Zimmer/Raum 8: 

Das Zimmer hatte eine Nummer. Es standen drei Betten darin, die Wände waren kalkweiß. Zwei Betten waren leer. Im dritten lag W., ein Mann um die fünfzig, schwachsinnig. Er arbeitete in der Küche des Krankenhauses, er fegte den Hof, er tat dies und tat das. Man kann sagen, er verzehrte sein Gnadenbrot. Und dann kam der Tag, an dem er vor ein Auto lief. Mir hatte man gesagt, ich solle mich zu ihm setzen, W. habe sonst niemanden mehr. Ich glaube nicht, dass er bei Bewusstsein war. Neben dem Kopfende seines Bettes stand ein Monitor, der die Herzfrequenz zeigte: eine auf- und absteigende Kurve. Das Zimmer war halbdunkel. Die Ruhe, die darüber lag, war mir unheimlich. W. atmete ruhig. Ich beobachtete abwechselnd ihn und den Monitor. Die Herzfrequenz-Kurve verflachte. Ich lief zur Stationsschwester. Sie sagte, ich solle mich nicht sorgen, er stürbe, ihm sei nicht mehr zu helfen, ich solle nur bei ihm bleiben. Das tat ich. Die Ruhe im Zimmer bekam etwas Unwirkliches, obwohl nichts wirklicher ist als der Tod. Aber dies war meine erste Begegnung mit ihm. Nach einer Weile gewöhnte ich mich. Und als W. gestorben war, fand ich, dass nichts an ihm erschreckend war. Ich verließ das Zimmer und sagte: "W. ist tot."

 

Zimmer/Raum 9:  

Wieso ist es so ruhig? Lauert Gefahr?

Zimmer/Raum 9.1: 

Kein Zutritt.  

Zimmer/Raum 9.2:  

Wir haben es uns überlegt. Wir gestatten Ihnen den Zutritt auf eigene Gefahr. Die handelnden Personen könnten Sie an Ihr Leben erinnern. Deshalb seien Sie vorsichtig. Betreten Sie das/die Zimmer, als lauerten dort wilde Tiere. Als hockten Dämonen auf Schränken, als tobten dort Stürme, die jeden davon wehen. 

 

Zimmer/Raum 10:  

Zwei liegen im Bett. Sie haben es gerade getan. Erstens, weil sie sich lieben, zweitens, weil dies die Stadt der Liebe ist. Das Bett hat gequietscht und geschwankt. Ein Wunder, dass es nicht zusammen gebrochen ist. Das Zimmer ist schäbig. Ein besseres konnten sie sich nicht leisten. Es riecht nach Katzenpisse. Durch das geöffnete Fenster hört man Schreie, Klatschen auf Fleisch, Schläge, splitterndes Holz und zerspringendes Glas. Die Geräusche kommen aus einem Kino, in dem nur Kung-Fu-Filme laufen. 

 

Zimmer/Raum 11:  

Frauenzimmer.

Zimmer/Raum 12:  

Herrenzimmer.

Zimmer/Raum 13: 

Ein Zimmer mit dieser Nummer gibt es nicht. Es handelt sich entweder um das Zimmer 12 a oder 14. 

 

Zimmer/Raum 14: 

Mein Zimmer ist klein. Es ist eher eine Höhle. In einer Nische habe ich meinen Altar aufgebaut. Ein Foto von C., eine Kerze, Räucherstäbchen, mein Tagebuch. Die Tür führt in einen Innenhof. Braunrotes Gemäuer, an dem weiße Rosen ranken. Ich wasche mich am Brunnen im Hof. Das Wasser ist eiskalt. Die Menschen sind bronzefarben. Manche kichern, wenn sie mich sehen.  

 

Zimmer/Raum 15:  

Man müsste schon fliegen, um hinzukommen. Man könnte auch mit dem Schiff übers Meer fahren. Auf jeden Fall muss man fort, weit weit fort. 

