bSeptember 2001                         www.hermann-mensing.de   

Die Alternative ohne den 11. 

zum letzten Eintrag

1.09.01  13:58

Werde jetzt Heimatdichter.  Schlage vor, mir zu diesem Zweck zunächst ein Haus auf dem Lande zu schenken. Das Denkmal im Ort bitte postmortal.  Noch etwas? Nein Danke. 

14:18

Gerade kam Nachricht, dass man mir ein schnittiges Auto zur Verfügung stellen wird, um die Heimat besser kennen zu lernen. Seine lieben Menschen etc. Es hat ABS, verfügt über eine Lenkhilfe, eine kleine Küche ist an Bord und man kann damit jede Menge nackte Weiber aufreißen. An letzterem bin ich nicht interessiert, denn dieser Sommer war überdüngt mit gepiercten Bauchnäbeln und Brüsten aller Größen und Formen. Schrecklich! Fordere Vermummung.  

 

2.09.01   12:36

Grauenhafte Verwicklungen. Niemand darf arbeiten heute. Nicht einmal Rasen darf gemäht werden. Was also tun? Welcher Täuschung aufsitzen, das Leben sinnvoll zu färben? Geschlechtsverkehr? - Nein, bitte nicht! Dann doch eher zielloses Herumfahren in Automobilen? Nein? Eher langes Sitzen mit starrem Blick ins Nichts, um die Nachbarn bei ihren Versuchen beobachten zu können, genau so zu scheitern, wie man selbst? -  Und wie wäre es mit ein wenig Kultur? Später vielleicht? - Kultur ist so erfrischend uneitel und für jeden da. Wir könnten doch heute Nachmittag zur Übergabe des Ernst Meister Nachlasses an das Westfälische Literaturarchiv fahren. Wir sind doch eingeladen. Wir würden dann hierher und dorther nicken und Sätze sagen. Nicht zu viele Sätze natürlich, aber doch Sätze wie "ach Sie auch hier, Sie dummes Arschloch".  Oder: "Das zu Erfahrende, das zu Verhandelnde heißt ich." So eingestimmt ließe sich dieser Sonntag doch sicher verbringen, ohne sich in aller Dummheit preisgeben zu müssen. Hierher, ihr Idioten aller Länder, hierher ihr Alphamännchen, klopft auf den Busch, macht so viel Radau wie nur möglich, kein Weibchen will euch. Arbeitet lieber. Immer mehr immer mehr. Danke ihr Wichser.  

12:50

Verfolgen Sie morgen und in folgenden Tagen den atemberaubenden Bericht einer Lesereise: Herr M. liest in fünfzehn Schulen, und nur eine hat im Vorfeld Interesse gezeigt. Den anderen ist scheißegal, was passiert, Hauptsache, im Oktober sind Herbstferien. 

 

 3.09.01        14:01

Lesereise erster Tag: schlief schlecht die Nacht. Schlief schlecht weil ich verschiedenes befürchtete, vor allem aber Desinteresse. Um halb acht heute früh stand ich vor meiner ersten Schule. Kannte sie noch von früher. Da war sie katholisch. Da empfing einen ein gekreuzigter Mensch, es roch nach Bohnerwachs, es war dämmrig, nur die milchigen Mondlampen leuchteten. Heute sah das schon besser aus: kreativ gestaltet. So, wie Grundschullehrer sich das vorstellen. Begrüßt wurde ich von einem alten Bekannten. Kein Wunder, ganz G. steckt voll von alten Bekannten. Also gleich beim ersten Job heute früh: Ach du, hier? Wir ham uns ja lang nicht gesehen. Stimmt. 30 Jahre, wenn nicht länger. Ich trank dünnen Kaffee, hörte Neuigkeiten aus der Vergangenheit, dann ging es nach oben. Aufgeregtes Stühle rutschen. Ein Knirps sagt, ich hab dich schon gesehen. Ich dich auch, sage ich. Er saß, als ich kam, auf dem Mäuerchen vor der Schule. So ein kleiner Blonder. Lese aus der Sackgasse 13. Sie funktioniert, aber schade ist, dass ich immer nur Bruchstücke schaffe in 45 Minuten. Sie als Zusammenfassung auf die Highlights zu reduzieren, finde ich zu schade. Aber gut. Wir verstanden einander. 

Zweiter Einsatz um zehn in einer Sonderschule. Man denkt dort, ich würde zweimal 45 Minuten lesen, aber das mache ich nicht. Rede mir ja auch so schon den Mund fusslig. Aber sie hätten doch zwei Gruppen, sagt der Direktor. Ich schlage vor, zweimal zwanzig Minuten zu lesen. Wir trinken wieder Kaffee. Dieser ist schon ein bisschen stärker. Wir sprechen über die alte Sonderschule, an die ich mich erinnere, das "Brettergymnasium", das noch früher eine höhere Tochterschule war, zu der meine Mutter ging. So kreise ich mich und meine Vergangenheit ein. Lesen werde ich in der Turnhalle. Topmodern das Ding, mit Möglichkeiten für Sound, Licht, Bühne. Die erste Gruppe setzt sich aus Kindern zwischen 8 und 10 Jahren zusammen. Lese "Die weggezauberten Eltern", einen Ohrenbären und lande damit auf fruchtbarem Boden. Der zweiten Gruppe, Schüler zwischen 12 und 16, lese ich "Die Reise ins Glück" vor. Sie lachen, wenn ich laut werde, etwa, wenn von "weißen Scheißern" die Rede ist, aber die Geschichte klickt durch. Einer sagt das zu mir, später, auf dem Schulhof. Mein Lohn. 

Dritter Einsatz um 12 in noch einer Grundschule. Mensing, sage ich, als ich ins Sekretariat komme. Man schaut mich an, man wartet, dass ich noch mehr sage. Ich lese hier, füge ich hinzu.  Ach Sie sind das! sagt die Sekretärin. Frau S. ist nicht da, ich seh mal nach, wo sie ist. Frau S., die Direktorin. Auch sie glaubt, dass ich zweimal 45 Minuten lese. Ich sage aber, dass da ein Missverständnis vorliegt. Ja dann, sagt die Schulleiterin, die nicht sonderlich interessiert scheint, ja dann. Legen wir die Gruppen zusammen, schlage ich vor, nehmen wir statt 70 als vereinbarte Höchstzahl einfach 100, ja? Gut gut. Und dann kommen sie, noch während der Lautsprecher im Musikraum irgendetwas quäkt. Presse ist auch da und hat schon erfahren, dass ich ziemlich enttäuscht bin über die mangelnde Resonanz der Schulen im Vorfeld. Sie haben das vom Schulamt, mit dessen Leiter ich darüber gesprochen hatte. Sie wollen in ihrem Artikel auch darüber schreiben. Ich lese "Pitti Pörtner und der kleine König". Und obwohl schon Mittag ist und dazu noch Montag, sind die Kinder mucksmäuschen still. Schön. Morgen mehr.  

