Oktober/November 2000           www.hermann-mensing.de     

mensing literatur

zum letzten Eintrag

So 8.10.00  11:42   (8.10.72 mexicali/mexico)

Alles ist zurück: das Rauschen der Autobahn, das mühsame Brüllen startender Flugzeuge, die Busse vorm Haus, ich bin zurück. Eine Woche war ich durchs Watt vom Festland getrennt, ein Scherenschnitt: Baumkuppen, Kirchen, Windkraftanlagen am Horizont, dann wieder fort,  das Meer in wechselnden Farben schluckt die andere Seite, vielleicht ist gar kein Festland mehr da, schön wäre das. Die Geräusche der Insel:  Brandung, Wind ums Haus, das Schreien der Möwen, oft beängstigende Stille, in die man fällt wie in ein Loch. Schlafen, tief schlafen, nicht mehr denken, auch nicht, wenn man erwacht. Stattdessen lieber spazieren gehen,  die feinen Gravuren im Sand lesen, dem Schlagen der Wellen zuhören am Meer früh um sieben, ein goldenes Meer, von der Sonne verrückt, auf dem Rad mit Rückenwind über Dünenpfade fliegen, aber dann, auf dem Rückweg, stehend in den Pedalen. Einen Tag, zwei Tage, drei Tage, vier Tage, fünf Tage, sechs Tage, sieben Tage. Das Nichtdenken funktioniert, aber nach dem dritten Tag schleicht das Festland sich wieder ein.  Hier bin ich, flüstert es, hier, du sollst an nichts anderes denken, jeden Tag, jede Stunde. - Und - geht es mir gut? Bin ich glücklich? Mache ich Fortschritte? - Dumme Fragen. - Ich wäre klug, könnte ich dumme Fragen beantworten. Sagen kann ich, was ich gesehen habe. Robben, hundert und mehr. Wolken von unfassbarer Schönheit, Schaumkronen, Eiderenten und Regenpfeifer.  In Sandwolken bin ich gelaufen, bei kräftigem Nordwind am Bornriff.  Bei Regen bin ich Rad gefahren. Bei Sonne bin ich Rad gefahren. Bei stockdunkler Nacht. Also. 

 

So 8.10.00  17:34

Im Briefkasten steckt die Post der vergangenen Woche. Ich weiß gleich, wer geschrieben hat, ich sehe es den Umschlägen an. Der Vertrag vom Sender? - Nein, Post für den großen Sohn. Für mich ist ein Verlagsvertrag gekommen. - Aha. - Und wie steht es mit  Nebenrechten? 20:20:60. Die beteiligten Partner sind der Verlag, der Illustrator und ich. Und nun rät man: für wen könnten die 60 Prozent sein? - Okay. - Schwierigere Frage: beharre ich auf einem Titel oder schlucke ich einen unkorrekten Kompromiss? - Keine  leichte Antwort. Nur der folgende Hinweis: der Roman kann nicht Das Haus in der Sackgasse 13 heißen. Die Sackgasse heißt nämlich nicht Sackgasse 13, sondern Sackgasse. In dieser Sackgasse gibt es daher  neben der Nummer 13 auch noch andere Häuser. Das Haus Sackgasse 13 wäre korrekt. Aber Sackgasse 13 bleibt unschlagbar. - Für dich doch auch, oder?  Also: schlucken wir? Einigen wir uns auf Das Haus Sackgasse 13, okay? - Gut. - Und sonst? Die Süddeutsche Klassenlotterie schleimt  mit maschinenlesbaren, exklusiv für mich hergestellten Scheckkarten für todsicheren Gewinn. Soll der Schlag sie treffen. - Und ich? - Und sonst? - Westfälischer Landregen, es ist frisch, mich fröstelt. Auf Ameland war es mild. Ich hätte gebadet, hatte aber meine Badehose vergessen. - Und nun? - Gleich gehen wir essen, morgen früh beginne ich mit dem Anfang vom Ende.  - Und dann? - Dann ist Weihnachten.   

 

So 8.10. 00  19:38

Wie wäre es, wenn jeder der 193 Menschen, die meine homepage seit dem 14. August 2000  angeklickt haben, mir gratulierte, mir versicherte, ich sei umwerfend komisch, überhaupt hätte er noch nie etwas derartiges gelesen. Das wäre schön, oder? - In diesem Sinne also, der erste Tag nach der Rückkehr ist immer die Schwierigste. 

 

Mo 9.10.00  9:00

flashback 7:montag 9.10.1972: mazatlan: mexiko

links und rechts von mir saßen soldaten mit aufgepflanzten bajonetten. ich konnte kein spanisch, sie kein englisch. sie wußten nichts über den grund meiner verhaftung, ich nichts über ihre motive. sie hatten immerhin vermutungen. sie fragten: marihuana??? - no, no marihuana. das nicht, nein, mit Sicherheit nicht, ich war doch nicht blöd. beunruhigend war aber, daß ich gehört hatte, daß mexikanische polizisten nicht zögerten, gringos dope unterzujubeln, um sie zu schröpfen. no, no marihuana. war es möglich, daß ich den schaffner genervt hatte? war der sitz, auf den ich meine sachen gehängt-  und den zu räumen ich mich geweigert hatte,  tatsächlich sein sitz, sein angestammter sitz auf der 30 stündigen reise von mexicali über mazatlan nach mexico city? wahrscheinlich! deshalb rächte er sich jetzt an mir!!! -  nur - sicher war ich mir nicht. die soldaten waren  plötzlich gekommen. hatten mich aufgefordert, aufzustehen und mitzukommen. sie eskortierten mich den langen weg von der klimatisierten touristenklasse in die vierte mit stinkenden  toiletten und drangvoller enge. gegen morgen tauchte der schaffner auf und sagte, ich sei wieder frei und  könne gehen. -  bruno und john wussten von anfang an, daß der schaffner mir eine lehre erteilen wollte und fanden es okay. sie fanden, ich wäre ein arsch. ich finde das jetzt auch. 

 

Di 10.10.00  00:54   (10.10. 72 mazatlan/mexico)

Aus Dortmund zurück. Im Jatz eröffnete das Christoph Eidens Quartett aus Köln: Vibraphon, Flügelhorn, Bass und Schlagzeug. Nach dem ersten Set war die Bühne frei zur offenen Session. Ich baute das Set um, weil ich Linkshänder bin. Sitze ich richtig? Ja, aber das Ride-Becken könnte ein wenig höher. Dann geht es los. Das Set klingt gut, aber da es nicht meins ist, muss ich mich erst daran gewöhnen. Für so etwas ist der Blue Bossa gerade richtig. Bei All the things you are wird es wärmer, heiß ist Green Dolphin Street. Und dann ist es auch schon wieder vorbei. Geile Time hast du, sagt der Vibraphonist. Und einer aus dem Publikum kommt und sagt, eigentlich fände er standards kacklangweilig, aber so..... 

 

Di 10.10.00  10:20 

Ich zählte bis drei, nahm meine Kraft zusammen und öffnete die Tür. Der Boden schien wellig, der Raum wirkte neblig, ich hörte ohne zu wissen, was ich hörte, aber ich hatte es zumindest geschafft, ich stand in der halb geöffneten Tür, blickte in den Raum und ich hatte das strahlendste Lachen der Welt.
Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht sah ich eher verschüchtert und ängstlich aus, denn von Hi! Ich bin Steff! fühlte ich nichts mehr. Es war eher so ein Gefühl von Hilfe, wo bin ich? Aber wie gesagt: genaues wußte ich nicht. (Grosse Liebe Nr. 1 - Seite 88)  

Di 10.10.00  13:46

Applaus, bitte. Sonst nichts. 

 

Mi 11.10.00 15:01   (11.10.72 mazatlan/mexico)

Ich träumte von einem Drachen. Er würde so groß, dass ich  mit ihm ins All fliegen konnte wie John Glenn. So groß, dass ich mit ihm kämpfen musste, der Wind gegen mich und ich gegen den Wind. Das Band war gut und fest. Ich legte Leisten über Kreuz, verband sie, kerbte die Enden, führte eine Schnur herum und bespannte alles mit Zeitungspapier. Meine Zungenspitze dirigierte jede Bewegung. Leim klebte auf der Tischdecke, überall lag Papier, ich schwitzte. Schließlich musste die Führungsschnur angebracht werden, wenn da der Winkel nicht stimmt, kippen Rautendrachen gern aus dem Wind. (...) "Alles klar?" W. nickte und hielt den Drachen  gegen den Wind. Ich lief rückwärts fort und wickelte dabei Band ab. Nach dreißig Metern hielt ich  an, gab W. ein Zeichen und begann zu rennen. Der Drachen stieg wie eine Rakete empor, das Band sang, ich  gab ihm Meter für Meter, bis alles Band abgerollt war. (...) Mit in den Nacken gelegten Köpfen standen W. und ich und staunten in den wolkengefleckten Himmel. Wie ein gebändigter Traum trieb dieser Vogel aus Holz und Papier hin und her.  (...) Plötzlich ein Ruck, der Drachen bäumte sich auf, ich rannte in seine Richtung, um ihn aus dem Wind zu nehmen, aber es war schon zu spät. Die Spannung war zu groß, das Band riss, der Drachen taumelte und verschwand mit dem Wind Richtung Umspannwerk. "Scheiße!" schrie ich. "Lass uns abhaun'", sagte W. "Komm, nix wie weg!" "Ja." Und dann rannten wir, rannten über die Wiese, sprangen über den Graben, rannten über das Feld, durch die Gärten nach Hause, gehetzt von der Vorstellung, dass es gleich einen  Blitz gab, einen gewaltigen Kurzschluss, der das Umspannwerk lahm legte.... (aus: Die Verheißung der Sonnenuntergänge in Arizona)

Mi 11.10.00  23:18

ein frohes LEBEN: ein rasenquadrat, ringsum westdeutsche platte mit blumenbalkons. links im bild: junge, zwölf, bandenführer. im schnittpunkt der diagonale des rasens: das opfer: acht. bandenführer jetzt PÄNG. opfer vornüber zu boden: zuckt. bandenführer zum schnittpunkt: tritt: opfer beisst gras. bandenführer und andere JUBELN. zu MITTAG ruft ein balkon. 

 

Do 12.10.00  9:01   (12.10.72 guadalajara/mexico)

Ab mit euch, nutzloses Gesindel, los, ins Netz, macht vorwärts, die wenigen warten, alle anderen sollen uns kreuzweise. 

 

Do 12.10.00  11:32

Ein strahlender Tag. Wenn man will, kann man bis in den Himmel sehen: es ist blau und Gott ist die weiße Wolke. Die Engel servieren heißen Kaffee. Ich schaukle am Mond und lasse mir die Füße salben. Hi sage ich, als jemand vorbei kommt. Hi! Er sieht aus, als wäre er zu früh aus den Federn gefallen. War das nicht Jesus? fragt jemand neben mir. Ich nicke. 

 

Do 12.10.00  18:41

Nobody knew,  who he was,  where he had come from nor what he was up to. Ich weiß es! Ich komme aus G. und will Geschichte machen. 

Abspann mit allgemeinem Gelächter.....

 

Do 12.10.00  22:30

1. der einfache Knall Donner 2. der stotternde oder Koller-Donner, in der Regel nach längerer Stille, verteilt sich über das ganze Tal und kann Minuten dauern 3. der Hall-Donner, schrill wie ein Hammerschlag auf ein loses Blech, das einen schwirrenden und flatternden Hall verbreitet, wobei der Hall lauter ist als der Schlag 4. der rollende oder Polter-Donner, vergleichsweise gemütlich, lässt an rollende Fässer denken, die gegeneinander poltern 5. der Pauken-Donner 6. der zischende oder Schotter-Donner beginnt mit einem Zischen, wie wenn ein Kipper eine Ladung von nassem Schotter ausschüttet, und endet dumpf 7. der Kegel-Donner; wie wenn ein Kegel, getroffen von der rollenden Kugel, auf andere Kegel schmettert und alle auseinander schleudert; es kommt zu einem kurzen Echo-Wirrwarr im Tal  8. der zögernde oder Kicher-Donner (ohne Blitzlicht im Fenster) zeigt an, dass das Gewitter sich über die Berge verzieht 9. der Spreng-Donner (unmittelbar nach dem Blitzlicht im Fenster) weckt nicht die Vorstellung von einem Zusammenprall harter Massen, im Gegenteil: eine ungeheure Masse wird entzwei gesprengt und stürzt nach beiden Seiten auseinander, wobei sie vielfach zertrümmert; danach regnet es in Güssen. (1)

 

Fr 13.10.00  8:59    (13.10.72 guadalajara/mexico)

I've got nothing to say, but it's okay, GOOD MORNING GOOD MORNING GOOD MORNING: Was  bleibt also an so einem Freitag, als auszubrechen, fort, mit links in die Welt, also los, wer zögert, hat schon verloren.

 

Fr 13.10.00  11:09

by the way: ich begrüße den 200 Besucher. 

Zweihundert in acht Wochen, das sind drei pro Tag. Nur wenige haben Spuren Spur hinterlassen. Nicht einer hat gesagt, ich war's. Na gut, okay, dass du es warst, weiß ich, aber die andern, wer waren die andern? -  

 

Fr 13.10.00  14:49

darüber lacht Mutti (93 Jahre alt, blind, seit sechs jahren bettlägerig): bei unserem besuch letzten mittwoch fragte sie, ob wir am bett säßen oder stünden? wir stehen, sagte ich. darauf sie: da könnt ihr mal sehn, wohin ich gekommen bin. nicht einmal stühle für gäste gibt's hier. - doch, gibt es schon, mutti, aber die sind teurer. was glaubst du, was es kostet, uralte omas wie dich anzuschauen. stehplätze konnten wir uns  gerade noch leisten, sage ich. darauf verzieht sich ihr zahnloser mund und sie lacht laut und lang. 

 

Sa 14.10.00  11:01   (14.10.72 chupalo/mexico)
 

Abs.: Verlag  Carl Ueberreuter  Betreff: Frankfurter Buchmesse2000 Sehr geehrte Damen und Herren, Herr Hermann Mensing ist Autor des Verlags Carl Ueberreuter.  Während der diesjährigen Buchmesse haben wir ihn für Besprechungen an unseren Stand eingeladen und möchten Sie bitten, ihm auch an Fachbesuchertagen den Zugang zur Messe zu ermöglichen. Mit freundlichen Grüßen  ... 

Beim nächsten Mal will ich eine stretchlimousine mit pool. An meinem Stand stehen Monitore, Besucher treten davor und sagen ihr Lieblingswort. Mikrophone nehmen es auf, ein Rechner digitalisiert sie, nun beginnt die Suche im Rechner und Sekunden darauf erscheint einer meiner Texte mit eben diesem Wort, ein Gedicht, eine Zeile Prosa. Auf allen Monitoren tanzen jetzt meine Worte. Der Betrachter hat nun die Wahl: tanzt er mit oder geht er? 

 

Sa 14.10.00  17:41  

Verließen die Wohnung bei Nebel, erreichten die Stadt bei strahlendem Sonnenschein. 

Und sonst?