 

Zimmer/Raum 16: 

Als Ginger und ich zusammen zur Schule gingen, war sein Zimmer mit Slips tapeziert. Nicht, dass einer ihm abnahm, er habe all diese Trophäen erobert, aber gesehen haben musste man das. Die Slips waren bonbonfarben, manche hatte Rüschen. Zehn, fünfzehn waren es bestimmt. Dazwischen hatte er Kondome gepinnt. Verschiedene Sorten, wenngleich es damals  kaum Auswahl gab. Der Rest war voll mit Postern der Cream, Led Zeppelin, Cuby's Bluesband und....

 

Zimmer/Raum 17:  

Ein Premierenzimmer. Schmal. Ein Spülstein gleich links, ein Jugendbett, ein Schreibtisch, ein Regal, Bücher von Satre, Camus, Kafka, Schulbücher. Die vorherrschende Farbe: braun, beige. Das Zimmer in einem Bungalow. Die gleiche Farbe. Der Geruch: atemberaubend, denn hier wohnen drei Männer mit Schweißfuß und zwei Frauen. Eine von ihnen, die Mutter,  ist depressiv. Ich bin neunzehn und häufiger Gast. Aber aus der Premiere wird nichts. Der Spülstein, der eine stützende Rolle spielen soll, weigert sich und bricht ab, und so haben wir andere Dinge zu tun.   

 

Zimmer/Raum 18: 

Die Bühne ist gerichtet. Ein Raum für Illusionen mit Stellwänden, Requisiten und Licht. Das Stück heißt: Der Groß-Cophta. Goethe. Es geht um die höfische Gesellschaft und ihre Modeticks: Wunderheiler. In einer Szene sitzt die Gräfin Soundso nackt im Bade. Sie ist sehr attraktiv. Die Beleuchter (u. a. ich) und Bühnenarbeiter, sonst im Aufenthaltsraum mit Bier trinken und Skat spielen beschäftigt, stehen in der Gasse und versuchen den Anschein zu erwecken, gleich sei Umbau. Aber gleich ist kein Umbau. Gleich muss die Gräfin aus dem Bad steigen. Danach sind die Gassen wieder leer gefegt. 

 

Zimmer/Raum 19: 

Ein Fenster, eine Tür, ein Loch im Boden, darüber eine Porzellanschüssel. Das Fenster in einem Viertel eines halbrunden Türmchens, das sich ans Haus klammert wie eine verunglückte Umarmung. Das Fenster ist hoch überm Boden und klein. Aber man kann es schaffen. Man lehnt ein Fahrrad an die Wand, steigt auf den Sattel, hält sich mit dem rechten Arm am Fensterrahmen fest, schiebt ein Bein durch das Fenster, zieht den Unterkörper nach, bis man halbschräg in der Fensteröffnung hängt, versucht, mit der freien Hand das Rohr des Spülkastens zu fassen, zieht den Kopf ein und arbeitet sich langsam ins Innere dieses Raumes vor. Ein Bein hängt bei dieser akrobatischen Vorführung noch draußen, während der Fuß des anderen,  noch weit über der Porzellanschüssel schwebend, dennoch versucht, die Brille zu erreichen. Es reißt im Schritt, aber dann ist es geschafft. Man zieht das andere Bein nach, steht schließlich mit beiden Beinen auf der Brille und hofft, dass die Tür nicht von außen abgeschlossen ist. 

 

Zimmer/Raum 20: 

Ich gehe durch das Lager, folge einem dunklen Flur und stehe vor einer Tür. Ich öffne und trete ein. Ein rechteckiger großer Raum. Links, den Raum teilend, zweimal vier Schreibtische, die sich gegenüber stehen. In der hinteren Reihe ganz links der meines Feindes. Rechts von der Tür ein großer Ofen, den ich feuern muss. Hinter meinem Feind ein Fernschreiber. Sansevierien auf den Fensterbänken. Darunter zwei Schreibtische für die Damen. Ansonsten nur Männer in diesem Büro. Jeden Tag von früh bis spät Männer verschiedener Lebensalter. Ich bin der jüngste. Ich veranlasse, dass alle Anwesenden  den Raum verlassen. Mein Feind muss bleiben. Ich kette ihn an den Fernschreiber. Dann übergieße ich Akten und Schreibtische mit Benzin und zünde es an. Dann verlasse ich den Raum. Ich schaue zu, wie die Flammen auf das Lager übergreifen und das Gebäude bis auf die Grundmauern niederbrennt. Ich bin glücklich. Endlich ist er tot.  