18:06

Lieber Herr Mensing,

leider kann ich Sie telefonisch nicht erreichen. Deshalb jetzt dieser Versuch per Mail.
Wir haben letzte Woche unsere Veranstaltungen den Grundschulen angeboten und Ihre stieß auf ein sehr großes Interesse. Deshalb an Sie die Frage, ob  Sie sich vorstellen könnten, zweimal an dem Mittwoch, 14.11.01 in Hamm zu lesen? Dann müsste man allerdings die erste Lesung auf spätestens 9.00 Uhr legen, um gegen 11.00 Uhr mit der zweiten starten zu können.

Ja. Kann ich mir vorstellen. Alles ein Abwasch. 

 

4.09.01    13:57

Nachtrag zu gestern:

Westfälische Nachrichten 4.09.01

Traum bleibt Traum - oder nicht?

Das Klingelzeichen kündigt das Ende der Pause an, und das bunten Treiben in den Gängen schwillt an. Die Kinder scheinen ausnahmsweise nicht enttäuscht zu sein, dass das bekannte Signal sie wieder zurück in die Klassenräume lockt. Heute erwartet sie allerdings auch ein ganz besonderes Ereignis: ein Autor, ein richtiger Schriftsteller, wird ihnen eine Geschichte vorlesen - und das ist sicherlich spannender als Mathematikunterricht.

Spannung lässt Hermann Mensing dann wirklich aufkommen: er gestikuliert, springt auf, klatscht plötzlich in die Hände, legt sich auf den Boden und kommt seinem kleinen Publikum ganz nah. Die rund 100 Viertklässler der Eilermarkschule können sich der Anziehungskraft der Geschichte und des Geschichtenerzählers nicht entziehen: sie sitzen ganz still und lauschen gebannt Mensings Worten. 

Mensing entführt die Kinder in eine Welt, in der die Trennung von Traum und Wirklichkeit aufgelöst ist. Der kleine Pitti träumt, dass ihm ein grün bemantelter König aus dem Traumland ein A klaut und - siehe: er erwacht und kann kein Wort mehr richtig sprechen, das ein A enthält. "Mm" - statt Mama ist alles, was er herausbringt. Er erinnert sich an diesen Traum, aber Traum bleibt schließlich Traum, oder? Der kleine König jedoch ist nicht minder erschreckt. Er hat leichtsinnig die Morgenstunde missachtet, die gefährlichste Stunde der Nacht für einen Bewohner des Traumlandes, und findet sich nun in der Wirklichkeit wieder. Die beiden werden viel erleben, bevor Pitti Pörtner wieder sprechen kann und der König ins Traumland zurück gefunden hat. Denn: wer glaubt schon jemandem, der von einem kleinen grünen König erzählt, der Buchstaben klaut und im Traumland lebt? 

Mensing empfindet auf überzeugende Weise die Sprachschwierigkeiten des kleinen Pitti nach - und bringt die kleinen Zuhörer samt ihrer Lehrer so immer wieder zum Lachen. Auch die Lehrer zeigen sich nach der Lesung beeindruckt. So ruhig haben sie ihre Schützlinge noch nicht erlebt. (...)

Nach der Lesung bombardierten die Kinder Mensing mit unterschiedlichsten Fragen zu seinem Beruf: Wie lange bist du schon Autor? Wie viele Geschichten hast du geschrieben? Und nicht zu Letzt: Wieviel Geld hast du verdient? 

Mensings Antwort lässt nicht lange auf sich warten. "Fünf Trizzillionen Mark" sagt er und erntet ein einstimmiges "Cool." (Birgit Nienhaus) 

Lesereise zweiter Tag:

Gut gemacht, Frau Nienhaus. Wären Sie heute gekommen, Sie hätten etwas ganz anderes erlebt. Desinteresse. Unfähigkeit, auch nur zwei Sätzen zuzuhören. Aber das ist eine andere Geschichte. Davon später. Zunächst nämlich eine Fahrt durch mausgraues Regenland. Eine Schule, in der niemand so recht weiß, wo denn das, weswegen ich gekommen bin, stattfinden soll. Und wo man auch glaubt, ich würde zweimal 45 Minuten lesen. Aber wo? - Nun, man macht sich auf den Weg und versucht das zu klären. Als man den Raum nach zehn Minuten gefunden hat, sagt man mir, ich solle schon mal hineingehen, die Gruppen kämen dann gleich. Ach ja. Danke für den freundlichen Empfang. Und dann kommen sie: Hauptschule, Schüler der Klasse 5, also gerade 10 Jahre alt, vielleicht ist der ein oder andere auch schon 11 oder noch neun. Schwierige Klientel also. Was es denn sein soll? frage ich. Finger schießen in die Höhe. Man will Horror. Schätze, damit kann ich nicht dienen. Biete aber eine "Nachtwanderung" an. Eine Protagonistin der Geschichte heißt Anna. "Immer heißen welche Anna!" sagt einer in der ersten Reihe. Ich unterbreche. Wie soll sie denn sonst heißen? "Bertha" sagt er. Gut. Nenne Sie also von nun an Bertha und habe ihm damit zunächst das Maul gestopft. Große Gruppe, weiß nicht, wie viele Kinder. Aber die Geschichte funktioniert ganz gut. Nicht, dass sie mich auf Händen tragen würden, nein, dafür sind sie schon viel zu abgeklärt, sie sehen ja von früh bis spät Haarsträubendes, aber zumindest lassen Sie mich in Ruhe lesen.  Biete ihnen als Zugabe den "Elefant", eine heftige Geschichte. Immer, wenn es heftig wird, und ich laut werde beim Lesen, lachen sie. Das ist in Ordnung, sie müssen den Schreck weg lachen. 

Die zweite Gruppe besteht aus Schülern der achten und neunten Klasse. Bunter Kulturenmix. Lese deshalb "Die Reise ins Glück". Auch hier Lachen bei lauten Stellen. Lachen, wenn von "weißen Klugscheißern" die Rede ist. Lachen, wenn ich "Asyl" sage. Zugabe ist "Ballade von einer Kanakenstadt". Noch Fragen? Nein, keine Fragen. Bloß weg hier, bloß nicht anfangen zu denken. Weg weg weg. 