Weiß jetzt, welches Lied gespielt wird, wenn ich tot bin. Stelle mir vor, wie sie da ergriffen sitzen, nur ich bin froh, und dann kommt In my life (I loved them all), die Beatles, natürlich. Amen, ihr Scheißer!!!

 

So 15.10.00  12:49  (15.10.72 guadalajara/mexico)

Die Musik zum grauen Sonntag: Skunk Anansie. Dazu schreit Karl, unser Wellensittich. Draußen schlagen Nachbarskinder auf Töpfe und Trommeln. -  Und sonst? - Hätte mir gestern fast diese sündhaft teure Hose gekauft. Ja, ja, die Kleiderfrage. Was zieht der Mann um die fünfzig an, wenn er zur Buchmesse fährt? Führt er eher den rustikalen Charme eines englischen Landadeligen vor,  kleidet er sich jung, oder wird es wieder so sein, dass er sich jeden Tag gut angezogen fühlt, nur an diesem einen Tag nicht, nur an diesem einen wichtigen Tag  passt ihm nichts, nur an diesem einen Tag fühlt er sich so oder verkleidet, nicht deckungsgleich mit dem Bild, das er von sich hat. Ja, so wird es wohl sein.

 

So 15.10.00  16:04

Gerade rief Peter D. an und sagte, er sei erfreut, meine Stimme zu hören, denn gestern habe er mit Hanne D., Liesel B. und B. zusammen gesessen, man habe über dieses und jenes geredet und plötzlich habe jemand gesagt, er habe gelesen, Hermann Mensing sei tot. - Nein, ist er nicht, sage ich, wenngleich ich seit gestern weiß, welches Lied die Trauerfeier zu meinen Ehren beenden wird. Ach, sagt P., ja? Ja, sage ich und nenne den Titel. P. war Bassist einer Beat-Band in den 60igern. Beatles, oder? fragt er nach. Ja, Rubber Soul, sage ich ein wenig enttäuscht, denn ich hatte gedacht, das wüsste er. 

 

So 15.10.00  18:27

Jemand, der für alles Verständnis hat, bringt es zu nichts.

 

So 15.10.00  21:32

Arbeiten ist nicht das Problem; arbeiten kann jeder! Die Schwierigkeit ist das Nichtstun!

 

So 15.10.00  22:28

Der Kampf um die Wirklichkeit ist der blutigste. Es fehlen (...) Männer, die es genießen, Verantwortung zu tragen; die die Schönheit der Materie Verantwortung erkannt haben: und zu handeln oder zu schweigen beginnen! So aber herrscht eine sentimentale Grammatik über dem Leben und gibt vor, human zu sein und ist längst bis in die feinsten Wendungen (...) um den Preis individueller Würde  vollkommen zersetzt von zynischen Notwendigkeiten. (2)

 

Mo 16.10.00  9:04    (16.10.72 mexico city)

Frankfurt a. M. 15.10. (ap/dpa) Mit einer Million Exemplaren Startauflage hat Sackgasse 13, der neue Roman von H. M. , wie schon seine Vorgänger, Sackgasse 10, Sackgasse 11 und 12, auch in Deutschland wieder alle Rekorde gebrochen. Das Buch wurde von hunderttausenden Kindern und Erwachsenen vielerorts schon in der Nacht zum Samstag mit Feiern, Lesungen und zauberhaften Veranstaltungen aller Art in Empfang genommen. Buchhändler in etlichen Städten berichteten von Menschenschlangen schon vor der vorverlegten Öffnung um sieben Uhr. 

 

Mo 16.10.00  14:14

Die Fahnen zur Sackgasse 13 Korrektur gelesen. Es ging mir wie damals beim Rowohlt Roman: obwohl er mir fremd schien, gelang es mir nicht, ihn zu lesen, wie ein Dritter ihn lesen könnte.  Leider ist das bei jedem meiner Texte so und daran wird sich wohl auch nichts ändern. Ich berühre mich nur, wenn ich an einem Text arbeite. Das fertige Buch tut mir nichts.  

 

Di 17.10.00  10:00   (17.10.72 mexico city)

Ausblicke am Schreibtisch: die Kanu-Tour, das Strichmännchen, Sonja Delauny, Hermann als Cowboy, Hermann und Jan 1981 in Schweden, die Dame, der Feininger, die Stadt Gronau als Plan,  Thomas stürzende Türme, der Meister in Margate, die Primo Levi Notiz, Marions Bild, Beeston Hill , Sol Lewitt mit Balken und Diagonalen, Wainer Vaccari hat mich gemalt, roter Berg, schwarzer Berg, Sonne, Mohnblumen überm Sofa zu Hause, der lange Mann, Chris Portrait, die Katze im Aquarium, Christian Lothspeichs Tuschezeichnung, unser Balkon in Zachloritika, Heiner Altenmeppens norddeutscher Himmel, Venedig, mit Kuh auf der Weide bei Lulworth Cove, Lands End, Bauer Love Joy, Canale Grande. Das alles macht Sinn im Betrachter.

 

Di 17.10.00  13:04

Donnerstag 19.10.00 12:14 Frankfurt HBF. 

Vielleicht wieder Nebel, der sich plötzlich lichtet, das Rheintal voll gleißendem Wasserdampf,  niemand außer mir, der nach draußen starrt, nichts verpassen will von dieser göttlichen Inszenierung, dann reißt es auf, blau leuchtet ein Tunnel ins All, dann ist da das Rheingau mit weiten Hängen und blendendem Sonnenschein. 

 

Mi 18.10.00  9:39  (18.10.72 mexico city)

Möglich, dass der Gedanke, rund um den Globus  lesbar zu sein, süchtig macht. Meine ersten Gedanken am Morgen kreisen oft um mein Netz-Tagebuch. Es gibt auch ein anderes Tagebuch. Es ist das 36. in Folge seit 1978.  In welchem ich mir näher bin, weiß ich nicht.  Am nächsten bin ich mir, wenn ich Schlagzeug spiele. Wortlos nah. Was immer mit Worten zu tun hat, ist manipulierbar. Worte kann man drehen und wenden. Worte kann man missbrauchen und einmal missbrauchte  Worte lange nicht mehr verwenden. Worte sind missverständlich, Worte drängeln und lassen sich von uns sprechen, eh wir ihnen die Erlaubnis gegeben haben, öffentlich zu werden. Einmal gesagt sind sie kaum zurückzunehmen, einmal gesagt machen sie sich auf eine Reise, die Zwietracht und Unfrieden verursacht. Wortlos wäre ich glücklicher. Aber als Süchtiger scheue  ich den Raum ohne Worte. Einem Süchtigen wie mir heizen sie schon beim Erwachen ein, und so bleibt mir nichts, als wieder und wieder ans Netz zu gehen und sie hinauszujagen. 

Und sonst? - 

Ich bin fest entschlossen, heute fünf Seiten zu schreiben, damit ich morgen sagen kann, die ersten hundert Seiten sind fertig. 

 

Mi 18.10.00  13:51

Wir sitzen beim Essen. Jan erzählt von einem Viva II Moderator, dem es gelungen sei, Nina Hagen aus einer Talkshow zu ekeln. Da soll er mal bloß aufpassen, irgendwann kriegt er das wieder, sage ich. Möglich, sagt Max. - Ich trinke Kaffee und bin froh, mit meinen Söhnen mittags in der Küche sitzen zu können. Die Arbeit heute früh ist fast wie von selbst gegangen. Ich pausiere auf Seite 100 bei Zeile 15, das heißt, mein Tagesziel ist erreicht. - Sag mal, fragt Jan, hast du auf deiner hompage eigentlich eine Presseseite? Nein, sage ich. Vielleicht nächstes Frühjahr, wenn der Roman erschienen ist. Au ja, sagt Jan, und dann nur so Sachen wie: Mensings Roman ist der letzte Dreck! (Der Spiegel); Nicht zum Aushalten! (Die Zeit); Das ist gar kein Buch! (FAZ); So ein Scheiß! (Bild Zeitung); Millionen fielen auf Schund herein!!! (Der Stern); usw. usw.  Wir kugelten uns vor Lachen. Es ist schön, Söhne zu haben. 

 

Fr 20.10.00  13:20   (20.10.72 acapulco/mexico)

waunst ma sogdsd wia i haß & i sog da was i waß & i sag da was i deng, aba siach des ned zu eng & es ged & es ged ned & es ged ned & es ged & es ged bis da die guakn in die nosn einisted & es ged so bis da ana in de gosch einitret & es ged so bis zum ged nicht mehr wauns nimma weidaged & es ged so ummanaunda dis daß daun was weidaged. (3)

 

Fr 20.10.00  14:05

Noch stecken alle Sätze in meiner Kehle. Nach der Rückkehr von der Buchmesse habe ich auf dem Sofa gelegen, die Attwenger CD gehört und versucht zu sortieren. Es war ein Tag unter Frauen. Es war ein erfolgreicher Tag. Aber als ich zum Bahnhof ging, musste ich singen, so unheimlich war mir die Stadt und das Spiel mit der Literatur.  Die Furcht kommt von ganz tief. Sie lacht mich aus, aber ich kann sie in Schach halten, ich kann ihr befehlen, ruhig zu sein. Soviel also erst einmal. Nachher werde ich ein Pfeifchen rauchen und mit Chris und Jan zum Konzert des Brodsky Quartetts fahren. Mal sehn, was der Kopf danach fordert...

 

Sa 21.10.00  11:01   (21.10.72 acapulco/mexico)

Ich weiß es wohl ich weiß es wohl, die Erde ist kein Blumenkohl.

 

Sa 21.10.00  16:58

Gottes Wort 1: Und Gott sprach: H. Mensing soll niemand gehören.  H. Mensing soll Freude haben an vielen Dingen, nur daran nicht. Und H. Mensing sprach: geht in Ordnung, Chef.  

 

Sa 21.10.00  23:04

Herr M., Sie waren auf der Buchmesse. Hat es Ihnen gefallen? Nein.  Aber man hört, dass Sie erfolgreich waren.  Stimmt.  Trotzdem hat es Ihnen nicht gefallen?   Nein.  Warum?  Weil ich ein Dichter bin. Hat man Sie schlecht behandelt?  Im Gegenteil. Aber Sie haben sich nicht wohl gefühlt? Nein. Wo fühlen Dichter sich wohl?  Ich weiß es nicht. Ich fühle mich zu Hause wohl. Nirgendwo sonst? Doch. Aber nicht auf Buchmessen. Stimmt es, dass Sie eitel sind? Sehr eitel.  Kann  man auf so einer Messe  nicht in Eitelkeit baden?  Natürlich, das habe ich auch getan. Hat Ihnen das keinen Spaß gemacht?  Doch, sehr.  Könnten Sie sich nicht vorstellen, täglich im Mittelpunkt zu stehen und sich zu genießen?  Ich kann mir alles vorstellen. Wenn Sie den Tag auf der Messer Revue passieren lassen, was hat ihnen am meisten gefallen? Das Schreiten auf den Personenförderbändern. Warum? Weil es ein fliegendes Schreiten ist. Raum greifend. Weil es wundervoll wäre, immer so unterwegs zu sein. Ich würde nie mehr etwas anderes tun wollen. Von ihrer Frau wissen wir, Sie hätten an diesem Tag viel geflirtet .Stimmt das?  Ja. Und ihre Frau nimmt das hin? Flirten ist schön. Flirten ist kein Verbrechen. Und ich habe nicht gelogen.  Herr M., Sie sind jetzt 51 Jahre alt. Haben Sie nicht manchmal das Gefühl, alt zu werden? Doch, jeden Tag. Und fürchten Sie nicht, sich lächerlich zu machen? Doch. Und womit? Mit schlechter Literatur. Was ist schlechte Literatur? Die meiste. Ihre nicht? Meine nicht. Das wissen Sie? Ich weiß gar nichts. 

 

So 22.10.00  17:45  (22.10.72 acapulco/mexico)

FR v. 21.10.00  "...die Vorschüsse für deutsche Autoren sind zur Zeit viel zu hoch, sagen alle und sind überfordert. Aber der Vorschuss hat das eigentliche Autorenhonorar ersetzt; danach wird selten etwas kommen...." Was sagen Sie dazu, Frau L.?

 

Mo 23.10.00  6:54  (23.10.72 acapulco/mexico)

Die A1 kreischt wie ein Schleifband. Ich lade TNT auf eine Karre und mache mich auf den Weg. Zum Knallen braucht es nicht viel: Zündkabel, ein wenig Zündelektronik, für jeden Bastler hier und da einzukaufen. Ich erreiche die Autobahn, krieche die Böschung hinab, installiere und zünde. Jetzt geht der Radau aber erst wirklich los. Sirenen, Martinshörner, Hubschrauber, den ganzen Vormittag geht das so, während sich der Verkehr auf Kilometer staut und sich giftgrau überm Land auskotzt. Was bleibt also anders als fortzugehen,  den Träumen zu folgen, wo immer sie mich auch hinführen. Guten Morgen bei diesem Lärm? 

 

Mo 23.10.00  9:05 

Festzuhalten bleibt: der Verkehr ist nicht zusammengebrochen. Die Welt steht nicht still. Und was sonst, heute in Deutschland um 9:09? - Ich will, dass die Sonne scheint. Ich will,  dass meine Wäsche schnell trocknet. Ich will, dass Kasia und Steff sich verstehen. Im übrigen schwirrt mir noch immer der Kopf. - Kann es denn sein, dass ich mit drei Veröffentlichungen in den nächsten zwei Jahren noch immer nichts weiß? Dumm bin wie ein Fisch??? -  Ja. Das kann sein. Und - wird sich das ändern? - Nein, nichts wird sich ändern. - Mein Magen revoltiert, die Welt überschlägt sich im Irrsinn, ich schreibe Geschichten. Das soll jemand verstehen.  

 

Mo 23.10.00  10:57

re: messe: ich staunte, als vati aus new york schrieb, dass die spitzen der höchsten häuser der stadt in den wolken verschwänden. ich war sieben jahre  und verstand plötzlich, was ein wolkenkratzer tut. freitag gegen 18:00 gab es in frankfurt ähnliches zu sehen. ein feuchtes gebrüll ringsum, alles in eile, nur ich nicht. ich versuchte, mich im gewühl zu verankern, um nicht fortzulaufen, nicht einer dieser panischen attacken nachzugeben,  die mich vor fünf jahren ohne vorwarnung dreimal überfallen hatten, so dass ich mein leben nur retten konnte, indem ich mich herum riss und fort rannte. als ob man weglaufen könnte!!! - im bahnhof  trank ich einen aquavit, danach war mir besser. der nächste zug, um nach hause zu kommen, verließ die stadt um 19:02: eine s-bahn bis mainz, umsteigen und weiter im ic nach essen, umsteigen: ankunft in muenster um 23:48. die s-bahn war rappelvoll. ich erkämpfe mir einen stehplatz im ersten waggon, lehnte mich an die stirnwand und hoffte, einer der  klappsitze rechts neben mir würde möglichst bald frei. dazwischen hockte eine junge frau. als in niederrath ein platz frei wurde, fragte ich sie: wie halten wir es jetzt, geht es nach schönheit oder nach alter? nach alter, sagte sie. ich setzte mich und erwiderte, daß ich schönheit klaglos akzeptiert hätte. dann eben schönheit und alter, schlug sie vor. in mainz stieg ich aus. beim einsteigen in den ic sah ich sie wieder. sie stand hinter mir. also reisen wir jetzt zusammen? fragte ich. sie nickte. und so saßen wir bis köln beieinander und redeten. sie zeigte mir buecher, wunderschöne kleine, selbst gebundene buecher. ein abc zu zeichnungen ihres dreijährigen sohnes. ein kochbuch auch. sie sagte, die resonanz auf der messe sei gut gewesen. du mont wäre interessiert. hak nach, riet ich. und dann machten wir ein geschäft: ich versprach, ihr ein hörspiel zu schicken. sie versprach mir eines dieser buecher. als sie in köln ausstieg, hatte ich mich gefangen. 