 

Zimmer/Raum 21:  

Ein Bett nur, darin: SIE. Bettlägerig seit ihrem Sturz vor sieben Jahren. Blind. Fast taub. Klaglos. Das Bett ist hydraulisch. Die Hydraulik unterscheidet acht Stellungen. Neben ihrem Bett ein Nachttisch. Darauf eine sprechende Uhr, zwei Flaschen Pfirsichsaft, Vitaminbonbons, Creme. Auf der Fensterbank ein Radio und ein Telefon. An der Wand hinterm Kopfende des Bettes Fotos vom Vater, von der Mutter, von den Schwiegereltern, den Kindern und Enkeln. Die Wände sind weiß. Obwohl ich das Zimmer einmal pro Woche  betrete, weiß ich nicht, wie der Fußboden aussieht. (Manchmal graut mir vor meiner Unaufmerksamkeit.) Aus diesem Zimmer gibt es kein Entkommen. Hier wird SIE sterben. Ich hoffe, dass ich bei ihr bin. 

 

Zimmer/Raum 22:  

Man hat noch nichts gesagt. Vielleicht hat man noch nicht einmal zu denken begonnen, dennoch muss man sich stellen. Unausweichlich ist das, und jeden Tag wieder geschieht es, man steht sich Auge in Auge gegenüber und stellt sich entscheidende Fragen, die - wie jedes Mal - unbeantwortet bleiben. Dann putzt man sich die Zähne. Man wäscht sich Gesicht und Achseln. Man schaudert in den frühen Morgen, und wenn man glaubt, in seinen Betrachtungen schon ein wenig voran gekommen zu sein, wagt man einen zweiten Blick. - Ja. Man könnte glauben, es selbst zu sein. Man hat dieses Gesicht schon einmal gesehen. Bei längerem Nachdenken verdichten sich Gedankenfetzen zu Erinnerungen. Man ist schon länger in dieser Person anwesend, man erinnert sich sogar ihres Namens, aber man hat keinen Hinweis darauf, wie man hinein gekommen wäre. Man verlässt das Zimmer, um in einem anderen Kaffee zu trinken und sich mit Nachrichten aus aller Welt abzulenken. Morgen hat man den nächsten Versuch. Auch da wird man kaum weiter kommen.  

 

Zimmer/Raum 23:  

Endlich ein Raum der Kontemplation, eine "heilige Stätte der Abfuhr allen Übels", an der wir schon oft erlebten, dass sich seelische Konflikte mit - zugegeben - gewöhnungsbedürftigem Geruch - verflüchtigten. Was war geschehen? Wie kam es zu dieser Katharsis? - Wir können es uns kaum erklären, aber jeden Morgen pilgern wir demütig wieder hierher. Umgeben von Bildern heiliger Kühe und fliegender Schweine, bewacht von John Z., einer Zeichnung unseres jüngsten Sohnes M. und den Kopffüßlern unseres ältesten Sohnes J. brummen wir still unser Mantra, während anderen Orts andere Mantren explosionsartig den Morgen verschrecken.  

 

Zimmer/Raum 24: 

Aus gestampftem Lehm ist der Boden. Aus Lehm und Stroh sind die Wände. Das Dach ist rietgedeckt. Ein kleines Fenster, mit einem Leinensack verhängt, eine niedrige Tür. Ständiges Halbdunkel im Innern, eine offene Feuerstelle. Mein Zauberhaus. Wenn ich hinaus trete, sehe ich im Nordosten himmelhohe Berge. Dahinter ist China. Ich zaubere. Ich gehe hinunter zum See. Ich zaubere. Ich sitze im Bus und fahre dahin zurück, wo ich hergekommen bin. Ich zaubere. Aber mein Hut bleibt leer und das Kaninchen mag keine Möhren.   