Die nächste Schule. Untergebracht im ehemaligen Gymnasium der Stadt, damals feinstes Viertel. Erinnere mich gut, wie mich der Direktor 1968 abblitzen ließ, als ich nach meiner Lehre dort mein Abitur nachmachen wollte. Damals galt in G. noch, dass man das Abitur den Kindern Besserverdienender vorbehalten sollte. Heute ist diese Schule eine Hauptschule und man hatte mich gewarnt. Hoher Anteil Russen. Türken. Alle Welt. Sozial komplizierte Familien im Hintergrund. Aber nicht die Russen und Türken nerven, sondern ein kleiner weißer Dicker in der ersten Reihe, der alles längst weiß und das demonstrativ vorführt. Der kommentiert. Der aufsteht, wann er will. Das schärfste an dieser Lesung aber ist, dass keiner der zwei anwesenden Lehrer eingreift. Die sitzen einfach da und lassen mich hängen. Ich lese "Alles ist gut, gar nichts". Hätte vielleicht eine andere Geschichte auswählen sollen. Aber die wäre ihnen wahrscheinlich zu albern gewesen. Ich mache den Kindern keinen Vorwurf. Sie tun mir leid. Sie haben keine Chance. Und das Schulsystem kann nichts tun, um sie da rauszuhauen. Der Grund ist simpel: es fehlt an allem. Vor allem aber an Geld. Und es scheint, als stünde dahinter System. Die Folgen dieser Mangelwirtschaft werden so gravierend sein, dass man sich in einigen Jahren wünscht, man hätte vorher eingegriffen. Aber dann ist es zu spät. 

 

5.09.01     16:17

Lesereise dritter Tag: heute lobe ich mich. Ich war gut. Die Kinder waren gut. Meine Geschichten waren gut. - Erste Schule - komische Adresse: Gasstraße. Reiner Waschbeton aus den goldenen Siebzigern, eine Pausenhalle mit Scheinwerfern, Pult, Mikro und Schülern  einer Hauptschule, die ganz anders waren, als die gestern. Offenbar wollten sie mir eine Chance geben. Offenbar hatten sie Interesse. Und mir schien, dahinter stand ein Lehrer, der informiert war. Hatte meine Website gecheckt und wusste, wo der Hase läuft. Ich schaute mir die Schüler an und entschied, mit "Leider Lila" zu beginnen, eine Geschichte, in der Mädchen die Hauptpersonen sind. Sonst sind es immer Jungs. Und da Jungs häufig Großmäuler sind, schien mir das nicht ganz ungefährlich. Risiko! Und? Gewonnen. Sagte ich nicht, heute sei mein Tag? Ja. Sagte ich. Als zweite Geschichte bot ich "Die Reise ins Glück" an. Da ein Mikro vor mir stand, blieb ich leise. Sagte "na, ihr weißen Klugscheißer" und man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Als Zugabe gab es "Der Elefant", und auf die Frage, wo man all diese Geschichten lesen könne, zeigte ich meine Bücher her und verwies auf meine homepage. Ja. So ist er, der moderne Autor. Suizidgefährdet, drogensüchtig, hompage-abhängig, hochgradig depressiv und immer für die Kunden da. 

Dann zur einzigen Schule, die im Vorfeld der Lesungen Kontakt mit mir aufgenommen hatte. Ich dachte, so etwas müsse belohnt werden, und bot den Kindern daher eine kostenlose Zusatzlesung an. Sagte, wann immer sie möchten, ich würde kommen. Das gefiel ihnen. Las aus der "Sackgasse 13". Ließ mir viel Zeit. Las nicht so, als müsse ich den Roman in 45 Minuten umfassend erzählen, sondern so, dass keine Nuance verloren ging. Und das funktionierte. Je langsamer ich lese, desto mehr blüht der Text. Im Anschluss an diese Lesung Fragen über Fragen. Die Grundschüler hatten sich vorbereitet. Sie hatten Zettel dabei. Wie alt bist du? Wie groß ist dein größtes Buch? So groß wie ein Kleiderschrank ungefähr, antwortete ich. Und wie schwer bist du? Zwei Tonnen. Wie lange brauchst du für eine Geschichte? Wie machst du das? Woher nimmst du deine Ideen? Schön war das. Und dann: Autogramme schreiben. Ca. 60 - 80. Und noch fünf Minuten Pause, bis zur nächsten Gruppe. Drittklässler diesmal, denen ich "Pitti Pörtner" vorlas. Pitti bringt mich immer auf die sichere Seite, aber das war nicht der Grund. Ich wollte nur nicht zweimal das gleiche lesen. - So weit die ultimative Lobhudelei für heute. Morgen weitere drei Lesungen. Dann Freitag noch und schon ist die Woche vorbei. 

 

6.09.01     16:54

Lesereise 4. Tag: Las an drei Schulen. Die erste in Gronau, nicht weit von der Straße, in der Onkel Hans früher lebte, mein Lieblingsonkel, ein Quartalssäufer und Schuldenmacher. Seltsame Skepsis empfing mich. Nicht einmal der Direktor war informiert. Er versuchte mich auszufragen wie bei einem Verhör. Bockte und hielt hinterm Berg. Als dann noch die Lehrerinnen kamen, in deren Klassen ich lesen sollte, verdreifachte sich dieses Gefühl. Natürlich war man auch hier davon ausgegangen, ich könne ohne weiteres zwei Mal 45 Minuten lesen. Wieso man sich denn nicht mit mir kurzgeschlossen habe, fragte ich, und erhielt als Antwort, man habe die Informationen über die Veranstaltungen ja erst gestern zum ersten Male gesehen. Biete, wie schon vorher, zwei kurze Gruppen je 20 Minuten an. Der ersten lese ich "Die weggezauberten Eltern" vor. Man ist reserviert, aber man hört zu und schenkt mir den ein oder anderen Lacher. Der zweiten Gruppe lese ich aus der "Sackgasse" und hier ist die Stimmung vom ersten Satz grundlegend anders. So anders, dass ich die Kinder "lähmende, durch Mark und Bein fahrende" Geräusche produzieren lasse, die auf mein Zeichen abbrechen. Klappt! Haben viel Spaß. Gebe jedem ein Autogramm. Autogramme sind offensichtlich etwas Tolles. Die Kinder stehen in Reih und Glied und halten mir Hefte hin und kleine Zettel und Stofftiere und Etuis. 

Die zweite Schule dieses Morgens steht unterm Schutz des heiligen Georg. Ein Quotenmann sitzt verschüchtert im Lehrerzimmer, die übrigen Personen sind Damen, die rauchen und Kaffee trinken. Man hat den Messe- und Musikraum vorbereitet, auch hier lese ich die "Sackgasse". Ich raffe hier und da, ich schaffe in dreißig Minuten ca. 20 Seiten, die ersten 20 Seiten des Romans, und auch hier sind die Kinder Schätze, die begierig hören und mitmachen. 