 

Mo 23.10. 00  20:13 

Dämliches aus dem Hause Men Sing: 1

Mein Friseur hat kleine Ohren, Tante Ente liebt das Licht Enten werden gern gegessen, den Friseur verspeist man nicht. 

(mehr davon)

 

Mo 23.10.00  22:44

Gottes Wort 2: Außerdem, sprach der Herr, sollst du drei Eier haben! - Drei??? 

 

Di 24.10.00  9:40  (24.10.72 acapulco/mexico)

Doktrin

Schlage die Trommel und fürchte dich nicht,/Und küsse die Marketenderin!/Das ist die ganze Wissenschaft,/Das ist der Bücher tiefster Sinn.//Trommle die Leute aus dem Schlaf,/Trommle Reveille mit Jugendkraft,/Marschiere trommelnd immer voran,/Das ist die ganze Wissenschaft.//Das ist die Hegelsche Philosophie,/Das ist der Bücher tiefster Sinn!/Ich hab sie begriffen, weil ich gescheit,/Und weil ich ein guter Tambour bin. (4) 

Di 24.10.00  18:03

Begann den Tag mit einem update, obgleich ich mir geschworen hatte, heute nichts dergleichen zu tun. Kopierte eine Cassette und erkundigte mich, zu welchen Themen Harald Schmidt für die Abendshow Beiträge sucht. Ein Thema: Die Holländer hätten ihre negative Haltung zu Deutschen geändert. Dazu schickte ich folgendes: Die Holländer grüßten uns neuerdings nicht mehr mit Heil Hitler, sondern schlügen nur noch die Hacken zusammen. Bis Mittag dann fröhliches Bügeln. E-Mails versendet. E-Mails empfangen. Seite 106 geladen und wieder verlassen. Nichts wirklich zustande gebracht. Den ersten Herbsttag mit gemischten Gefühlen verdrömmelt. Und morgen? Morgen zu Mutti. 

 

Di 24.10.00  23:15

flashback 8: 24.10.72  mexico: die straße von acapulco nach süden war eher eine piste durch kaum bewohntes land. rechts der pazifik, links die aufsteigenden berge. keine namen für die vegetation, bis auf die großen kakteen. später dann palmen. hütten hier und da. dichtes unterholz. als es schon dunkel ist, erreichen wir einen fluss, den rio verde. es gibt eine fähre, aber die fährleute sagen, dass sie niemanden mehr auf die andere seite bringen. erst morgen wieder. sie sagen, wir könnten auf dem platt gewalzten, rostroten boden neben ihrer hütte schlafen. john und bruno rollen ihre schlafsäcke aus, kriechen hinein und schlafen schon. ich starre in den fremden tiefen himmel, ich denke fremde, beängstigende gedanken und über allem taumelt mariachi-musik. schmetterndes blech über dunklen palmwipfeln, die ganze nacht, gekrönt von meiner furcht vor kriechenden ungeheuern. gegen sechs hupt am anderen ufer ein lkw. die fährleute werden lebendig. wir rollen unsere sachen zusammen und sind schon auf dem boot. der lkw bringt uns nach puerto escondido.

 

Mi 25.10.00  8:39    (25.10.72 puerto escondido/mexico)

Machen Sie sich keine Hoffnungen: RTL 6.30 Guten Morgen 7.00 Unter uns 7.30 Guten Zeiten schlechten Zeiten 8.00 Hör mal, wer da hämmert! 9.00 Punkt 9.30 Living Single 10.00 Meine Hochzeit 10.30 Morning Show 11.30 Familien Duell 12.00 Punkt Zwölf 20.15 Fußball Champions League 1. Runde 5. Spieltag Vorberichte 20.45 Fußball Champions League Live Bayer 04 Leverkusen - Spartak Moskau 1. Halbzeit 21.30 Halbzeitanalye 21.45 Zweite Halbzeit 22.35 Highlights 22.50 Fußball Cahmpions League: Zusammenfassung der zweit13.00 Die Oliver Geissen Show 14.00 Bärbel Schäfer 15.00 Hans Meiser 16.00 Hör mal, wer da hämmert! 17.00 Die Nanny 17.30 Unter uns 18.00 Regional 18.30 Exklusiv Magazin 18.45 RTL akutell 19.10 Explosiv Magazin 19.40 Gute Zeiten, schlechte Zeiten en Begegnung 0.00 Nachtjournal 0.10 Fußball Championsleague Highlights 0.30 Elfen 1.00 Living Single 1.30 Die Larry Sanders Show 2.00 Die Oliver Geissen Show 2.50 Nachtjournal 3.00 Champions League 3.20 Bärbel Schäfer (und was mach ich bis 6.30 verdammt???)

 

Do 26.10.00  00:05   (26.10.72 puerto escondido/mexico)

Die Welt ist schlecht 1: 

Am 14.6.00 beendete ich ein Hörspiel. Es war die vierte, die  endgültige Fassung. Der Redakteur war zufrieden, ich war zufrieden, unsere Zusammenarbeit war angenehm verlaufen. Der Vertrag werde nun auf den Weg gebracht, hieß es, aber das könne dauern. Ja, ja, sagte ich. Ich rechnete mit sechs Wochen. Das war die Regel. - Vor vierzehn Tagen wurde mir das Warten  zu bunt und ich sandte dem Redakteur eine Mail.

wenn du es nicht wärst, mit dem ich das Hörspiel gemacht hätte (schrieb ich),  ich bekäme langsam Zweifel, dass es tatsächlich einen Vertrag gibt. Kann man diesen Menschen bei Honorare und Lizenzen nicht mal effektiv auf die Füße treten. Ich habe kein monatliches Einkommen, ich lebe von den Miesen, also bitte, G., tu das für mich (obwohl du's ja wahrscheinlich längst getan hast).
Schönen Gruß vom angesäuerten Hermann, aber das gilt denen, nicht dir

G. erwiderte, er sei sowieso morgen in K. und  werde sich darum kümmern. Heute nun, vier Monate nach Beendigung  des Hörspiels, erhielt ich meinen Vertrag. Mit einer Klausel, in der ich dem Sender alle Rechte für die Nutzung des Werks  in Datenbanken (inkl. CDI und CD-Rom, in rundfunkähnlichen Kommunikationseinrichtungen und in Online-Diensten abtreten soll. Diese Nutzung sei durch die vereinbarte Vergütung abgegolten. Eine Vergütung,  die 7% unter der verabredeten Summe lag. Ich dachte, mich tritt ein Pferd und mailte dem Redakteur. 

Guten Tag G., (schrieb ich)
heute habe ich den Vertrag  bekommen.
Zwei Dinge muss  ich mit dir besprechen.
Zunächst den  Passus, mit dem ich die Rechte für Internet-Nutzung abtrete (ohne Vergütung).
Ich werde den streichen, denn ich sehe nicht ein, warum  ich Rechte einfach aus der Hand geben soll.
Das nächste ist die vereinbarte Vergütung. Du hattest doch von DM .... gesprochen. Im Vertrag stehen aber nur DM ......
Ja, und noch etwas, G., nach Rücksprache mit Herrn K. von der Abteilung Honorare und Lizenzen werde ich dem Vertrag einen Passus hinzufügen, aus dem hervorgeht, dass die Rechte für die Verwertung des Manuskriptes durch die BBC bei mir bleiben. Ich bitte dich, kurz anzurufen oder zu mailen, damit wir das klären können.
Tschüss
Hermann
 
Ich erhielt folgende Antwort:
Lieber Hermann,

jetzt ist es langsam gut:
Selbstverständlich habe ich .... DM vorgeschlagen, der Chef hat es reduziert. Dein Hörspiel wird nach vorsichtigen Schätzungen kaum länger als 45 min., das bedeutet, dass nach Positionsziffer 1.2119 ein Maximalhonorar von ..... DM gezahlt werden kann.
Du erinnerst mich daran, niemals wieder Honorarhöhen auch nur anzudeuten.

Mit der Verweigerung der Internet-Verwendung beraubst Du Dich und uns der Möglichkeit, dass Hörproben über das Netz gehen. Das ist schade, weil wir dann weniger PR übers web machen können.

Schließlich solltest Du Dich im eigenen Interesse informieren, ob die Weitergabe der Nutzungsrechte an andere Anstalten einen neuen Vertrag erforderlich macht. Selbstverständlich würdest Du als Autor Dein Geld auch bekommen, wenn die BBC eine Übernahme vom ...  machen würde - ich betreue zur Zeit drei ehemals englischsprachige Produktionen, die in der BBC gelaufen sind. Das muss also auch andersrum funktionieren. Mich in diesem Fall anzurufen oder um eine Reaktion zu bitten, hat leider nicht viel Sinn. Dafür ist die HOLI zuständig, ich hänge mich da jetzt nicht mehr rein und wünsche viel Erfolg.

Schade finde ich, dass am Ende immer das auf der Strecke bleibt, was mir am wichtigsten ist: eine kreative, harmonische Zusammenarbeit.
Bei der Produktion werde ich dann besser auch meine Rechte in Anspruch nehmen.

Hach Gottchen. Redakteure sind so verletzlich....

 

Ich schrieb:

Dass ich die Internet-Nutzung streiche, hat damit zu tun, dass man mir bei Honorare und Lizenzen dazu geraten hat. Ebenso ist es mit dem Hinzufügen eines Passus für die England Rechte. Auch dazu hat man mir bei Honorare und Lizenzen geraten. Und dass ich danach frage, wo die ... Mark sind, die ich mehr erwartet hatte, ist doch erlaubt, oder? -

Also G., ich bitte dich, nichts bleibt auf der Strecke, jedenfalls nichts, was mich anlangt.
Ich habe gern mit dir gearbeitet und ich hoffe auch, dass das für die Zukunft so bleibt.
Also,  schönen Abend noch.... Hermann ....und wenn Sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute....

Do 26.10.00  8:54 


Gottes Wort 3: Hermann, sprach der Herr, Hermann, die Welt hat den Verstand verloren, aber mach dir nichts draus, deine Verdauung ist gut, was willst du mehr....



26.10.00  10:46
 

Grosse Liebe Nr. 1  Kapitel 17 Seite 107
Ich dachte, jeder müsse es sehen, ich dachte, jeder würde es riechen, ich dachte, jeder müsse es hören, weil meine Stimme noch von diesem Zauber gefangen war, aber sie sagten nur „hi Steff!“ oder ähnliches, und irgendwie war ich auch froh, denn wenn sie gefragt hätten, was mit mir los wäre, hätte ich bestimmt nicht die Wahrheit gesagt.
Auch dir nicht, Tobi! Kasia hatte die Blockhütte um fünf nach acht wie vom Teufel gehetzt verlassen. Ich war ihr zehn Minuten später gefolgt und zum Kulturhaus gegangen. Und nun saß ich da vor einem Riesenteller Fassolka, furzte glücklich (die Bohnen, Leute, ich brauche nur eine Bohne zu essen, schon geht das los), und der Jam Club wurde langsam voller und voller. Kasia und ich hatten uns auf morgen früh am Schilfufer des Sees verabredet. Sie würde, hatte sie gesagt, wie gewöhnlich zur Arbeit gehen, aber gegen zehn sagen, dass sie Bauchschmerzen habe. Ihren Chef kenne sie gut, der ließe sie gehen, außerdem sei morgen sowieso ihr letzter Tag. Ich hatte auf heute abend gedrängt, irgendwie heute abend, und sie hatte gesagt, verlass dich lieber nicht darauf.



Do 26.10.00  13:41

Mittagessen für Max bei Seite 109. - Was es denn sein soll? Uitsmijter, sagt er. Mit Schinken oder Salami? - Salami. - Eine Scheibe Brot oder zwei? - Zwei. - Mit oder ohne Butter? - Mit! sagt er. Ich mache mich an die Arbeit.

Fr 27.10.00  9:43     (27.10.72 puerto escondido/mexico)

Splattermovie 1: 

Ich weiß nicht, warum mein Kopf dröhnt,  ich weiß nicht, wessen Geld auf dem Tisch liegt, ich weiß nicht, wer es dort hingelegt hat, ich weiß nicht, wieviel es ist, ich weiß nicht, was ich damit tun soll, ich weiß nicht, wer dabei gewesen ist, ich weiß nicht, woher der Dreck an meiner Hose stammt, ich weiß nicht, was das für eine Wunde an meinem linken Bein ist, ich weiß nicht, ob geschossen wurde, ich weiß nicht, ob ich getroffen habe, ich weiß nicht... 
(mehr davon? - scrollen...)

 

Fr 27.10.00  11:59

Steff und Kasia haben nicht mehr viel Zeit.
Es ist Montagabend. Mittwochfrüh wird Kasia in Urlaub fahren.
Ob sie heute abend noch einmal kommt, ist fraglich. -              
Was könnte Steff tun, um sie zu sehen? - Soll er um ihr Haus streichen, Steinchen gegen Fenster werfen, von denen er nicht weiß, wer dahinter wohnt? - Ich weiß es nicht. - Das Ende einer Geschichte ist immer schwierig. Vielleicht brummt mir deshalb der Schädel. Chris sagt, auf keinen Fall dürfe Steff nach seiner Rückkehr etwas mit Marie anfangen. - Da stimme ich mit ihr überein. Marie wird Steff zwar vom Bahnhof abholen und so tun, als wäre nichts gewesen, aber Steff wird sie links liegen lassen. Soviel ist immerhin klar. Der Rest liegt im Dunkel. - Aber war es nicht so, dass vor 109 Seiten alles, was jetzt festgezurrt ist,  auch im Dunkeln lag? - Ja. - Also, Herr M., machen Sie einen Spaziergang, atmen Sie durch, warten Sie, bis Sie wieder klar sehen. Vielleicht reicht es ja für eine Seite heute. Niemand treibt Sie. - By the way: if you have an idea, how the story could continue, please give me a call.  