 

Zimmer/Raum 25:  

Alle bisherigen Räumen hatten drei Dimensionen, deshalb zögere ich, diesen Raum zu beschreiben, denn er hat nur zwei. Und die sind auch nur dann belebt, wenn elektrischer Strom fließt und einen Videorekorder treibt. Wir sehen eine italienische Familie am Strand von Bergen an Zee im Jahr 1990. Gelangweilte Kinder im Alter zwischen fünf und zehn. Eine Frau, deren  Blicke sehnsüchtig über den Horizont schweifen und ein missmutig Kette rauchender Mann. Falls Sätze gesprochen werden, klingen sie ermüdet. Dann aber ein plötzlicher Wandel. Er macht eine Videokamera aufnahmebereit. Als alles eingestellt ist, gib er sie seiner Frau und beginnt mit den Kindern zu spielen, was diese zunächst nicht begreifen, dann aber mit aufgeheiterter Mine als willkommene Abwechslung begreifen. Sie filmt. Er ruft launige Sätze ins Objektiv. In den nächsten Minuten entwickelt sich fröhliches Treiben am Strand. Close-Ups wechseln mit Schwenks, man filmt, was das Zeug hält, dann aber sind die Aufnahmen abgeschlossen und die Familie fällt zurück in die bewegungs- und freudlose Starre des dreidimensionalen Raumes. 

 

Zimmer/Raum 26: 

Wenn ich mich recht erinnere, heißt der Platz Dhurbar Square. Er trennt das alte und neue Kathmandu. Und an einer Seite steht das Gefängnis. Ich hatte oft zu den vergitterten Fenstern hoch geschaut. Eines Tages sah ich, dass jemand winkte. Ich kannte ihn. Ich hatte ihn auf Sri Lanka gesehen. Er rief, ob ich ihm Papier und Zigaretten besorgen könne. Ich nickte. Ich kaufte, was er wollte und machte mich auf den Weg in dieses Gebäude. Gleich hinter der ersten Wache begann ein dunkler Traum. Es roch nach Urin und Unrat, die Wände waren fleckig, das Licht trüb und mich hätte nicht gewundert, Schreie zu hören. Ich erklärte einem Wachbeamten, was ich wollte. Er verwies mich in ein bestimmtes Büro. Ich ging hin und klopfte. Jemand bat mich herein. Zigarettenrauch. Gitter vorm Fenster. Ein Metallschreibtisch. Ein Stuhl. Ein Metallschrank. Alles schäbig und überall Aktenstapel. Ein Mann hinterm Schreibtisch. Klein, mit gefährlich verschlagenem Blick. Wieso war ich eigentlich in diese Höhle gekommen? Setzen, sagte der Mann. Nicht "setzten Sie sich". Mir wurde schlagartig klar, dass ich mich in seiner Gewalt befand, und er nicht zögern würde, nach Gutdünken mit mir umzugehen. Er verhörte mich. Das Schlimmste war, dass ich schwarzen Afghanen in der Tasche hatte. Hier kommst du  nicht wieder raus! dachte ich. 