In der dritten Schule, der Schule des Heidedichters, kommen fast hundert Kinder in einem viel zu kleinen Musikraum unterm Dach zusammen. Nach fünf Minuten ist es schon heiß wie in einer Sauna, es ist nach Mittag, ich habe zweite Klassen vor mir, also Kinder, die gerade sieben Jahre alt sind, vorn sitzt so ein blondes kleines Mädchen und tippt mir, während ich lese, innerhalb von zehn Minuten ein- zwei- drei- viermal auf den Fuß. Beim fünften Mal sage ich, hör mal, wenn du mir noch mal auf den Fuß tippst, haue ich dir dafür jedes Mal auf den Kopf. Sie lacht, ich lache, dann lässt sie mich in Frieden. Auch hier machen die Kinder die Geräusche zum Hören, und als ich zum Schluss frage, ob es schon Vermutungen gäbe, worum es sich bei diesem Spuk handle, sagt einer "eine Tarantel". Ich verrate nichts. Auch in der anderen Schule habe ich nichts verraten und beim Autogramme schreiben gesagt, es sei ein Kamel, aber das hat niemand geglaubt. Noch ein Satz zu den Lehrerinnen: bei einigen hatte ich das Gefühl, dass sie Kinder nicht lieben. Dass ihnen Kinder eher lästig sind, ja, dass sie deren Existenz nur mühsam dulden, und darauf warten, möglichst bald zu heiraten. Strohdumme Tussen. Die Kinder sind wundervoll. Morgen ist mein letzter Tag. Morgen kehre ich an meinen Ausgangspunkt zurück, an die Schillerschule. Mal sehn, wie das wird. 

 

7.09.01    15:31

Lesereise fünfter (und letzter) Tag:

Zickezacke Hühnerkacke. Mäuse furzen. Am Arsch der Welt wohnen. Pippi. A-A. Mal angenommen, ich würde meine Geschichten mit derartigem spicken, wären die Lacher auf meiner Seite. Wenn ich zudem noch zu vordergründigem Spektakel neigte, könnte ich mir sicher bald ein Häuschen kaufen. Da ich aber eher sparsam bin und das Leise dem Lauten vorziehe, wird es mit dem Haus vielleicht noch ein wenig dauern. Drei Schulen heute. Die erste idyllisch am Stadtrand, mit einem wunderschönen Schulhof im Schatten alter Linden. Im Musiksaal versammeln sich zwei vierte Klassen, denen ich die "Sackgasse" vorlese.  Reserviertes Zuhören zunächst, es ist Freitagmorgen, gerade nach acht, aber so gegen halb neun tauen die Kinder auf. Ich bin da schon schweißgebadet, aber das macht nichts. Die Fragen sind die üblichen, die Schlüsse, die gezogen werden, zielen bis auf einen alle in die falsche Richtung. Was mir gefällt, denn schließlich soll man seine Leser ins Bockshorn jagen, sie auf falsche Fährten schicken, zappeln lassen. 

Die zweite Schule ist meine Schule. Dort habe ich die ersten vier Jahre meines Schuldaseins verbracht. Dort habe ich Eckhard, der einen Wasserkopf hatte, verspottet. Dort habe ich Mutti zu einer Lehrerin gesagt und bin darauf selbst Ziel zahlloser Spottattacken geworden. Dort habe ich Doris R. verhauen und Ronald V. in den Arsch getreten. Dort habe ich von einem Lehrer, dessen Name mir entfallen ist, eins mit dem Rohrstock auf die Finger gekriegt, dass sie bluteten und von dort bin ich weg, um zur Realschule zu gehen. Ich habe dieses Gebäude in all den Jahren immer wieder gesehen, aber betreten hatte ich es seit 1960 nicht mehr. Das Schulklo im Keller, das man durch Schwingtüren vom Schulhof betrat, ist nicht mehr da. Das fiel mir als erstes auf. Drinnen sieht die Schule aus, wie Grundschulen heute aussehen, ich sprach schon davon: kreativ. Die Lehrer sind weiblich, Mitte 20 bis Anfang 40, freundlich. Ich lese unterm Dach, ein schöner großer Raum, früher wahrscheinlich der Dachboden. Drei Klassen  hören mir zu, oder vielleicht waren es vier. Was die Sache kompliziert machte, war, dass es zwei zweite Klassen und zwei vierte waren. Was sollte ich denen lesen? Den Kleinen wäre dieses zu groß, den Großen jenes zu klein. Da jedoch auch die Großen noch ziemlich klein aussahen, las ich ihnen "Pitti Pörtner" vor und fuhr ganz gut damit. Das einzige, was mich gestört hat, waren die ständigen  Maßregelungen der Direktorin schon bei kleinen Störungen. - Checkten anschließend meine Homepage, konnten aber nicht zugreifen, da der Zugriff angeblich nicht möglich, sondern verboten war. Seltsam.

In der dritten Schule hatte man die Turnhalle für meine Lesung vorbereitet. Dritte Klassen, etwa 70 Kinder in einer Halle, in die fünfhundert gepasst hätten. Ein Mikrofon war da, und, zum zweiten Mal in dieser Woche, eine Flasche Wasser und ein Glas. Man hatte also mitgedacht. Jeder, der mitdenkt, ist mir auf der Stelle sympathisch. Die Kinder waren nicht mucksmäuschenstill, aber sehr empfänglich. Ein Mädchen hielt sich sogar die Ohren zu, wenn sie glaubte, dass es gefährlich wird. Las die "Sackgasse". Beste Frage zum Schluss: wie das denn wäre mit einem Buch, zu Anfang wären die Seiten doch leer, oder? Doch ja, sagte. Sind sie. Ach ja: checkten auch dort meine homepage. Hier hatten wir kein Problem mit dem Zugriff, obwohl alles übers gleiche Programm lief. Manchmal sind sie halt komisch, die Server. 

 

8.09.01    10:25

Mein Herz rast noch. Es hat sich aufgeregt. Es hat ihm einiges abverlangt, sich vor so vielen Kindern zu produzieren. Ich werde nichts tun müssen jetzt. Ich werde still werden. Ich werde langsam gehen und lesen und versuchen, es wieder in Takt zu bringen. Ich werde nicht schreiben. Am liebsten nicht denken. Ich würde mich in künstlichen Schlaf legen und dann in Wien erwachen. So etwas sollte ich tun. Meinem Herzen zuliebe. Wie es poltert und seltsame Sprünge tut. Äußerlich bin ich ruhig. Ansehen tut man es mir nicht.

by the way: es nicht nicht ganz einfach, die homepage upzudaten. connenction failed homepages.compuserve.de ist die häufigste meldung im augenblick. 