Fr 27.10.00  15:15  

Grosse Liebe Nr. 1   Seite 110-111

Ich tanzte noch ein bisschen, aber langsam fing ich wieder an, blöde Sachen zu denken. Etwa, dass Montag war und Kasia Mittwoch wegfuhr und dass sie gesagt hatte, ich solle mich lieber nicht darauf verlassen, dass sie heute noch kommt. Komm lieber Gott, schick sie her, dachte ich. Er sagte, es täte ihm leid, das müsste ich selbst hinkriegen, er hätte alle Hände voll zu tun. Okay, sagte ich, aber wie? Steff, du bist doch nicht blöd, oder? Nein. Na also, halt die Augen auf, dann fällt dir schon was ein.
Kasia kam nicht, aber so gegen zehn sah ich ihren Vater. Und da klickte es. Danke, sagte ich und er lächelte nur.
Eine Viertelstunde später stand ich vor Kasias Haus. Es war dunkel. Noch vom letzten Mal bildete ich mir ein, zu wissen, wo Kasias Zimmer war, und so begann ich, mit kleinen Steinchen zu werfen. –
Nichts. Zunächst nichts, dann aber plötzliches Licht, so dass mir gerade noch Zeit blieb, hinter einen Busch zu springen. Dann öffnete sich das Fenster und ein Schwall polnischer Worte ergoss sich in die Dunkelheit. Zum Glück verstand ich sie nicht, aber es zischte ganz gehörig, so dass ich dachte, wenn ihr Vater schon gefährlich ist, wie gefährlich ist dann erst ihre Mutter. –
Das war doch ihre Mutter, oder? –
Oder war das das falsche Haus? – Ach du Scheiße! - Vielleicht war es das falsche Haus! –
Ich hörte, wie die Frau etwas ins Zimmer rief und dann erschien er. Das heißt, wenn er es gewesen wäre, hätte ich ihn erkannt, ich wusste ja, wie Kasias Vater aussah, aber er war es nicht. Der da im Fenster erschien und in die Dunkelheit hinausstarrte, war glatzköpfig und schon ziemlich alt, und ich wette, er hätte mir den Hals umgedreht, wenn er mich zu fassen gekriegt hätte.
Und was für einen Aufstand er veranstaltete. Brüllte in die Nacht, als wäre Gott weiß was passiert. Brüllte so laut, dass ich dachte, jetzt kommt gleich Polizei. Ich hockte da wie ein Idiot hinterm Busch. Es wurde Zeit, zu verschwinden, denn dieser Glatzkopf da oben war entweder betrunken oder geisteskrank oder beides zusammen, ich sah schon, wie sie mich einkreisten und verhafteten, ich hörte, dass die Hunde der Nachbarschaft zu bellen begannen, aber dann wurde das Fenster wieder geschlossen und das Licht dahinter verlosch.
Ich atmete auf, aber begriff nicht, dass ich mich so vertan hatte. Emil hatte mir doch erklärt, in welchem Haus Kasia wohnt.
„Es ist das vorletzte der Strasse zum See“, hatte er gesagt, und er hatte Recht, denn als ich weiterging, stellte ich fest, dass das vermeintlich zweitletzte Haus das drittletzte war, denn in Richtung See waren noch zwei Häuser, von denen eines ein wenig zurückgesetzt war, so dass man hätte man hätte glauben können, dass es gar nicht mehr zu dieser Strasse gehört. Ja. Das musste es sein. Hinter zwei Fenstern war sogar noch Licht, hinter einem im Erdgeschoss und hinter einem im ersten Stock. –  

Fr 27.10.00  20:18

Splattermovie 2:

Also gut, ich weiß, woher das Geld stammt. Ich weiß, wie diese Flecken auf meine Hose gekommen sind. Ich weiß, wer geschossen hat. Aber bitte, bitte sagen Sie es nicht weiter. Ich war's und der andere ist jetzt tot. Es hätte auch umgekehrt enden können. Dass es ist, wie es ist, macht mich froh, denn mein Leben ist mir lieber als jedes andere. Sie hätte das Geld nicht verteidigen müssen. Es war ja nicht ihr Geld. Sie war dumm. Sie war einfach zu dumm. 

 

Fr 27.10.00  22:47

Splattermovie 3:

Es ist ziemlich viel. Ich könnte mir davon zehn neue Autos kaufen. Es würde für einige Zeit reichen. Aber eh ich das tue, habe ich noch etwas anderes zu erledigen. Ich war nämlich nicht allein. Und es wird nicht lange dauern, bis derjenige, mit dem ich zusammen war, kommt, um sich seinen Teil zu holen. Ich fürchte, das wird ihm nicht gut bekommen. Schade. Eigentlich waren wir lange Zeit Freunde.  

 

Sa 28.10.00  10:00    (28.10.72 puerto escondido/mexico)

Beim Frühstück eine alte Dylan Cassette in den Recorder gelegt. Bei Sad old lady of the lowlands bricht die Musik plötzlich ab, jemand pfeift, dann sind Stimmen zu hören: Stimmen aus unserer Vergangenheit. Ich erkenne mich, Max, der etwas zwei- zweieinhalb Jahre alt sein muß,  Jan, der gerade eingeschult worden ist, ein- oder zweimal spricht Chris. Wir sitzen mit großen Ohren und hören uns zu. Ich weiß nicht, wie diese Aufnahme zustande gekommen ist, aber sie berührt uns sehr. Max Kinderlachen, Jans Freude, als ich sage, wir würden Federball spielen, diese unverhoffte Zeitreise an einem grauen Samstagmorgen. Wundervoll. 

 

Sa 28.10.00  16:43

Splattermovie 4:

Als er kam, wartete ich nicht lange. Ich öffnete die Tür, er trat ein, ich schloss die Tür hinter ihm und schoss. Es war ein Schuss ins Genick. Er lag da gleich mausetot und ich trug ihn  ins Bad, schnitt seine Halsschlagader auf und hängte ihn zum Ausbluten mit dem Kopf nach unten an die Heizungsrohre, die unter der Decke entlang liefen. Dass wir soviel Blut in uns haben, wußte ich nicht. 

 

So 29.10.00  8:53  (29.10.72 puerto escondido/mexico)

hallo liebe depressive, hier ist sie wieder, eure sendung zur selbstentleibung, euer ultimatives magazin mit kleinen tipps, veranstaltungshinweisen, anleitungen. - heute beschäftigen wir uns mit dem plötzlich auftretenden gefühl völliger wertlosigkeit, mit der sie begleitenden furcht, jeden augenblick die kontrolle zu verlieren, mit dem gefühl des verlorenseins, mit der allgemeinen desorientierung und dem weltekel, insgeheim also mit der innigen hoffnung, alles möge still sein, auf der stelle still sein, nichts und niemand solle sich zu nichts und niemand je noch äußern, mit der sehnsucht  also (paradoxerweise begleitet von panischer furcht) nach dem lebensende. - nun, liebe depressive, dies ist eine geradezu klassischer fall depressiver verstimmung, der man im besten falle mit dem tod begegnet, frei gewählt, gut inszeniert, ein fall für den profi. wer es allerdings vorzieht, dennoch weiterzuleben, kann, wie gestern bei unserem langjährigen freund xy geschehen, mit seiner frau einen spaziergang machen, sich versichern lassen, man werde das schon in den griff bekommen, wer sei denn nicht verloren etc. pp. und sich dann mit dem vorschlag konfrontiert sehen, man solle doch vier wochen samt laptop und drucker verschwinden, ein häuschen irgendwo mieten, ja, und dann fühlen, dass sich die unruhe ein wenig legt; zu Hause trinkt man dann auf diesen rat ein, zwei gläser  heiße milch mit honig und schon geht es aufwärts. abends ist man dann schon wieder in der lage, mit  freunden essen zu gehen, sich ein wenig zu betrinken und die misere des lebens zumindest zeitweise zu vergessen. am tag darauf hat man schon ein wenig mehr distanz gewonnen. man beginnt wieder pläne zu schmieden. man träumt.

 

So 29.10.00  17:45

Gottes Wort 4: Der Herr sprach: Hermann. - Ja? - Ach nichts. 

 

Mo 30.10.00  10:11  (29.10.72 oaxaca/mexico)

Guten Morgen. Der Wind zerrt nicht nur an den Blättern.  Aber keine Angst, Rettung naht. Mails aus aller Herren Länder versichern uns, dass wir trotz fortschreitender Verkalkung weitermachen müssen. - Nein, keine Mails? - Kein Zuspruch? - Au Scheiße. 

 

Mo 30.10.00  11:38

samstagmittag auf dem jahrmarkt der eitelkeiten: ich betrete die galerie S. in m. seit ich dort bilder gekauft habe, lädt man mich regelmäßig zu vernissagen. S. steht gleich hinterm eingang, neben ihm ein endfünfziger mit blauem anzug, papageienkrawatte und grauen pferdeschwanz. kräftige statur, bauerngesicht. "darf ich vorstellen, herr m., schriftsteller, professor ...." wir schütteln uns lange die hand. ich schaue mich um und sehe mit wachskreise gestrichelte quadrate, wieder und wieder übermalt, an den rändern ausfasernd. sie erinnern mich an ausgestochenen rasen. das sage ich und sofort wird der professor hellhörig. so könne man das heute doch nicht mehr sehen, sagt er, und S., der galerist, will mir weismachen, es handele sich bei diesen bildern um kraftfelder, die sich dem kognitiven zugriff entzögen, auch mit dem bauch nicht zu entschlüsseln seien, sondern auf das herz zielten. aha!  S. ist ein meister aberwitziger erklärungen, er redet jeden schwindlig, und ich hatte schon immer den verdacht, dass er selbst nicht versteht, was er sagt. ja, ja, sage ich. dem professor, der mich ein wenig mitleidig anschaut,  entgegne ich, ich wisse nicht, was man nicht könne, aber ich sähe nun mal rasenquadrate. rasenquadrate. rasenquadrate. zack hab ich es wieder einmal hingekriegt: das richtige zur falschen zeit am falschen ort gesagt. prächtig mensing. i dance a bit while i commit my social suicide.... 

 

Mo 30.10.00 12:19

Zuspruch die Menge, wer hätte das gedacht. Folgendes hat sich ereignet. Mein im Frühjahr bei Ueberreuter in Wien erscheinender Gruselroman (rather: gothic novel) hieß in der Urfassung Sackgasse 13. Darüber bestand Konsens, bis plötzlich neue Direktiven kamen, und ich gefragt wurde, ob ich mit Das Haus in der Sackgasse 13 leben könne. Ich sagte nein, denn das impliziere, daß die Sackgasse  Sackgasse 13 hieße, was ja nicht stimme und schlug Das Haus Sackgasse 13 vor. Darüber erzielten wir Einigung, wenngleich G. und ich Sackgasse 13 lieber gesehen hätten. Am Samstag nun war Vertreterkonferenz, und siehe da, die Vertreter fanden das Buch äußerst gelungen, sie fanden, man solle Leseexemplare drucken, was nicht bei jeder Neuerscheinungen der Saison vorkommt, und sie fanden, man solle den Titel ändern. Und nun darf man raten. - Ja, das Buch heißt jetzt Sackgasse 13.  

 

Mo 30.10.00  12:46

Neuesten Berichten zufolge hat sich die Stunde, die bei der Zeitumstellung in der Nacht vom Samstag auf den Sonntag aus der Zeit geworfen wurde, unterm Bett bei dem Schriftsteller M.  versteckt. Wie er uns vertraulich mitteilte, wolle sie dort bis zum Frühjahr bleiben. M.'s Aufforderung, so nicht mit sich umspringen zu lassen, sich zu wehren, zurückzuschlagen, indem sie zum Beispiel Flug- und Fahrpläne ein wenig aufmische, wies sie zurück. Nein, sie wolle sich einfach erholen, sie habe die Nase voll von der drängenden Unverschämt der tausendstel- und hunderstel Sekunden,  sie verachte die Regelmäßigkeit und die Treue, mit der jede Sekunde sich der Minute unterwerfe, ihr werde regelrecht schlecht, wenn sie nur daran dächte, wie katzbuckelig die Minuten sich im Stundentakt aufreihten wie kopflos gedrillte Soldaten. Nun gut, sagte M., dann bleib, aber stör nicht. Nein, sagte sie. Im Gegenteil. Solltest du mich mal brauchen, bin ich gern für dich da.

 

Mo 30.10.00  13:13

Freude? - Ja. Aber wie Freude äußern? - Mit geballter Faust und verzerrtem Gesicht? - Mit Luftsprüngen? (Ja, schon eher.) Mit Trommeln auf der Brust wie ein Primat? - Vielleicht mit einem Essen für die Familie? - Montag ist Ruhetag!!! - Stimmt. Also folgt nun ein Versuch stiller Freude. 

 

Di 31.10.00  7:48   (31.10.72 oaxaca/mexico)

Hier bin ich, hier, vor meinen Gedanken. Der Sturm hat sich ausgetobt, der ein oder andere Baum ist schon kahl, alles ist, wie es sein soll, nur mir ist unheimlich. Vor meine Gedanken haben sich Zweifel getürmt. Vor meinen Gedanken bin ich einsamer als vorher. (O jeee!!!) Alle sind da. Alle sind mit mir. Alle sagen: ja, wunderbar. Und? sage ich. - Nun, wir schlagen ein Frühstück vor. Wir schlagen vor, bei heißem Kaffee zunächst gegen jeden Einwand in den Tag zu pendeln. Dann eins nach dem anderen zu tun. Wäsche waschen, bügeln etc., all die Dinge, die so beruhigend normal sind, vielleicht danach einen Spaziergang zu unternehmen, vielleicht....Und dann mit Kasia, Steff und dem schwarzen Hund hinaus auf den See, den letzten gemeinsamen Tag verbringen, den Schmerz des Abschieds erspüren, ein paar Seiten noch, dann ist es vorbei. Ich hasse es, Geschichten zu beenden. Als wären Geschichten je vorüber. Als ginge alles einmal vorbei. Nichts ist vorüber. Nichts geht vorbei. Alles wird aufbewahrt und manchmal genügt noch nach Jahren ein Wort, ein Fetzen Musik, ein Geruch, schon ist alles wieder lebendig. Also, Herr M., was immer auch vor ihren Gedanken geistert, wir wünschen ihnen einen angenehmen Tag. Danke. 

 

Di 31.10.00  13:52

Wundervollerweise fügt sich dieser Tag meinen Wünschen: ich tue gar nichts, ich meine, nicht, dass ich nichts täte, nein, ich habe schon dies und das getan, aber mein Herz tut überhaupt nichts, es hat sich für heute Urlaub genommen, es wird sich verwöhnen, es wird nachher (so gegen Abend) einen Whisky trinken, den Glückwunsch Whisky, den Chris mir gestern geschenkt hat, vielleicht lässt es sich sogar zu zweien hinreißen, das weiß es noch nicht, es wird einfach stille sein, auf den Roman scheißen, den es beenden muss, heute und morgen, denn morgen ist Feiertag, und da werden Chris und ich nach Enschede fahren, ein wenig Holland schnuppern, Fritten essen, durch jedes Geschäft stöbern, nachmittags Mutti besuchen, die alte großartige Dame, die einfach keinerlei Lust zeigt, dieses Leben gegen den Tod auszutauschen. Bis dahin bleibe ich Euer verwirrter (ziemlich abgebrühter) Euer furchtsamer (ziemlich mutiger) Euer hinterletzter Idiot in Fragen der Lebensführung, Euer aller Liebling (Arschloch Arschloch Arschloch). Fuck u too, asshole. bye bye. 