 

Zimmer/Raum 27: 

Schon wieder so ein Raum, der die Definition dessen, worüber wir sprechen wollten, ein wenig sprengt. Sprachraum. Der Raum, in dem ich groß geworden bin. Der Raum, der zu meiner Kindheit noch durch die Insignien des einen und des anderen Staates voneinander geteilt war, wenngleich immer durchlässig und seit Schengen ohne jede Kontrolle zu betreten bzw. zu verlassen. Auf meiner Seite wurde Deutsch und Plattdeutsch gesprochen, auf der anderen Niederländisch und Twents. Das Plattdeutsche und das Twents gleichen sich sehr. Im Niederländischen und Deutschen gibt es jedoch - entgegen landläufiger Annahme - eine große Zahl verschiedener Worte und Wortstämme, was vielleicht damit zusammenhängt, dass die Niederlande schon früh eine seefahrende Nation war, die ihr Wesen (und Unwesen) in Übersee trieb. Ich wuchs zwischen all diesen Worten auf und begann früh, sie zu imitieren. Als ich fünfzehn, sechzehn war, gelang es mir schon, nach Übertreten der Grenze meine deutsche Haut abzulegen und die niederländische überzustreifen. Mir gefiel das. Es gab mehrere Gründe für diese Verwandlung, einer war, dass ich mich so meiner deutschen Vergangenheit entledigen konnte. Noch heute liebe ich diese Wechsel. Und gäbe es Wiedergeburten, ich dränge darauf, an einer Grenze geboren zu werden.   

 

Zimmer/Raum 28: 

Quadratisch im Grundriss. In der linken Ecke ein einfaches Klo. Rechts eine Liege. Daneben ein kleiner Tisch. Kein Fenster, stattdessen in gut vier Meter Höhe eine trübe Lichtquelle. Die Wände entnervend türkis abwaschbar. Eine Stahltür, die mit schwerem Schlüssel geöffnet werden kann. Zudem ist eine Klappe darin. Durch diese Klappe dürfen Sätze geworfen werden. Sätze wie: Wir sprachen über ein Stück und nicht über eine Serie. Wir sprachen über ein Hörspiel und nicht über eine getarnte Lesung. Ruft man zurück: mit drei Sätzen fange ich nicht an zu arbeiten, erhält man als Antwort: Ob Sie an die Arbeit gehen oder nicht ist Ihre Entscheidung. Und so sitzt man in diesem Raum. Man wird regelmäßig verpflegt. Man könnte gehen, wenn man wollte. Man hat sich das selbst ausgesucht. Man sitzt in diesem Raum und stößt Verwünschungen aus gegen die, die immer am längeren Hebel sitzen.  

 

Zimmer/Raum 29:  

Auch diesmal ein quadratischer Grundriss. Auch diesmal: kein Fenster. Die Farbe der Wände: durchscheinend blau, verwaschen. Zwei sich unter der Kuppel kreuzende Glasfiberstäbe halten die Konstruktion. Der Raum ist mobil. Bei einiger Übung benötigt man kaum mehr als fünfzehn Minuten, dann ist er errichtet und bezugsfertig. Innen und Außenwelt trennen nur die gewebten Wände. In einer ist ein Reißverschluss, der es ermöglicht, das Innere zu verlassen bzw. von Außen hinein zu gelangen. Ein häufig gehörtes Geräusch ist daher das Auf- und Ab solcher und ähnlicher Reißverschlüsse in ähnlichen Räumen der Nachbarschaft. Ich habe gern und oft in solchen Räumen übernachtet. Mir war die Nähe zur Außenwelt immer besonders lieb, wenngleich ich zugebe, dass es in stürmischen Nächten am Meer manches Mal unheimlich wurde. Ich denke an eine Nacht in Rotheneuf. Auf steinigem Grund über einer Bucht mit Blick auf St. Malo drückte der Wind die Kuppel wieder und wieder über die halbe Höhe nach unten, um ihr dann Gelegenheit zu geben, mit einem explosionsartigen Knall in ihre ursprüngliche Form zurückzukehren. In solchen Nächten ist Schlaf kaum möglich. In solchen Nächten wünscht man sich in Räume mit festen Wänden. Aber solche Nächte sind Ausnahmen. Sie gehen vorbei und mit einigem Glück spannt sich am Morgen ein freier Himmel über die Welt und versöhnt uns. Uns schmerzt das Kreuz, der schwedische Sturmkocher bereitet Wasser für Kaffee, man hockt da wie ein Indianer und lebt. Das ist schön. 

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