17:22

War Zuschauer eines Fußballspieles zweier B-Mannschaften. Jungen um die fünfzehn, sechzehn. Der Trainer der einen Mannschaft gefiel sich darin, seine Spieler lautstark zu diffamieren. Einem langhaarigen Jungen rief er zu, ob er Probleme mit seiner Frisur habe, er nannte ihn kleines Mädchen, schrie Spielern zu, sie seien Luschen, schrie, ob sie zu viel Sangria getrunken hätten. Alkohol ist bei Fußballern keine Droge. Erhöhter Alkoholkonsum gilt als normal, zumindest verzeihlich. Mir ist diese Szene zum Kotzen.  

 

9.09.01   10:51

Scheint, dass frühes Schlafengehen hilft. War um halb neun verschwunden gestern. Heute geht es schon besser. Der Herz poltert nicht mehr. Es geht wieder im Takt. Bis jetzt jedenfalls. Was das updaten angeht, noch immer keine Besserung. 

14:28

Wir sind wirklich nichts Besonderes, wissen Sie, selbst eine Kartoffel hat mehr Gene als ein Mensch, hat man jetzt herausgefunden...

17:00

menschen:tiere:sensationen:

heute: schulleiter/innen: zunächst das, was mir als erstes einfällt: der schulleiter meiner realschule betritt unsere klasse. wir hatten jemand anderen erwartet und die tür ausgehängt. freudige erinnerung. wie er da so reinstolpert mit der tür in der hand und sich fast aufs maul legt. 

A:  ist grundschullehrer geworden, weil der direktor der schule, der er nun selbst vorsteht, ein freund seines vaters war und manchmal an samstagnachmittagen bei ihm zu hause auftauchte, um mit dem vater eine sauftour zu machen. mein alter, steht einem kollegium von frauen vor. einsamer mann unter frauen. B: war früher hauptschullehrer. mag die pädagogischen herausforderungen seiner schule. eine sonderschule. wirkte pädagogikfreundlich. C: war gar nicht da, als ich kam, war unterwegs irgendwo und als sie dann kam, nicht sonderlich erfreut. D: war auch nicht da. später dann beklagte sie ihre aufgabe: die fehlenden mittel. das ständige jonglieren am rande der zahlungsunfähigkeit. ob sie die kinder liebt? hatte zweifel. E: begrüßte mich herzlich, verschwand dann aber sofort in sein büro, um dort unsichtbar zu werden. nur der konrektor schien sich für das zu interessieren, was ich tat. F: straff geführte schule, halbwegs vorbereitet, auch eine flasche wasser war da. man wünscht mir was. ich mir auch. G: hatte im vorfeld mit mir gesprochen, erzählte mir von seinen meditationen, die seinen magen beruhigen. machte mich mit einem maler bekannt, der mir eine illustratorin vermittelt hätte, hätte ich ja gesagt, ja, die will ich, aber ich wollte sie nicht. H: der skeptiker, der ausfrager, der kühle, gut gekleidete, später freundliche, der. I: die nur vorübergehende. K: der überhaupt nicht auftauchende. stattdessen ein mir bekannt vorkommender lehrer, der aber gleich nach der begrüßung verschwindet. L: der sich beschwerende, der über rahmenbedingungen klagende, der kaum noch zu etwas kommende, korrekte gekleidete, der. M: die nicht gewillt war, sich die stimmung durch meine frage verderben zu lassen, warum man sich nicht mit mir in verbindung gesetzt habe, die verkniffene, ständig ermahnende, die ohne langen atem, die kinder nicht unbedingt liebende, die. N: der beeindruckte, der kühle, der das schon machen wird, der. auch der, der an wasser gedacht hatte. 

tiere: platt gefahrere kaninchen, ein toter fuchs. sensationen: die kinder. ansonsten: übereinstimmungen mit der wirklichkeit wären rein zufällig. 

 

10.09.01    15:11

So weit sind wir: man bietet uns einen Vertrag, obwohl noch kein Wort auf Papier steht. Kein Thema, keine Einschränkung, nur ein Ablieferungsdatum und die Bitte, es möge ein Weihnachtskrimi sein. Das ehrt uns. Und - wohin wollen wir? - Wir wollen einen Vertrag plus Vorschuss, der unser Überleben auf absehbare Zeit sichert. Und, schaffen wir das? Sicher schaffen wir das. Wir baggern wie blöde. So vergeht unser kleines Leben mit Dummheit. Aber wir können es nun mal nicht ändern. Wir werden nie sagen können, das haben wir nicht gewollt. Wir wollten es. Und so müssen wir damit leben. 

15:29

Und dann sowas: 

Lieber Herr Mensing,

habe Ihr Werk gelesen und für zu dünn befunden. Der Start ist immer noch prima, der Rest verquarst. Viele schöne kleine Ideen sind verschossen, die Charaktere werden nicht ausgespielt. Bei Moni frage ich mich, warum sie überhaupt auftaucht...
Das Zeitkarussell erschließt sich weder in Text noch Sinn;  warum und wie die
 Zeitsprünge nun eigentlich zustandekamen ebensowenig. Die Reime sind sehr aua. Und was sollen Kommissar Holzauge und Zeitfresser dazwischen?

Machen Sie noch einen Versuch?

Schöne Grüße - 

Was sagt man da? Nichts sagt man. Das ist eine Aufforderung, weiter zu machen. Nicht aufzugeben. Ihnen zu zeigen, was eine Harke ist. So muss man das lesen.

 

11.09.01     9:39

guten tag frau...
hochmotiviert von ihren geradezu hymnischen einwänden zu meiner arbeit bin ich gern bereit, einen weiteren versuch zu unternehmen, sähe aber im vorfeld gern folgende fragen geklärt:
was verstehen sie unter verquarst?
welche ideen sind schön und verschossen?
welche charaktere werden nicht ausgespielt?
es handelt sich doch um eine recht einfache geschichte und alles ist schon im vorfeld angelegt (die fehlende kleidung, die reporter, lingelinns vorhersagen), um sich dann zu erfüllen.
was moni angeht. moni taucht auf, weil sie teil der familie ist. darum.
warum zeitsprünge zustande kommen, weiß auch ich nicht, ich weiß nur, dass es sie gibt.
die reime sind nicht aua, lingelinn ist ein wenig ausgeflippt, jedenfalls die lingelinn, die ich mir vorstelle.
also, wie gesagt, ich bin gern bereit, noch einen versuch zu machen.
zunächst aber fahre ich nach wien um dort zu lesen
anfang nächster woche wäre ich bereit, durchzustarten.
schönen tag wünscht
hermann mensing

17.09.01    

Wir waren in Wien, Mensing. Wir haben in Wien gelesen, Mensing. Wir sind zurück jetzt, Mensing, und wir sagen, wie's war, dieses Wien, dieses imperiale Wien am Rande des Balkan. 

off we go:  

wien 14.09.01  

19:55 regen fällt auf die festgesellschaft, die im schatten der votivkirche unter bäumen feiert, lautstark und lachend. blitzlichter zucken, unterwasserfotos werden gemacht, blitzlichter, während ich auf der fensterbank lehnend hinausschaue und höre, wie die tropfen auf dem verbleiten sims wienerisch schlagen. so fängt das an. müde bin ich, sehr müde. werde paradeisersalat mit mozarella und basilikum essen im café roth, werde bandnudeln verspeisen und ein achtel weißen dazu trinken und dann, später noch, werde ich sehen, ob auch ich dem wiener platzregen trotzen kann. 