 

Di 31.10.00  19:57

waunst da denkst ja wo samma wei du kunst jo a trame & es kunnt a so sei & du büdst do des nua ei. i waß es afoch nimma wia weid daß mia jiatzt san weu afoch diese idiotn wieda leid umbringa dan. du waßt as ned wos hasdn & du frogsd di afoch wosn daß sie diese idiotn afoch leid umbringa lossn. 4 wen den & 4 wosn & wos isn & wos hodsn. wos woin denn diese rotzn & es is wieda so weid: sie daschlong afach de leid. & du kriagst a so an hossn & du waßt as ned 4 wosn & des mittn auf da schtraßn wo sie diese idiotn so a wahnsinn afoch iagendwöche leid umbringa lossn. du mochst da in die hosn & jiatzt samma glei so weid, wo ma olle des so gwond san nua des duan was uns grad gfreid. do weama aba narrisch wei des is hiatzt nimma drin wei sie schteign jetzt aufs gas & eana gas des mocht di hin & du waßt as ned jo wosn & wos isn & wos hodsn daß sie diese idiotn afoch mittn auf da schtroßn so a wahnsinn afoch iagendwöche leid umbringa lossn. (5) 

 

November 2000

Mi 1.11.00  10:14   (1.11.72 oaxaca/mexico)

Und was sagt man? - ??? - Entschuldigung Hermann. - Und was sagst du dann? - Ist in Ordnung, sag ich.  - Entschuldigung Hermann. - Ist in Ordnung. 

 

Do 2.11.00  11:06   (2.11.72 oaxaca/mexico)

Ich bin am See. Kasia ist da. Der schwarze Hund auch. Jetzt gilt es, zum Ende zu kommen. Romantisch, aber nicht kitschig. Nah an der Wirklichkeit und weit genug von ihr entfernt, damit  Platz für eigene Träume bleibt. Das ist der Stand der Dinge.  

 

Do 2.11.00  13:09  

Splattermovie 5: 

Wie er da so hing, bleich und von jedem Leben verlassen, tat er mir Leid, aber gleichzeitig war mir klar, dass er jetzt ein größeres Problem für mich war, als vorher. Wie würde ich ihn beseitigen? Ihn schreddern? In kleine Stücke sägen und im Keller schreddern?  - Gut. - Komm, stell dich nicht so an, sagte ich.

 

Do 2.11.00  17:11

Splattermovie 6:

Aber dann kam mir der Gedanke, ihn falsch zusammen zu setzen. Ich breitete Zeitungen aus und begann. Den Torso (unterm Brustbein horizontal geteilt und dann noch mal vertikal, also geviertelt) ließ ich, wie er war, obwohl es mich juckte, auch ihn zu verändern. Ich gestattete mir nur zwei kleine Veränderungen: ich vertauschte das linke und rechte Bein und legte den Kopf unter seinen rechten Arm. 

 

Fr 3.11.00  8:44    (3.11.72 tapachula/mexico)

Attentat überschattet Ringen um Frieden // NPD als Gefahr für Verfassung eingestuft // Mensing ringt mit dem Ende // Berlin hält Soldaten für UN bereit // Fischer begrüßt Aufnahme Jugoslawiens in die UN //  Bombenanschlag kurz vor Besuch Aznars in Barcelona // Bundesregierung entwirft ein Bild von der sozialen Spaltung //

 

Fr 3.11.00  11:23

Grosse Liebe Nummer Eins   Seite 115... 

Ich pfiff. – Kasia pfiff zurück. – Der schwarze Hund stand auf. „Setz dich“, sagte ich, aber er gehorchte mir nicht. Er lief Kasia entgegen, ich hörte Kasias Stimme, sie sprach mit dem Hund und der Hund antwortete ihr und dann kamen beide schon auf mich zu. Der schwarze Hund legte sich links neben mich, Kasia setzte sich auf die andere Seite. Und küsste mich. Legte ihre Arme um meinen Hals und küsste mich. Wo ich doch so ein miserabler Küsser war, und ehrlich gesagt das Küssen doch erst hier begonnen hatte. Wo ich doch von Tuten und Blasen nicht die geringste Ahnung hatte. Aber offensichtlich zählte das jetzt nicht mehr. Kasia wußte viel besser als ich, was zu tun war, und als ich sie fragte, ob sie schon mal einen Freund gehabt hätte, hielt sie mir die Hand auf den Mund und schmiegte sich noch dichter an mich. Und so saßen wir da. Sahen den Mond und als Sternschnuppen fielen, wünschten wir uns was. Verraten darf man seinen Wunsch ja auf keinen Fall, aber ich wette, daß Kasia sich das gleiche wünschte wie ich. Und irgendwann sagte sie, sie müsse jetzt gehen, sie müsse zu Hause sein, eh ihr Vater vom Kulturhaus zurück sei. Als ich sagte, bitte, nur noch fünf Minuten, sagte sie, nein, nein, nein, Steff, es ist schon so spät. Ich wollte sagen, aber es ist doch erst elf oder so, aber als ich auf meine Uhr schaute, war es halb eins.  

 

Fr 3.11.00  15:51

Seite 118 Page 118 Pagina 118

 

Fr 3.11.00  17:43   (3.11.72 malacatan/guatemala)

Seite 120 Page 120 Pagina 120

 

Sa 4.11.00  16:29   (4.11.72 malacatan/guatemala)

Zurück aus Dortmund. Wollten uns im Museum am Ostwall eine Jörg Immendorf Ausstellung anschauen. Im Zugcafé   setzten wir uns zu einem etwa Sechzigjährigen mit Pferdegebiss und Brille. Chris holte Kaffee. Kaum zurück, schaut der Mann auf und sagt: Stehen sich zehn nackte Männer und zehn nackte Frauen gegenüber. Wie spät ist es dann? - Fünf vor sechs, sage ich.  Ä-ä, sagt er, zehn vor zehn und lacht wie Kermit - chhh chhhh chhhhhh. Hat eine Kuh Geburtstag. Einen Tag vorher springt sie schon rum wie verrückt. Was machst du? fragen die andern Kühe. Du hast doch erst morgen Geburtstag? - Ich schlage schon mal die Sahne! sagt sie. Chhh chhhh chhhhh. Geht einer in den Zoo. Fragt ihn jemand, wie lang ist der Schwanz eines Tigers? Siebzig, achtzig oder neunzig Zentimeter? - Siebzig! - Dann kannst du mich Tiger nennen. Chhh chhhh chhhhhh. - Steigt eine Frau in den Flieger nach Mallorca: blond, Friseuse, 27 Jahre alt, ziemliche Titten. Setzt sich in die erste Klasse. Die Stewardess kommt und sagt, sie dürfen hier nicht sitzen, sie müssen nach hinten, in die Touristenklasse. Die Blondine rührt sich nicht vom Fleck. Kommt die Stewardess noch mal, sagt das gleiche, wieder rührt sich die Blondine nicht vom Fleck. Geht die Stewardess zum Kapitän und erzählt ihm von der Blondine. Der geht zu der Blondine und flüstert ihr was ins Ohr. Die Blondine steht auf und geht in die Touristenklasse. Was haben Sie ihr gesagt, fragt die Stewardess. Dass die erste Klasse nicht nach Mallorca fliegt. - chhhh chhhh chhhhhhh. - Als der Mann in Davensberg aussteigt, sagt er, wenn wir mal wieder die Strecke führen, würde er uns wieder Witze erzählen. - Aber der beste Witz kommt jetzt: die Immendorf Ausstellung war schon seit vierzehn Tagen vorbei. 

 

Sa 4.11.00  21:52

Noch einer: Fährt ein Mann zur Tankstelle, steigt aus, dreht den Tankdeckel seines Autos ab und pinkelt rein. Kommt ein anderer und sagt, ist das normal? - Nein. Super. - Man kann sich jetzt vielleicht vorstellen, dass wir das  bis Dortmund nicht durchgehalten hätten. 

 

So 5.11.00  9:06   (5.11.72 esquitla/guatemala)

Ich weiß den letzten Satz. Aber bis dahin werden noch ein paar Seiten vergehen. 

In Tagträumen übersetze ich Sackgasse 13 in die wichtigsten Sprachen der Welt. So weit ich es überblicke, funktioniert der Titel überall gleich. Ja, es ist aufregend. Ich war lange nicht mehr so unruhig. Vieles kann sich verändern, alles kann geschehen, schön wäre eine etwas gesichertere finanzielle Basis. What a day for a daydream.... Die kleinen Träume sind die ganz großen Träume und umgekehrt. 

 

So 5.11.00  17:48

Was das für ein Privileg sei,  so arbeiten zu können, eine Tasse Tee zu trinken, um dann zu sehen, ob es heute geht. Davon könne sie nur träumen. Sie sei die ganze letzte Woche in Holland unterwegs gewesen, hier und dort, und immer sei es um Verpackungen gegangen, Verpackungen in der und in der Farbe mit dem und dem Aufdruck. Ja. Grandios wäre das, mal so arbeiten zu können. Ich solle das genießen. Und ihr Sohn höre von früh bis spät die CD, die ich geschickt hätte. Genial! Und angenommen ich käme dann mal nach A., ich sei herzlich willkommen.

 

So 5.11.00  18:00

Den Horizont zeichnen gepflügte Felder und frische Wintergerste. Der Horizont schwingt in sanftem Bogen, der mit der nächsten Welle weiter fort treibt, bis ein Buchenwald sich rot, braun, selbst auf große Entfernung leuchtend, ins Bild drängt, dann eine Straße, auf der bunte Autos sich jagen. Der Wind ist frisch. An einem Hof werden wir von einer schwarzweißen Katze begrüßt. Bis ins Dorf geht es bergab. Dort gibt es Kaffee zu heißem Apfelstrudel mit Vanillesauce und Zimteis.  

 

So 5.11.00 19:57

Den Ton finden. Den Ton, den der Alltag schreibt, aber darüber hinausreicht. Den Ton, der mir Dinge zeigt, von denen ich vorher nichts wusste. Den Ton, der die Sprache wahrt und erweitert. Den Ton, der mich wärmt. Den Ton, den ich mit niemandem teilen muss. Den Ton, der vor keiner Geschichte zurückschreckt. Den Ton, der himmelhoch ist und betrübt. Den Ton, den ich nicht denken kann, sondern erwarten muss, jeden Tag. Den Ton, der mich jeden Tag heimsucht. Deshalb diese Mühe.  

 

So 5.11.00  20:43

flashback 9:  5.11.72 esquitla: guatemala. am tag vorher hatten wir die grenze überquert. der mexicanische grenzposten im norden des flusstals, der guatemaltekische im süden. bei den mexicanern zogen wir unsere saubersten sachen an, klatschten unsere haare dicht an den kopf und liefen los. bis zum talgrund die blicke der mexikaner im nacken, dann die der guatemalteken von vorn. oben angekommen warteten wir eine weile, bis die zöllner sich mit uns beschäftigten. sie sind feindlich. sie hassen uns, weil sie denken, dass wir amerikaner sind. erst, nachdem sie unsere pässe gesehen haben, werden sie zugänglicher. das land ringsum: urwald, auf den einmal pro tag ein tropengewitter niedergeht. dennoch kein regenwald: hochlandwald, wenig unterholz, dichtes blätterdach, gellendes schreien von vögeln unbekannter natur. 35 grad celsius. wir nehmen einen bus in die nächste stadt. unterwegs straßensperren, militärs mit umgehängten maschinenpistolen. es geht gegen die guerilla, gegen das volk. fünf stunden schaukelt der bus uns durch das land. die, die keine maschinenpistolen tragen, tragen macheten. ist es denn so gefährlich hier? in equintla mieten wir ein kahles zimmer mit drei bettgestellen. wasser ist im hof. geschissen  wird in ein loch. hinterm haus geht der wald los. weil wir mutige hippies sind, hängen wir unsere pentax, minoltas und prakticas um und dringen in diese wildnis vor. nach etwa dreißig metern, auf denen wir uns wie idioten benehmen, kommen wir an einen bach, in dem frauen türkisfarbene, rote und blaue plastikschüsseln spülen.  

 

Mo 6.11.00  4:55  (6.11.72 esquitla/guatemala)

Gottes Wort 5: Und der Herr sprach, Hermann, du sollst Sachen träumen, dass dir die Haare zu Berge stehen, deine Fußnägel hochklappen und deine Haut aschfahl wird. Und Hermann sprach: Um diese Zeit? 

 

Di 7.11.00  9:09  (7.11.72 san salvador/el salvador)

Splattermovie 7: Einmachgläser??? - Nein.  - Dosen, diese Dosen, die man selbst zuschweißen kann??? - Nein! Ich musste mir schon etwas besseres einfallen lassen.  

 

Di 7.11.00  13:00

Der Himmel überm Haus, hoch überm Haus, nicht nur einen Steinwurf hoch, sondern hoch hoch hoch, ist voll kreisender Wildgänse. Hundert oder noch mehr. Schreiend. Grosse Vögel, die, wenn ich sie mir durchs Fernglas anschauen, fast Hälse wie Störche haben. Sie kreisen, als warteten sie, und als sie ihre Kreise schließlich auflösen in Formationen, die südwestlich davonfliegen, sehe ich Nachzügler kommen, und als die überm Haus sind, sind die anderen auf und davon. Ja. Sie haben gewartet. Sie wollten beisammen bleiben. (8.11.00 Notiz der WN: Ihre trompetenartigen Rufe sind kaum zu überhören: Auf dem Weg in ihre Winterquartiere haben gestern mehrere Kranich Schwärme das Münsterland überquert. Laut Biologischer Station Rieselfelder in Münster befinden sich die Tiere auf dem Weg von Mecklenburg Vorpommern nach Spanien. Allein die Mitarbeiter der Biologischen Station hätten "um die Tausend der anmutigen Vögel" beobachtet. ) 27.11.00  Nein. Das mit dem Warten war zu romantisierend. Sie suchten Thermik, das war der Grund für ihr Kreisen. 

 

Di 7.11.00  14:10  (7.11.72 porto triumfo/el salvador)

Seit heute früh habe ich nur gelesen. Ich war mir gestern nicht sicher, ob ich nicht mehr vom workshop hätte erzählen müssen, aber ich glaube, es reicht. Ich mag die Geschichte. Ich finde, sie ist mir gelungen. Ja.  