20:43 in wien sein. auf den rooseveltplatz blicken. allein sein. in wien sein, wo der regen dick ist und ich ohne schirm bin. wenn ich nur erst zuende gegessen habe, wird es aufgehört haben und ich gehe ins jazzland. 

20:50 natürlich gibt es genug zu sehen und zu beschreiben. etwa diesen radfahrer, der die währinger  richtung schottentor jagt. sein orangefarbener regenumhang bläht sich wie ein fallschirm, aber will ich das wissen? 

20:55 ich lebe nur einmal, insofern werde ich zahlen, was immer es kostet. aufschrift auf einer straßenbahn: planlos? wir holen dich da raus.  www. falter. at.

21:50 im lesezelt neben dem burgtheater: was von leichen wird gelesen. ein zelt, durch das feuchte luft zieht und gemurmel. schaue mich nach gesichtern um, kenne keines. komm setz dich her, da ist dein platz. junges volk in dieser regennacht. immerhin: unter menschen. *** im zug bistro setzte ich mich neben diesen ungeschlachten mann. noch jung war er, knappe dreißig, aber schon grau, die augen hinter dioptrenstarken gläsern. da sitzt mein freund, sagt er. meint er den polizist, der gerade vorher aufgestanden war und mir den platz angeboten hatte?  ja, ja, sage ich, wenn er dann wiederkommt, steh ich schon auf. das hört er nicht mehr, denn er starrt vor sich her, starrt auf das land, das vorbeifliegt und verwischt und stößt plötzlich worte aus: braun braun braun etwa, oder wolken wolken wolken. explodiert fast dabei. später seh ich ihn nochmal. wieder dieses wort-stammeln: lok lok lok. *** wolfgang bauer liest derbes. *** franzobel liest noch derberes.  ***  anne bennent liest und otto lechner spielt akkordeon dazu. frau bennent lebt ihren text nicht. otto lechner wirkt todwund wie er da sitzt, blind, die augen hinter einer sonnenbrille, den 3/4 kahlen schädel, das strähnige lange blondhaar hinten, sein instrument nach gutdünken bearbeitend.  *** nasse füße auf dem heimweg. 

15.09.01

8:45 beim frühstück im café roth. so ein androgyner 16 jähriger serviert. unvergleichlich lässig wie er daher läuft, den linken arm angewinkelt, die finger der hand bis auf daumen, zeige- und mittelfinger gewinkelt,  erstere seltsam gespreizt nach vorn weisend. mittelblond, der kragen seines weißen hemdes zu weit, die schwarze fliege sitzt ungeschickt. eine rothaarige sehr hübsche auch. mein personal sozusagen im **** hotel, das ein sehr schönes bad hat, lachsfarben, beige, grün und silbrig die streichholzschachtelgroßen mosaiksteine. *** bin ich gespannt auf mein publikum? ja, bin ich. sehr. sah gestern kein zweites lesezelt.  *** und wieder gilt: jeder ist seine eigene karikatur. *** portugiesen, alles voll mit portugiesen. *** im literaturzelt. rilke wird gelesen, rilke und die briefe einer erika mitterer an ihn, den verehrten. *** streife ein wenig herum durch das samstägliche wien, das sich gerade aufmacht, zu erwachen. sah einen schlawiner auf dem kutschbock eines fiakker. (?) strizzi nennt man den schlawiner in wien.  *** 

11:50 ueberreuter hat einen stand vorm zelt, muß mich also nicht mehr mit frau k. vorm burgtheater treffen. im kinderzelt das theater heuschreck. was die mit bunten kostümen, langen nasen, gitarren und trommeln machen, schaffe ich nur mit text. gleich. wir werden ja sehn. *** sah colin powell auf cnn. er sagte sinngemäß, man habe alle operativen optionen, aber denkbar sei natürlich, dass man zunächst die diplomatischen kanäle nutze. *** 

16:47 sitze auf einer bank auf dem leopoldsberg, schau auf die donau, die weinberge um grinzing und die diesige stadt, ein brunnen plätschert, ein kühler wind weht, kann, glaub ich, sogar den prater sehen. mit dem nächsten bus geht es zurück in die stadt. grinzing schenke ich mir und fahr stattdessen zum café landmann, esse eine kleinigkeit und sehe dann zu, dass ich karten für den nestroy bekommen. *** 

18:15 im café landmann. diesmal allein ohne, frau d., frau h., frau j., frau sch. und  habe eine karte für die burg. war billiger als eine tasse kaffee. 25 schilling für die galerie seite rechts, platz 9. *** in der straßenbahn gerade ein doppelgänger von dave dem saxophonisten. das gleiche gesicht, der gleiche akzent eines deutsch sprechenden engländers, beängstigend fast. war nur ein wenig dicker als dave. *** kellner heißen hier herr .... (vorname) heute mittag bediente uns ein herr rudolf. *** der wein ist zu süß. vorsicht. *** die ideale figur für den österreichischen kellner ist der buckel. dazu passt der schwarze anzug, das weiße hemd, die fliege. wie er da um die ecke schießt, ein tablett auf den fingerspitzen der gespreizten linken hand hoch überm kopf. servil. das ist wien. und schon wieder geistert meister e. fuchs durch das café, dessen bilder ich nicht sehr schätze und dessen funkelnde steine, die er an einem kettchen um den hals trägt, und die sicher echt oder unecht sind, ich äußerst albern finde. chris sagt, seine mützen wären scharf. finde ich auch nicht. muss aber dazu sagen, dass surrealisten mir sowieso ziemlich egal sind. *** herr reinhard bedient mich. auf meine frage, ob ich es noch schaffe könne, eine kleinigkeit zu essen, eh der nestroy begänne, nickt er und bedient mich flott. esse schinkenfleckerl.  *** nestroy: der zerrissene: eine art millowitsch-theater. tricks im bühnenbild, exotisch- bis einheimisch die musik, unterhaltsam, witzig, bissig und manchmal anstrengend, wenn man so in der galerie über der brüstung hängt und versucht zu sehen.  *** 

21:30  wieder im café landmann und die wirklichkeit ist so umfangreich, dass ich's kaum aufschreiben kann. und wenn ich nach plan vorginge?  1. vor der lesung. 1.1 treffe die verlagsfrauen 1.2 die moderatorin wird mir vorgestellt oder umgekehrt, man stellt mich ihr vor. 1.3 ICH LESE  2. nach der lesung 2.1 allein unter frauen im café landmann. 2.2 frau j. zahlt aus dem mensing-fond. 3. theater: mein gespräch über peymann und dessen "nathan der weise" inszenierung, die 30 schauspieler, die er von bochum mitbrachte, die blutige skulptur, die ein drittel des zuschauerraumes einnahm, die unappetitlichen kostüme etc. 3.1 die portrait galerie im foyer, in die nur die besten burgschauspieler aufgenommen werden. steigerung dieser ehre: das ehrengrab. auch das typisch österreich. 

 

18.09.01    9:26

fortsetzung wien: 

22:50 4. nach dem theater. teilte den tisch im landmann mit einem pensionierten juristen der polizei, der wegen der literaturnacht nach wien gekommen war, und festgestellt hatte, dass er einen tag zu spät war. da würde seine frau ihn aber auslachen! wir reden. so nach und nach stellt sich heraus, dass er schreibt. nicht beruflich, nein, nur so, für sich. sein letztes gedicht handelt von clintons beziehung zu monica lewinsky. er versprach, es mir zu schicken. bin gespannt. *** herr anton bedient uns, der bucklige herr anton. mitten in wien. könnte ihn auf der stelle zum helden einer geschichte machen und jeder hätte gelegenheit, sich ihn anzuschauen, wie er da um die ecke schwebt mit leicht vorgereckten kopf, der natürlich doppelt gereckt ausschaut, weil der buckel die perspektive verändert. - ja. könnte ich. lasse es aber. ich bin ja noch nicht einmal mit meinen schullesungen fertig. ***

00:30 jazzland. storyville heißt die band und genauso spielt sie. jammernde klarinette, durchgeschlagener beat der bassdrum, schlagbass und alles übliche. ich kann nicht recht darüber lachen. werde wohl besser gehen, schon wegen der beiden zigarrenraucher links neben mir. *** zurück immer der nase nach, vorbei an schummrigen kneipen. eine heisst hölle. ich zögere, gehe dann aber doch nicht hinein.

16.09.01  

9:25 sitze im ice, der erst in knapp einer stunde abfährt, habe einen sicheren platz bis kassel, bin nicht zu weit vom speisewagen und schätze, dass ich plus/minus null aus dieser ganzen sache herauskomme. gelesen, gegessen, gut geschlafen, also ab die post. ***

11:30 herr reinhard, kellner im landmann, fragte mich gestern abend, als ich das café verlassen wollte, ob es mir im theater gefallen habe. hat also ein gutes auge, der mann. hatte mich ja erst drei stunden vorher zum ersten male gesehen. wünscht mir alles gute, hofft, dass wir uns vielleicht im nächsten jahr wiedersehen. profis, dieses herren reinhard, anton und wie sie alle heißen. ***

12:15 nach linz. vorm bier im zugbistro. warte auf meine kartoffelsuppe. draußen wird land vorbeigejagt. weiß nicht, wo sie all die kulissenschieber herkriegen. *** schön ist das, dieses gleiten durch landschaft, dabei essen, trinken und sich bewußt werden, dass man, was immer man tut und wie immer man auftritt, es nie zu mehr als zur darstellung seiner eigenen karikatur bringt. das erheitert am sonntag danach. ***

13:00  das rennen der regentropfen auf den scheiben setzt wieder ein. manchmal sind es einzelne, die sich zu strömen vereinen, ströme, die in unterschiedlichen geschwindigkeiten über das fenster fließen, mäandern, sich zu einem großen vereinen und am entgegengesetzten ende der scheibe verschwinden. man könnten wetten abschließen, wenn man wettsüchtig wäre. ***

13:35 nach passau. grüß gott. personalwechsel. die fahrscheine bitte. *** ausweiskontrolle, die alle angeht, nur ich werde ausgespart. das sind die vorteile des alters. hatte das auch schon genau anders herum. gehörte lange zu den bevorzugten individuen der fahnder. wie sich die zeiten ändern! dabei ist mein kopf heute radikaler als damals. aber das sehen sie nicht, die herren in grün. ***

15:30 nürnberg. ab regensburg bis hierher saß eine junge frau neben mir, die ein gothic magazin las. kamen ins gespräch. scherzte über weiß geschminkte gesichter, spinnweben im haar und fledermäuse am revers. sie fand das lustig. nannte mir ein paar gruppen, die sie gern hört: das ich - lakrimosa - silke bishop. als sie ausstieg, wünschte ich ihr schöne totengedanktage im november. sie lachte und freute sich. ***

18:10 völlig überfüllter zug richtung hamm. durch kluges stehen und frühen einstieg in den bistrowagen hatte ich mir strategische vorteile erarbeitet, denn ich war schon im wagen, als die nach kassel reisenden noch in schlangen ausstiegen und die ab kassel reisenden noch auf dem bahnsteig warteten. habe also einen sitzplatz. ***

18:30 klares, farbenspendendes licht um warburg. vorhin, gleich nach kassel, machte das bordeaux-farbene erde. drei vier äcker weiter war das schon wieder vorbei. *** mein gegenüber trägt eine schwarze jeans, schwarzes jeans-hemd, schwarze lederweste und ein unterhemd mit schwachen v-ausschnitt und einem bündchen mit feinen ornament-stickereien. sagt man so??? - so eines mit verzierungen??? - liest eric ambler. trägt schwarze camper-boots und kommt aus dresden. *** links neben mir sitzt ein monströs fettes mädchen. ihre knie sind bei all dem fett kaum auszumachen. alles quillt und ist dick wie elefantenbein.  *** habe mich gleich nach lippstadt mit einem bier ins 1. klasse abteil vorm bistro gesetzt und wurde gleich darauf kontrolliert. fürchtete schon, mich rechtfertigen zu müssen, aber der schaffner hatte keine beanstandungen. "halbe stunde noch" sagt ein mann schräg gegenüber zu seiner lesenden frau. die nickt nur. wenn der wüsste. könnte auch "keine sekunde mehr" heißen. 

10:20

In der Wirklichkeit. Sonne. Werde spazieren gehen. 