 

Di 7.11.00  14:47

Dämliches aus dem Hause Men - Sing 2:

lass dich nicht von schweinen beißen, dir nicht auf die mütze scheißen, lass die dicken berge fressen und die dünnen bretter messen, oft ist es auch umgekehrt, laufe nicht ins schwert. 

mehr davon

 

Di 7.11.00  16:51

Grosse Liebe Nummer Eins  Kapitel 19 Seite 125

Hans-Peter war sauer, als ich in den Probenraum kam. Ich hatte gefehlt, ja, aber nicht, um zu schwänzen. Ich versuchte ihm das zu erklären, aber er wollte es nicht wissen. Wir hätten schließlich am Donnerstag einen Auftritt, „verdammt“, sagte er, "und du bist einfach nicht da.“
„Sorry.“
„Heute also um fünf, klar?“
„Nein“, sagte ich. „Morgen. Morgen meinetwegen den ganzen Tag. Aber heute nicht.“
Unglaublich, Tobi, cool was?
Klar, viel zu cool. Ich habe das natürlich nicht gesagt. Ich hätte es gern gesagt, weil ich es dachte, und ich wette, dass es mir eine Menge Ärger erspart geblieben wäre, wenn ich es gesagt hätte, aber nicht einmal Hans-Peter hätte das gerafft, Hans-Peter hätte nur an den Auftritt gedacht und daran, dass ich bei Rapture, ein Stück von Harold Land, noch immer nicht geschnallt hatte, wann es besser laut und wann leise wäre, trommelmässig, und ich wusste, dass Hans-Peter keinen Scheiß erzählt. Ich neige dazu, laut zu spielen. Ja, ich hau gerne drauf, und vielleicht war Jazz einfach nur zu erwachsen für mich.

Ich beschloss stattdessen, um fünf auf keinen Fall zur Probe zu gehen. Entschuldigungen könnte ich immer noch stammeln, denn ich wusste wohl, dass es Scheiße ist, fünf Leute hängen zu lassen. Aber was hätte ich tun sollen? Kasia und ich hatten noch diesen Nachmittag und vielleicht den Abend. Vielleicht nur Teile dieses Nachmittages und keinen Abend. Wie immer es also ausgehen würde, um fünf würde ich entweder auf Kasia warten oder mit ihr zusammen sein.    

 

Mi 8.11.00 00:41   (8.11.72 puerto triumfo/el salvador)

Tante Änne: 91 Jahre, ein Aprilscherz, die Tante, die mit Karin, mir und den Nachbarskindern spazieren ging, wenn sie in G. war. Die Tante Änne. Die alle Kinder mochten. Sie weiß nie, was sie will und ich glaube, sie spricht mit zwei Zungen. Ich weiß nicht, was ich mit ihr reden soll. Morgen (nachher) besuche ich sie. Seit sie im Altenheim lebt, wird sie dicker und dicker. Die ersten drei Monate dort waren schwer für sie. Jetzt fühlt sie sich wohl. Sehr wohl. Sie erkennt meine Schritte im Flur. "Hermann?" sagt sie, und ich sage "Moin Tante Änne." Wenn es nicht regnet, rolle ich sie durch die Stadt, wir gehen auf den Markt, ich esse einen Matjes (een haaring met oitjes alst uw belieft), nehme einen für Mutti mit,  sprühe mich auf dem Rückweg vor der Parfümerie mit teuerstem Parfüm ein (letzten Mittwoch Allure von Chanel), das dort in einem Drehständer steht, vielleicht gehen wir noch zum Türken, wo ich scharfe Würste kaufe, kleine gekrümmte Gurken und Fladenbrot und mir anhöre, wie Tante Änne sagt, dass die Türken dem Markt das Geschäft vermiesen und ich (wie immer) antworte, dass das nicht stimmt. Aber dann geht es wirklich zurück und ich füttere Mutti. Sie liebt Matjes. Beim letzten Mal hat sie anschließend Schokolade gegessen. Das pürierte Essen, das sie kriegt, seit ein Pfleger vor einem Jahr ihr Gebiss verschlampt hat,  mag sie nicht.  Seit über zehn Jahren bin ich einmal die Woche bei Tante Änne und ihr. Meist mittwochs. Karin fährt samstags. Seit zwei Jahren sind die beiden im Heim. Seit drei Jahren lebt Vatti nicht mehr. Seine Urne steht auf meinem Klavier. Wenn Mutti stirbt, will ich die beiden in der Dinkel bestatten. - 

Wie kam ich drauf?  - Ach ja, November. 

 

Mi 8.11.00   16:47

leithammel, leitplanke, leiterwagen, leitkultur

 

Mi 8.11.00  20:10

Neues vom Kritzelopi: gegen Mittag kam Kritzelopi aus G. zurück. Er hatte die Alten besucht, und weil das ermüdend ist, bettete er sich zum power-napping. Als er gegen drei wieder auf die Beine kam, fiel ihm auf, dass seine Brille verschwunden war. Er suchte im Bett, unterm Bett, auf dem Schreibtisch, unterm Schreibtisch, im Wohnzimmer, in der Küche, im Auto. Sie war nicht zu finden. Um auf andere Gedanken zu kommen, spielte er Schlagzeug, was aber nicht gut klang, und ihn in dem Gefühl bestätigte, sich für den Rest des Tages besser still zu verhalten. So weit, so gut, wäre da nicht der zutiefst beunruhigende Gedanke an seine Brille geblieben. Wo sie am Morgen gewesen sei, fragte seine Frau, und er sagte, in meiner Jackentasche. Dort war sie natürlich nicht. Kritzelopi beschloss, sich durch Übersprungshandlungen abzulenken. Er beantwortete Elektropost,  beunruhigtes aus Wien, woher die Nachricht kam, warum man für verrückt gehalten werde und ob das nun gut oder schlecht sei. Nun, gut, elektropostete er, denn konnte es etwas besseres geben in dieser Welt, als verrückt zu sein? Nein, sicher nicht. Und als er dann irgendwann auf seinem x-ten Suchgang durch die Wohnung in der Toilette landete, fiel sein Blick unters Klo-Knie. - Nun fragt er sich, wie es die Brille dorthin geschafft hat. Er fragt sich, ob das erste Anzeichen sind, und natürlich fragt er sich, ob und wie er weitere Ausfälle verhindern kann?

 

Do 9.11.00  9:56    (9.11.72 la union/el salvador)

verrückt: "überspannt, närrisch": das seit dem 16. Jh. gebräuchliche Adjektiv ist eigtl. das 2. Part. von verrücken (mhd. verrücken "von der Stelle rücken; aus der Fassung bringen, verwirren"; vgl. rücken ... das altgermanische Verb mhd. rücken ahd.  rucchen, niederl. rukken, schwed. rycka ist unbekannter Herkunft. Mit diesem Verb hängen im germ. Sprachbereich zusammen die nord. Sippe von schwed. mdal. rucka "wiegen, schaukeln, schwanken" und engl. to rock "schaukeln, wackeln" (beachte den Namen des amerikanischen Tanzes Rock and Roll; zu engl. to roll "drehen, herumwirbeln" vgl. Rolle). - Zusammensetzungen und Präfixbildungen mit 'rücken' sind z.B. ab-, an-, aus-, ein-, vorrücken, verrücken (s. verrückt) und berücken. 

Do 9.11.00  17:26  

Grosse Liebe Nummer Eins ... Kapitel 19 - Seite 131

Ich bin auf der Zielgeraden. Aber ich schiebe das goldene Band vor mir her, ich dehne es. Noch einen Kuss und noch einen, aber mehr? - Nein, was mehr ist, muss sich in den Köpfen abspielen. In jedem Kopf muss ein eigenes Bild davon wachsen. Dann ist es gut. Dann fällt der Abschied von der Geschichte auch nicht so schwer. Und wie lautet der letzte Satz? - Wird nicht verraten. Aber man könnte drauf kommen. Morgen? - Vielleicht morgen, ja. - Also, ab dafür!!!

 

Fr 10.11.00  8:35  (10.11.72 chinandega/nicaragua)

Grosse Liebe Nummer Eins - Kap. 19 - Seite 128-131 

Ihr Vater sah mich an und sagte wieder etwas zu Kasia. – Kasia sagte „er sagt, du sollst dich setzen, setz dich, bitte“ und ich tat, was sie mir sagte. Ich hing jetzt sowieso drin, schlimmer konnte es nicht mehr kommen. Der einzige freie Platz am Tisch war neben der fremden Frau, die, das würde ich gleich erfahren, Tante Lydia aus Posznan war, und drei Sätze Englisch konnte. Ich saß noch nicht ganz, als sie begann, mir mit diesen drei Sätzen Löcher in den Bauch zu fragen.
„Ja“, sagte ich, „nein, ja, nein, ja...“ undsoweiter, und bemerkte zu meinem Erstaunen, dass die Tante, der Hausmeister und seine Frau mich vor Freude anstrahlten. – Hatte ich also die richtigen Antworten gegeben, die richtigen Antworten auf Fragen, die ich nicht einmal ganz verstanden hatte? – Oder lachten sie mich aus? – Nein. Ausgelacht wurde ich nicht. Eher ein bisschen bestaunt. Vielleicht hatten sie noch nie jemand gesehen, der ein Mucho T-Shirt anhatte. Oder tatsächlich aus Deutschland stammte, wo ihre ganzen Autos herkamen.

In meinem Kaff an der Grenze sah ich jeden Tag Polen, die mit Transportern anreisten und Unfallwagen aufkauften. Immer. Irgend etwas war an mir, was sie faszinierte, das spürte ich, und ich hoffte, dass es nichts mit Kasia und mir zu tun hatte. 

Kasias berührte mich mit den Füssen. Sie hatte ihre Schuhe ausgezogen. Ich amtete durch. Ich durfte jetzt nicht die Fassung zu verlieren, Tobi, Hilfe, Tobi, bloß nicht, doch dann kam die Kellnerin, stellte ein Riesenstück Torte vor mich hin, alle strahlten noch mehr und ich kapierte nichts mehr. Schließlich tat ich so, als hätte ich mein Leben noch nie so leckere Torte gegessen und haute rein wie ein Idiot. Irgendwie schützte mich das, denn Kasia hatte mir mit ihren Füßen die Sandalen abgestreift. Während ich oben also versuchte, der freundliche Junge zu sein, der Kasia gesucht und gefunden hatte, und jetzt mitnehmen wollte, weil sie auf der Probe gebraucht wurde, verschlangen sich unterm Tisch unsere Zehen, als wären es kleine Schlangen. Mein Mund trocknete aus, ich kriegte einen starren Blick, die Tante redete immer noch, ich besorgte der Torte tapfer den Rest und dann sagte Kasia, „also gut, lass uns gehen.“
„Wie bitte?“
„Komm.“

Ich dachte, ich hörte nicht richtig, ich dachte, ich spinne, ich dachte, jetzt wäre ich endgültig durchgeknallt, aber die Familie plus Tante lächelte zustimmend. Ja, sie hatten nichts gemerkt. Oder aber sie waren die besten Schauspieler auf der Welt, aber das glaubte ich einfach nicht. Schließlich war ich in ihre Tochter verliebt. Ich stand also auf, sagte „Dziekuje“ (sprich: dschjenkuje = Danke) und „do widzenia“ „Auf Wiedersehen“, und zack, war ich weg. Das heißt: waren wir weg. Ich dachte noch, wenn sie bis jetzt nichts gemerkt haben, bei diesem blitzartigen Abgang muss ihnen doch ein Licht aufgegangen sein, aber das war jetzt auch egal.
Hauptsache, wir waren hier raus.  Wir überquerten die Straße, wir liefen so unbeteiligt nebeneinander her wie Fremde, wie fast Fremde und kurvten am Kirchplatz um die Häuserecke. Kaum außer Sicht wollte ich Kasia küssen, aber sie wehrte empört ab, und da wusste ich wieder, dass ich in Polen war, dass dies eine Kleinstadt war, und dass Kleinstädte überall Augen haben.
Ich hatte das einen Augenblick einfach vergessen.   
Eine Viertelstunde später waren wir vor neugierigen Blicken sicher. Nah beim Kulturhaus und trotzdem weit weg, auf einer Bank unter einem mannshohen, moosbewachsenen Engel, mit dunklem Efeu bewachsene Kiefern ringsum, deren Äste über uns eine Art Laube bildeten. Dies war ein Friedhof. Aber ein alter Friedhof, ein uralter Friedhof, auf dem niemand mehr begraben wurde, schon seit langem nicht mehr. Also würde auch kaum jemand kommen, um ein Grab sauber zu machen oder Blumen zu bringen. Sie schaute mich an. Grünbraun, ihre Augen waren grünbraun, jetzt war ich mir sicher. Sie kam näher und ich hatte keine Angst, kein bisschen, ich versank tief in ihrem Blick, so weit konnte ich sehen. Und dann küsste sie mich. Küsste mich auf den Mund, so dass ich nur ihre Lippen spürte, ihre Lippen und ihren kurzen Atem, wie von jemand, der fort gerannt war. Ich rührte mich nicht. Mir wurde schwindlig und ich konnte die Welt wie ein Vogel von oben sehen. Dann knackte ein Ast, Kasia löste sich von mir, und dann rannte etwas davon, das wie ein Fuchs aussah. Einen Augenblick später wussten wir auch, wieso: der schwarze Hund hatte ihn aufgestöbert. Der schwarze Hund stand jetzt vor, schaute uns treuherzig an, ließ sich von Kasia und mir den Kopf streicheln, legte sich hin, streckte alle Viere von sich, seufzte laut und schlief ein.
 

 

Mo 13.11.00  9:37  (13.11.72 chinandega/nicaragua)

Der Tag,  der letzte Satz und Elektropost

Eine Kanne Tee steht auf dem Tisch, die Notizen für das letzte Kapitel liegen bereit, es kann losgehen. Ich habe mit ein paar Leuten telefoniert, ihnen Fragen gestellt und Tipps eingesammelt, u. a. mit Sascha, der in meinem Roman Steff heißt und sich nur noch daran erinnern konnte, dass seine polnische Freundin und er nichts Besonderes unternommen hätten an jenem letzten Abend. Daran werde ich mich halten. Das Kapitel 19 wird enden, als Kasia und Steff die Konditorei verlassen. Das letzte Kapitel wird rückschauend erzählt,  die Ereignisse der letzten Stunden erhalten so ein anderes Gewicht. Also, auf geht's. 

 

Mo 13.11.00  18:04

Ich bin begeistert!!! (Frau M. nach 31 Seiten). 

 

Mo 13.11.00  21:17

Grosse Liebe Nummer Eins: der erste Satz : Hm mmm, hatte ich gesagt. Und der letzte: Mir wurde schwindlig und ich konnte die Welt wie ein Vogel von oben sehen.

 

Di 14.11.00  9:21   (14.11.72 managua/nicaragua)

???Schriftsteller ist, wer in der Entschlossenheit Zuflucht gefunden hat, alles aus sich heraus zu schreiben??? und was mach ich jetzt? ich meine, was soll ich tun? auf dem sofa liegen und den tag verstreichen lassen? oh ohhhh....

 

Di 14.11.00  11:52

flashback10: dienstag 14.11.72 san josé/costa rica

in managua hatten wir uns visa für kolumbien, equador und peru besorgt, jeder konsularbeamte hatte uns auskünfte gegeben, die denen seines vorgängers zuwider liefen, deshalb waren wir froh, als wir in den bus nach san josé stiegen. nur weg hier.  im bus vor  jenny und malory. die erste rothaarig, dick und süss, die zweite mit dunklem, langen haar. irinnen. ich fand malory gut. es regnete in strömen, als wir san josé erreichten. bruno machte sich auf die suche nach einem hotel, jon checkte den american express, ich bewachte unser gepäck in einem café. wir hatten nikoläuse gesehen, nikoläuse und weihnachtsschickschnack mit watteschnee bei 35 grad. strange das.  abends im hotel brüteten wir über ausgebreitete landkarten. ein trio ist eine komplizierte angelegenheit, seit jon zu uns gestoßen war, hatten sich die gewichte verschoben. ich war nun der dritte im bunde. in lima würden wir uns trennen. hier aber stritten wir noch und vertrugen uns wieder. jenny und malory wohnten ein stockwerk höher. ich hatte malory vorhin getroffen und gefragt, ob ich sie nachher noch sehen könne? ja, hatte sie gesagt und mir die zimmernummer genannt. während jon und bruno noch stritten, beschloss ich, zu ihr hochzugehen. erster stock, zimmer 9. die jungs machten doofe witze, als ich ging, aber sie waren nur neidisch. ich klopfte an malorys tür, und als jemand leise herein rief, trat ich ein. es war dunkel im zimmer. ich setzte mich auf einen hocker. malory lag im bett. jedenfalls dachte ich, dass es malory ist, aber als ich mich an das dunkel gewöhnt hatte, sah ich jennys rote haare. ich überlegte und  beschloss, es mit der wahrheit zu zu versuchen. "would you mind, if i'd hop into your bed?" fragte ich. "not at all", sagte jenny.  

 

Mi 15.11.00  15:34  (15.11.72 san josé/costa rica)

ein stiller wunsch in niemands ohr/ ein lachen fängt sich hinterm wolkenhain/ ein ton dringt durch, man tanzt den tor/ man geht entzweit und fängt sich selbst nicht ein/ ein lachen äfft sich an, ein leben dauert/ ein weilchen glaubt es, dass es alles kann/ der eine bügelt schon das totenhemd und lauert/ der andre fängt damit erst gar nicht an//

 

Do 16.11.00  9:27  (16.11.72 san josé/costa rica)

reden, schreiben, schweigen...

 

Fr 17.11.00  20:29  (17.11.72 panama city/panama)

Hermann Mensing

GROSSE LIEBE NR. EINS...häppchenweise

(erscheint im Herbst 2001  im Ueberreuther Verlag Wien)

(...) aber nach allem, was ich heute weiß, war es wohl so, dass ich in alle Himmelsrichtungen kleine Herzen funkte und nur darauf wartete, dass jemand antwortete.

Die Trübsal vernebelte mir den Blick auf die einfachsten Dinge und obwohl ich das wusste, fiel ich jedes Mal wieder auf sie herein. Jedes Mal! Vielleicht sollte ich mir ein Brett vor den Kopf nageln:
ACHTUNG! WICHTIGE VERHALTENSMASSREGELUNGEN BEI TRÜBSAL!
Nicht darauf reinfallen!
Was so auch wieder nicht stimmt, denn manchmal muss man den Kopf wohl hängen lassen, manchmal muss man Trübsal blasen, bis die Wolken sich von selbst wieder verziehen, aber das ist eine andere Geschichte. Konrad steht immer rechts neben mir, was wichtig ist, Bass und Schlagzeug gehören zusammen. Sie müssen sich nah sein, der Beat aus den drums und das Schwingen der Saiten müssen eins werden, da hilft es, wenn sie sich nah sind. Wie bei Jungs und Mädchen, wenn’s funkt.
Ich dachte, jeder müsse es sehen, ich dachte, jeder würde es riechen, ich dachte, jeder müsse es hören, weil meine Stimme noch von diesem Zauber gefangen war, aber sie sagten nur „hi Steff!“ oder Ähnliches, und irgendwie war ich auch froh, denn wenn sie gefragt hätten, was mit mir los wäre, hätte ich bestimmt nicht die Wahrheit gesagt.  Plötzlich stand die Zeit still. Ich spürte, dass das möglich war, weil ich liebte. Weil ich genau das Richtige tat und nicht einen falschen Gedanken dachte. Weil ich frei war von Zweifeln. Nicht ein Schatten konnte micht treffen. Also war es möglich. Man konnte die Zeit anhalten!!!  

 

Mo  20.11.00  9:05   (20.11.72 medellin/kolumbien)

Alle Arbeit ist getan. Ich sitze in der Küche. Hinter meinem Rücken vertickt die Zeit. Die japanische Kirsche vorm Haus steht vernarbt im feinen Regen. Ab und an Passanten mit Schirmen. Der Himmel liegt eng über den Dächern. 

 

Di 21.11.00  18:15  (21.11.72 medellin/kolumbien)

Hi Gesine,
kriegte deinen Brief, als ich mich gerade auf den Weg machte, unseren lieben Nachbarn Josef, 85jährig starb, unter die Erde zu bringen. Josef war der erste, den ich traf, als wir damals hier einzogen, und wir mochten uns auf der Stelle. Nun ist er abgesenkt, er hat sich einen schönen Tag ausgesucht, es ist nur so, dass ich überhaupt kein Christ bin und die dreisten Lügen, die Pfarrer noch am Grab verbreiten, zum Erbrechen satt habe (ich aber sage euch, er lebt, er lebt!!!). Well. Mein Josef wird also langsam vermodern, die Welt dreht sich weiter, und ich werde vielleicht nachher nach Enschede trudeln, um wieder ein wenig die Trommeln zu rühren. Carsten beschuldigte mich letzte Woche der Bombenlegerei, und ich schätze, dass er Recht hat, ich lege gern rhythmische Landminen, ich trommle gern dagegen, wozu sonst sollte Jazz gut sein?
Was die Potter-Raserei anlangt, ich habe noch keinen gelesen und werde es auch nicht tun, erstens, weil ich es nicht will und zweitens, weil ich die Pusteln kriege, wenn ich plötzlich Leute von "guten Geschichten" erzählen höre, die sonst Bücher nicht mal mit dem Arsch ansehen. Mag sein, dass die Geschichten ganz ordentlich geschrieben sind, ich freu mich auf jeden Fall für die Frau, die sie geschrieben hat, möchte aber nicht in ihrer Haut stecken. So von Sozialhilfeniveau auf DM 80.000000 pro Jahr katapultiert zu werden, muss schon hart sein.
Nein, nein, da bleib ich doch lieber bei meinen unglaublichen Vorschüssen, die mir erlauben, auch dieses Jahr wieder Schokolade zu Weihnachten zu kaufen und vielleicht noch eine neue Weihnachts-CD zum Mitsingen, denn die alte haben wir schon leer gegrölt. Ja, also Gesine, soviel zu Harry P., und was dein Studium angeht und den großen Coup, der da im Hintergrund auf dich wartet, warum nicht Publizistik? Ich meine, du hast doch diese Radio-Geschichte gemacht, offenbar also den ein oder anderen Kontakt, warum hängst du dich nicht da rein? -
Gute Frage, oder? Also, schönen Tag, obwohl du ja wahrscheinlich doch erst wieder nächste Woche online gehst, Pissnelke.
Ciao
Hermann

 

Do 23.11.00 19:38  (23.11.72 cali/kolumbien)

 

Fesselnd webt mir eine Wolke/ Wünsche übers lichte Haar/ fußblind, da es niemand wissen sollte/ färbte sich mich wunderbar

 

Fr 24.11.00  18:54  (24.11.72 piendamo/kolumbien)

Tuxes großer Gesang über Weihnachtsmänner

Sehr geschäftig jagt die Zeit durch den Advent

Meine Eltern glauben, dass sie gar nichts schaffen

Mir scheint ihre Raserei eher fremd

Während ich versuche, dies und jenes aufzuschnappen.
 

Hatte Papa gestern nicht gesagt
Dass er morgen spät nach Hause kommt

Könnte es nicht sein, dass er das Christkind fragt

Das sich jetzt noch irgendwo im Himmel sonnt?
 

Hatte Mama nicht verdächtig hell gelacht
Und gemahnt, dass niemand mehr das Schlafzimmer betritt
Hatte Papa darauf nicht so’n Quatsch gemacht
Lachte er nicht lauthals mit?
 

Ja, ich glaube, dass sie unter einer Decke stecken
Und so tun, als könnte sie kein Wasser trüben

Ja, ich schätze, dass sie mich nur deshalb necken

Weil sie schon für Heiligabend üben.
 

Doch bis dahin ist noch lange Zeit
Und es könnte sein, dass sich der Weihnachtsmann verirrt

Deshalb halt ich Leckerei’n für ihn bereit

Dorffeldstrasse 19 – dass er sich da bloß nicht irrt.
 

Auch dem Christkind werd ich Zeichen machen
Denn man weiß ja nie genau

Kann ja sein, das Christkind bringt die süßen Sachen

Und der Weihnachtsmann nur Haumichblau.
  

Wie es ausgeht, weiß ich einfach nicht
Wie ich’s dreh und wende, es bleibt doch geheim

Um sie für mich einzunehmen, schreib ich ihnen ein Gedicht

Und versende es nach Himmelheim.
 

Liebe Leute ihr da oben
Denkt daran, dass ihr mich nicht vergesst

Ich will euch auch alle Tage loben

Und ich wünsche euch ein frohes Fest.
 

Nun, so weit die Strophen für das Himmelspersonal
Das die meisten von euch lieben

Schließlich kennt man Weihnachtsmänner überall

Auch das Christkind ist nicht unerkannt geblieben.
 

Dennoch bleibt da ein riskanter Stolperstein
Nämlich, dass der schönste Weihnachtstraum verweht

Dieser Fall der Fälle, denn es könnte sein

Dass man auf der falschen Seite steht.
 

Ja, denn niemand kann mir hier versichern
Dass die himmlischen Vertreter leben

All das höre ich aus Mama-Papas schrillem Kichern

Wenn wir Kinder ihnen Wünsche übergeben.
 

Deshalb heißt es, höchste Vorsicht
Besser ist, ich sag kein falsches Wort

Besser ist, ich zeig die Zweifel nicht

Und lass alles schön an seinem Ort.
  

Sag, wie feierlich ich alles finde
Ruf laut Oh und Ah bei Kerzenlicht

Freu mich über Papas Kranzgebinde

Und versprech' mich nicht.
 

Auch wenn alle wie die Doofen stöhnen
Weihnachten würd' jedes Jahr verrückter

Könnte ich Mama verwöhnen

Das wär' viel geschickter.
 

Könnte ihr im Haushalt helfen
Könnte Papa Puschen bringen

Könnte- würde- wie die Elfen 

Herzerfrischend Lieder singen.
  

Und so würd die Zeit verfliegen
Und mit ihr die Frage nach dem Sinn

Würd' nicht mehr im Magen liegen

Wüsste nicht mal, wer ich bin.
 

Ja, so weit wär’ alles klar
Und nun muss ich mich entscheiden

Will ich einen Weihnachtsmann 
oder glaub ich ans Verkleiden.  
Ja, ich glaub, ich glaube lieber

Ja, ich glaub, noch dieses Jahr

Nächstes Jahr dann frag ich wieder
Ist das alles wahr???  

 

So 26.11.00  14:27   (26.11.72 sylvia/kolumbien)

Ob er sich vorstellen könne, in einer Großstadt zu leben, fragte sie, und er verneinte sofort. Dazu sei es zu spät, sagte er, nun nicht mehr, zu sehr habe er sich schon daran gewöhnt, am Stadtrand zu leben, die Wetter heranziehen zu sehen, mit ein paar Schritten teilzuhaben an den dramatischen Veränderungen, die sich ohne Unterlass über den Köpfen der Menschen abspielten, ohne dass auch nur einer den Kopf danach recke. Nein, nie wieder wolle er das missen, zudem habe er fast alle großen Städte dieser Welt gesehen, Rio ebenso wie Tokio und Kairo, Neu Dehli und New York, Los Angeles und London. Ob er sich denn vorstellen könne, auf dem Land zu leben, fragte sie, während er den Blick über die Alvingheide ziehen ließ, gewelltes Land mit Buchengruppen, ein Feld mit noch blühendem Raps,  eilige Wolken  auf dem Weg zur Stadt. Nein, auch dazu sei es zu spät, sagte er, auch daran würde er sich nicht mehr gewöhnen, er sei festgezurrt da, wo er nun lebe, es gefalle ihm, wenngleich es eher hässlich sei, er liebe die Einförmigkeit, wenngleich sie ihm oft Schauder bereite, aber es sei nun mal, wie es sei, und was immer er wolle, könne er von dort aus tun. In wenigen Stunden seien alle Kapitale Europas zu erreichen, und wenn es wirklich einmal so große Not tun solle, er würde nicht zögern.... 

 

So 26.11.00  22:50

das (überarbeitete) letzte Kapitel der Großen Liebe Nr. Eins

Als der Bus, der uns nach Berlin bringen sollte, vorm Hotel vorfuhr, waren alle in heller Aufregung. Martin war verschwunden. Martin, der Holzhacker aus München. Auf der Abschiedsparty am Abend zuvor war er das letzte Mal gesehen worden, aber nach Mitternacht hatte sich seine Spur verloren. Boten waren losgeschickt worden und unverrichteter Dinge zurückgekehrt. Nein, bei den polnischen Sängerinnen wäre er nicht. Jedenfalls hätte man ihn dort nicht gefunden. Und was nun??? Mir doch egal! Ich stand da und war bereit. Beckentasche, Reisetasche, Snare. Linke Hand, rechte Hand, Rücken. Ich kam mir vor wie ein Esel, und wollte nur eins: weg. Oder Kasia wiedersehen. Aber ich wusste ja, dass das nicht ging. Ich trug ein T-Shirt, dass sie mir geschenkt hatte. Ja kocham cie hatte sie mit Edding drauf gemalt, und ich würde es nie wieder ausziehn.Der große schwarze Hund stand neben mir. Seit Kasia fort war, war er nicht mehr von meiner Seite gewichen, fast, als wolle er mich trösten, aber es gab keinen Trost. Kasia war nicht mehr da. „Geh“, sagte ich, „lauf, geh dahin zurück, woher du gekommen bist“, aber der Hund schaute mich nur an. „Komm“, sagte Doro, „lass uns einfach einsteigen. Ein Glück, dass sie da war. Ich weiß nicht, wie ich die Tage seit Kasias Abreise ohne Doro überstanden hätte. Nächstes Jahr kannst du ja wieder kommen, hatte sie gesagt, und ich hatte es geglaubt. Ich glaubte es. Ja. Natürlich. Ich schob mein Gepäck in den Laderaum und stieg ein. Der schwarze Hund folgte mir. Der Busfahrer stellte sich ihm in den Weg, der Hund knurrte, aber der Busfahrer hatte keine Angst und scheuchte ihn fort. Ich sah, wie er davonrannte, ich sah, wie er an der Ecke stehenblieb und sich umschaute, dann war er fort. Mir war schlecht. Mir war mindestens so schlecht wie am Morgen von Kasias Abreise. Ich hatte mich abseits gehalten, aber wie will man sich abseits halten an einem sonnigen Morgen um sechs, an dem alle, die hergekommen waren, nur einen Grund hatten: ihre Kinder in die Ferien zu verabschieden. In ihren Augen war ich doch selbst noch ein Kind, aber eines, dass zu keinem gehört. Da und da würde ich stehen, hatten Kasia und ich ausgemacht. Und ich stand da. Übermüdet wie sie, schließlich waren erst ein paar Stunden vergangen, seit wir uns voneinander verabschiedet hatten. Ich sah sie kommen - Kasia, Papa, Mama. Ich sah, dass Kasia mich sah. Ich stülpte die Lippen zum Kuss. Sie küsste zurück, mit einem Blick. Und dann dieses großes Hallo vorm Abschied. Alle waren aufgeregt. Die Eltern noch mehr als die Kinder. Letzte Ratschläge wurden erteilt und ich spürte wieder das Brausen, das mich überfallen hatte vor knapp zehn Tagen, mir fiel wieder ein, wie froh ich gewesen war, dass ich das Fenster nicht runterkriegte, als Papa noch etwas sagen wollte, ich sah Kasia und wusste, dass es ihr jetzt genauso ging, dass sie nur noch eines wollte, weg, losfahren, damit sie nicht länger etwas spielen musste, was sie nicht war: ein tapferes Mädchen. Ich sah, wie sie einstieg, ich sah, wie sie sich umschaute, ich blieb in Deckung, bis ich es nicht mehr aushielt. Ich konnte sie einfach nicht so davonziehen lassen. Also verließ ich meine Deckung und tat so, als käme ich zufällig daher. Täderää täderäää, flöt flöt flöt. Hach, was machst du denn hier? Wo fährst du denn hin? Ich spürte die Blicke der Anwesenden, ich spürte ihre Fragen in meinem Nacken, aber auf geheimnisvolle Art waren Kasia und ich sicher. Niemand würde uns jetzt noch Vorwürfe machen, niemand würde sicht trauen, und so ging ich zum Bus, legte meine Hand auf die Scheibe, und Kasia legte ihre auf der anderen Seite dagegen. Dann zischten die Türen ihres Busses zu, wir tauschten noch einen Blick, im Geiste küssten wir uns und dann fuhr der Bus davon. Ich winkte lange. Ich glaube, ich stünde noch immer winkend vorm Bahnhof, wenn Kasias Vater mir nicht auf die Schulter geklopft hätte wie einem Freund. Vielleicht habe ich geträumt? Vielleicht bilde ich mir auch nur ein, dass er etwas zu mir gesagt hat, aber ich weiß, dass es in Deutsch war. Alles Blut schoss auf in den Kopf, und ich fürchtete, zu explodieren. Lachen war die Antwort, ein freundliches Lachen und ein „do widjeznia.“
„Dowidschschschenja“ hatte Kasia gesagt, als wir am Dienstagnachmittag zusammen waren, „dowidschschschenja“, und ihren Mittelfinger auf meine Unterlippe gelegt, „dschschschennnja musst du sagen, Steff, ja, genau, ist doch ganz einfach.“
„Will ich aber nicht“, hatte ich trotzig geantwortet. Ich wollte nicht lernen, wie man „Auf Wiedersehen“ richtig ausspricht, ich wollte mich nicht verabschieden, ich wusste ja, dass es unausweichlich war, aber erst später und daran wollte jetzt noch nicht denken. Kasia hielt meine Hand und so saßen wir auf der Bank unterm steinernen Engel und sprachen kein Wort. Sassen nur da und sahen zu, wie der Nachmittag sich in den frühen Abend verlor, hörten die Vögel singen und beobachteten, wie sich der Himmel im Westen einfärbte. Die ganze Zeit saßen wir da, und uns fehlte nichts.  Der große schwarze Hund lag auf dem Kiesweg vor uns. Als Kasia und ich die Konditorei verlassen und den Kirchplatz erreicht hatten, war er aufgetaucht und bei uns geblieben. Wie ein Wächter lag er da, den Kopf auf die Vorderpfoten gelegt. Seitdem hatte es Augenblicke gegeben, da hielt ich ihn für einen Spion, den Kasias Vater uns an die Fersen geheftet hatte. Einmal, als ich Kasia küsste, hatt er sogar leise geknurrt. Aber nur einmal, danach nicht mehr. Danach hatte er nur dagelegen und uns zugeschaut, bis ich ihn fortschickte, weil ich seine Blicke nicht mehr ertragen konnte. Vielleicht schämte ich mich sogar vor ihm, ich weiß nicht. Tatsache ist, dass es uns gruselte, als er fort war, denn der steinerne Engel stand auf einem uralten Friedhof in einer Art Laube, die von den Ästen mehrerer Kiefn gebildet wurden, die mit dunklem Efeu überwuchert waren. Dabei war das Kulturhaus gar nicht weit weg. Trotzdem. Wir gruselten uns. Friedhöfe sind schon etwas Besonderes. Und so gingen wir zu Leszeks Wikinger Grill. Leszeks Wikinger Grill war ein umgebauter Wohnwagen mit Vordach und Sitzgruppen aus zurechtgehauenen Baumstämmen davor. An dem Tag, als ich Kasia gefolgt war, war ich auf dem Rückweg vom See daran vorbei gegangen und hatte dort eine Cola getrunken. Lezek war ein Riese. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn er ein Bärenfell getragen- und eine Keule in der Hand gehalten hätte. Dazu kam, dass er Jazz-Fan war. Der Wohnwagen hing voller Fotos von Musikern, und immer stand Leszek neben ihnen. Es sah fast so aus, als wäre er selbst einmal berühmt gewesen oder wäre es vielleicht immer noch, nur, dass ich es nicht wüsste. Dorthin also gingen wir, weil der Friedhof uns gruselte, und als wir unter den bunten Lichtgirlanden sassen, die Leszek überall aufgehängt hatte, merkten wir, wie hungrig wir waren. Wir hätten uns fressen können, bestellten aber stattdessen Lsezeks selbstgemachte Hamburger und Fritten. „Du Steff“, sagte Kasia irgendwann. „Ja?“ „Mach mal die Augen zu.“ Ich schloss die Augen. Sie nahm meine Hand und schob mir einen Ring auf den Finger. Ich öffnete die Augen und wir schauten uns an. Grünbraun, ihre Augen waren grünbraun. Ich versank tief in ihrem Blick, ganz tief. Und da wusste ich alles. Ich wusste vom nächsten Morgen. Ich wusste von der Pappel am See, in den wir unsere Namen ritzten.
Kasia und Steff. 4ever. 
Gegen zehn hatte ich sie nach Hause gebracht, aber es war abgemacht, dass wir uns noch einmal sehen würden, einmal noch, komme, was wolle. Und so hatte ich am Steg auf sie gewartet. Ein halbe Stunde später war sie aufgetaucht. Ich spürte ihre Unruhe und die Furcht vorm Entdecktwerden, aber sie war entschlossen. „Komm“, sagte sie und ich war ihr gefolgt. „Komm.“ Wir hatten uns von hinten dem Haus genähert, waren durch eine angelehnte Tür geschlüpft und inden Keller hinabgestiegen. Ein düsterer Keller, in dem man nicht einmal Licht machen konnte, und dann hatte sie mich geküsst. Ich spürte ihr Herz und den Schweiß, der uns vereinte, dann spürte ich nur noch ihre Lippen, ihre Lippen und ihren Körper, ich spürte, dass sie mich ganz für sich haben wollte, ich spürte, dass es so gut war, wie es war, ich sah sie nicht, aber ich wusste alles von ihr, ich hörte ihren kurzen Atem, wie von jemand, der fort gerannt war. Mir wurde schwindlig und dann konnte ich die Welt wie ein Vogel von oben sehen. „Steff!“ Ich erschrak. Doro hatte mich angetippt. Sie lachte und zeigte nach draußen. Martin war aufgetaucht. Martin war umringt von neugierigen Fragern, Martin schien der Aufruhr um ihn wenig zu beeindrucken, ich hörte, dass er sagte, er müsse noch packen und dann verschwand er im Hotel. Die schwarze Madame stand in der Tür und schaute zu. Und dann,irgendwann, ging es endlich los. Ich schloss die Augen, weil ich nichts mehr sehen wollte von dieser Stadt. Ich wollte den Bahnübergang nicht sehen, ich wollte den Kiosk nicht sehen, nicht einen Baum wollte ich sehen, ohne dass Kasia unter ihm stand, denn wozu sollte das gut sein, wozu sollte ich diese Stadt ohne Kasia in Erinnerung behalten? – Nein, nichts wollte ich sehen, ich wollte nur fort. Doro strich mir durchs Haar. „Nicht traurig sein“, sagte sie, und erst da merkte ich, dass ich weinte. Ich legte meinen Kopf an ihre Schulter und heulte und heulte. Das hügelige Land, die Wälder, der einsamen Dörfer mit den Storchennestern auf Schornsteinen, die weiten Sümpfe im Oderbruch, die Grenze, das alles verflog in düsterer Trauer. Nicht einmal Berlin heiterte mich auf, im Gegenteil, es kotzte mich an. Es war eine stinkende Stadt mit verbeulten Autos und abgefuckten Typen an jeder Ecke, ich wollte nach Hause, nach Hause in meine kleine Stadt an der Grenze. Als ich schließlich dort war, als der Zug hielt, als ich mein Gepäck nahm und ausstieg, stand da Marie. Stand da und sah mich an, als wäre sie meine Freundin, stand da, als wäre sie mein Allerliebstes. Ich trug Kasias T-Shirt, und darauf stand, dass sie mich liebt, und ich wusste, dass ich sie liebe, und so grüßte ich Marie nur knapp, tippte auf meine Brust und ging davon. Da hinten standen Mama und Papa. Sie winkten. Ich winkte zurück. Ich war wieder zu Hause. Aber ich würde Kasia wiedersehen, bestimmt.

 

Di 28.11.00  10:02  (28.11.72 tulcan/ecuador)

Anruf vom Verlag: man habe da eine Anfrage der Redaktion einer Bistumszeitung, ob man eine meiner Geschichten veröffentlichen könne, allerdings habe man wenig Platz, man müsse um einiges kürzen. - Kürzen? - Man habe schon gekürzt, es gehe wohl jetzt nur darum, ob Sie zustimmen oder nicht. - So? Nun ich weiß nicht, ich finde, dass man zunächst mich fragen sollte, oder? Schließlich ist es meine Geschichte. Ich kooperiere ja gern, aber so .... Ich erbat ein Gespräch mit der Redakteurin der Zeitung, danach würde ich weitersehen. Zwei Tage darauf rief sie mich an und erklärte, dass ich als Autor doch sehen müsse, wie werbewirksam so eine Veröffentlichung sei. Schließlich verweise man auch auf das Erscheinen des nächsten Romans, das rechtfertige den Kompromiss. Zähneknirschend sagte ich ja. Tags drauf kam die Kopie der gekürzten Geschichte: Mein Titel. Die Nikolausfalle. Dann Untertitel (der Redakteurin, nehme ich an): Wie der kleine Tuxe dem heiligen Mann eine Falle stellt. Herzig. 

 

Di 28.11.00  11:34 

...radio plays nothing but news, why don't you tickle me, there's nothing else to do...(6)

 

Di 28.11.00  17:11

Was ist, fragt sie. Ach nichts, sage ich. Ich dachte nur.... Was dachtest du? - Dass jemand hinter uns liefe. - Läuft aber niemand. Ja, ja, ich weiß. - 

 

Di 28.11.00  17:14 

ap/eigener bericht/koeln: M. vor 70000 entfesselten römisch-katholischen Katholiken: herzig wie er  sich da auf der Bühne vor diesen Menschen verbeugte. Allerliebst. Und dann erst die Gage. DM 78!!!  Davon kauft er sich was. Etwas Ungewöhnliches. Etwas, was er sich sonst nie kaufen würde. Ja. Ja, ja, ja!!! 

 

Mi 29.11.00  9:28   (28.11.72 san pablo del lago/ecuador)

Plötzlich war ein Foto aufgetaucht, von dessen Existenz niemand etwas geahnt hatte. Es zeigte einen Garten. Nach den Äpfeln am Baum zu urteilen musste es Ende Juli aufgenommen worden sein. Ein Mann  steht am Zaun und schaut in die Kamera im Nachbargarten. Er hat seine Hände in den Taschen vergraben. Im Hintergrund rechts sitzt eine Frau und beobachtet den Mann. Die Sonne scheint. Helles Licht und üppiges Grün beherrschen die Szene. Der Mann schaut interessiert. Man wird mit ihm reden können. Er wird zuhören. Die Frau müsste erst näherkommen. 

 

Do 30.11.00  10:27 (30.11.72 san pablo del lago/ecuador)

Ich lebe wie ein Fürst, ich lebe wie die Made im Speck, vertrödle die Tage, ich gehe spazieren,  in Cafés lese ich Zeitung, beobachte Menschen, ich lebe, als sei die Welt nur für mich gemacht, ich lebe in der Hoffnung, dass sich im nächsten Jahr so vieles ändern könnte. Ja. Alle Arbeit ist getan, und eine neue will ich noch nicht beginnen. Ich nehme die Zeit, um mir zuzuhören. Ich verlasse mich auf sie. Ich glaube nicht, dass sie mich betrügt. Und morgen werde ich zuschauen, wie mein Sender Bach'sche Orgelmusik für mein Hörspiel über den Mohren der Hülshoffs aufnimmt. Zeitvertreib. Die Welt stöhnt. Ich hingegen bin fest entschlossen, billiges Rindfleisch zu essen und meine kleinen Erfolge zu genießen. Also seid gegrüßt, Griesgrame, jeden Augenblick kann uns das Schicksal zu Brei stampfen, der Unterschied wird dann sein, dass ich vorher fröhlich und traurig war und ihr nicht.

 

Do 30.11.00  12:15

Ruhendes Kapitel: Bergen, 29. November (dpa) Zwei exzentrische Deutsche erfreuen mit ihrem königsblauen Rolls Royce die Betreiber eines Parkhauses im norwegischen Bergen. Wie die Zeitung Bergens Tidende am Mittwoch berichtete, haben die Brüder Hermann und Hermann Mensing ihr Luxusauto im März 1999 auf einem Parkdeck am Flesland-Flugplatz von Bergen abgestellt und seither nicht wieder vom Fleck bewegt. Bisher wurden ihnen dafür 55.000 Kronen (15.000DM) Parkgebühren in Rechnung gestellt, die die Deutschen anstandslos überwiesen. Eigentlich wollten sie den Rolls verkaufen, "andererseits ist es sehr praktisch, in Bergen einen Wagen stehen zu haben, falls wir mal vorbeikommen sollten", meinte Hermann Mensing. Er wisse aber nicht, ob und wann das passieren können. Nach seinen Angaben haben die Brüder zwei bis drei weitere Limousinen auf die gleiche Weise bei anderen Flugplätzen geparkt. 

____________________________________________________________

Zitate: 1. Max Frisch "Der Mensch erscheint im Holozän" // 2. Gert Neumann "Elf Uhr" // 3. Attwenger "Luft" //  4. Heinrich Heine 1844 //  5. Attwenger "Luft" // 6. Alan Price "Why don't you tickle me..."

(aktuell) -  (download) - (galerie) - (in arbeit) - (notizen) - (start)