 

20.09.01     9:53

flashback wien 15.09.01 12:30

In der Seitengängen des Lesezeltes steht die Firma. Vier Frauen, abgeordnet oder gekommen, weil Interesse besteht? M. weiß nicht, es ist ihm fast unheimlich. Die Damen beobachten ihn. Wird M. seinen Kopf aus der Schlinge ziehen? Wird er beweisen können, dass ihr Vertrauen in ihn gerechtfertigt ist? - M. wird sich Mühe geben. Die Bedingungen sind allerdings denkbar ungünstig. Das Zelt ist zugig, es herrscht ein Kommen und Gehen, die Zuhörer sind da, weil Samstag ist und die Langeweile vertrieben werden soll, es sind Mütter und ein paar Väter mit Kindern zwischen zwei und zwölf Jahren. Noch während Frau H. den Schriftsteller M. vorstellt, ihn als halben Holländer anpreist und als Percussionisten, schaut M. in die Runde. Er ist eintausend Kilometer gereist, um an dieser Veranstaltung teilzunehmen, er hat gut geschlafen, die Aufregung hat genügend Adrenalin freigesetzt, um Zweifel verstummen zu lassen, er ist bereit. Gleich gilt nur noch das gesprochene Wort. Er wird mit dem Mikrofon kämpfen, das ihn in seinen Bewegungen einschränkt, er wird Partner suchen, Blickkontakte: das Mädchen mit den schwarzen Haaren in der zweiten Reihe, der Junge vorn links, der Vater in der vorletzten Reihe, die beiden Jungen in der ersten Reihe außen rechts. Jeden einzelnen wird er ansprechen, und er wird in ihren Augen lesen können, dass auch bei dieser Unruhe ein Feuer entflammbar ist. Darauf setzt er, als man ihm das Wort gibt. Er hört noch, dass er sagt, er sei aufgeregt wie ein Sack Flöhe, er hört, wie er den ganz Kleinen rät, sich auf den Schoß ihrer Eltern zu setzen, man könne nie wissen, dann geht es los. "Ein seltsames Haus war das ...." Nur M. und die Worte. Ohne Pappnase, ohne Trommel, ohne Saxofon. Mit einfachen Sätzen gegen den Samstagmorgen, weit fort von zu Hause, von allen beobachtet. Nachher werden sie über ihn sprechen. Sie werden sagen, M. hat... - M. hat ... - M. wird.... - M. wird nichts von diesen Sätzen erfahren. M. hat eigene Sätze. Mehr hat er nicht. Die Aufregung legt sich. M. wird sicherer. In den Augen der Kinder steht, dass er Recht hat. Also hat sich die Reise gelohnt.

 

21.09.01  

11:48

Die Kinder standen in Zweierreihe im Flur und grüßten. Guten Morgen Herr Mensing. Was das wohl für einer ist? stand in ihren Augen. Dieser Herr Mensing. Dieser Schriftsteller. Guten Morgen, antwortete ich. Die Kinder machten sich auf den Weg zur Aula. Ich stand vorm Rektorzimmer und ließ sie vorbeiziehen. Das ein oder andere Kind streckte mir seine Hand entgegen. Dann drängte sich ein blondes Mädchen zu mir, streckte mir ihren linken Arm entgegen und ich nahm ihn. Aber es war keine Hand dran. Wir sagten guten Morgen und sie ging weiter, lachend. Ich folgte. Auf der Treppe fragte ich, wo ihre Hand geblieben sei, ob sie einen Unfall gehabt habe? Sie antwortete: Nein, der liebe Gott hätte keine Hand für sie übrig gehabt. - Was für ein Mädchen! Wie viel Mut, mir ihren Arm entgegen zu strecken. Sie wollte ganz genau wissen, wer Mensing ist. Einer, der wegzuckt? - Nein. Tut er nicht. Wir schauten uns an. Wir waren einverstanden miteinander. Müsste ich einen Aufsatz schreiben, wäre dies "mein schönstes Erlebnis."

 

23.09.01    17:21

Geht mir am Arsch vorbei, ihr. 

 

24.09.01    9:13

flashback samstag 22.09.01: Ich klopfte drei- viermal an die Glastür der Buchhandlung, nicht sicher, was ich tun würde, wenn mir niemand öffnete. Aber ich war zweifellos richtig. Dies war die Baedeker Buchhandlung. Hier fand eine Lesenacht statt. Wie das vonstatten gehen sollte, konnte ich mir nicht so recht vorstellen, aber man hatte mir gesagt, zwanzig Kinder übernachteten hier. Zwanzig hochmotivierte Kinder, denn sie hatten an einem Wettbewerb teilgenommen und sich qualifiziert. Komisch fand ich das trotzdem. Der Laden war leer. Hell erleuchtet und leer. Aber dann sah ich, dass jemand die Treppe herauf kam. Uns wurde geöffnet. Meine Frau und ich betraten die Buchhandlung. Hochmodern, licht, sich über mehrere Stockwerke erstreckend. Man führte uns ins Untergeschoss. Und da waren sie, die hochmotivierten Kinder, zwanzig Mädchen, um die zwölf Jahre alt, kein Junge. Sie hatten Luftmatratzen aufgeblasen, Schlafsäcke ausgerollt, das ein oder andere Mädchen hatte ein Kuscheltier im Arm. So saßen und lagen sie im Halbkreis, um dem Autor H. zuzuhören, der aus einem Kinderkrimi las. Um die ganze Sache aufzulockern, stellte er nach jedem Kapitel Fragen zum Inhalt. Seine Zuhörerrinnen hatte er in zwei Gruppen geteilt. Die Gruppe, die am schnellsten antwortete, bekam entsprechende Punkte. Die Mädchen waren engagiert bei der Sache. - Die Mädchen! Waren Mädchen meine Zielgruppe? - Nicht, dass ich etwas gegen Mädchen habe, aber ausschließlich Mädchen, zwölf Jahre alt? Und der Held meiner Geschichte ein Junge? - Mir wurde mulmig. Ich begann mich weit fort zu wünschen. Die Mädchen aßen Salzstangen und Gummibärchen, sie kreischten, wenn ihre Gruppe eine Frage als erste beantwortet hatte, und schließlich gab es erste und zweite Sieger. Was natürlich blödsinnig ist, denn wenn man schon an einem Wettbewerb teilnimmt, dann deshalb, weil man gewinnen will. Alles andere ist pädagogische Augenwischerei. H. verteilte Plastiktüten mit "giveaways", so nennt man die kleinen Geschenke, mit denen Verlage Kunden einzuseifen versuchen: Bleistifte, Kugelschreiber, Aufkleber. Frau L. verkündete, es gäbe nun Abendbrot. Das war gegen neun. Um zehn waren alle wieder im Keller versammelt. Das Licht war aus, nur eine Leselampe brannte. Ich stellte mich vor und begann zu lesen. Ich las eine Stunde, aber ich hatte nie das Gefühl, dass ich sie in Bann schlug. Meine Frau sagte, ich solle froh sein, dass sie sich nicht zu kichernde Grüppchen zusammen gesetzt hätten, um über boy groups zu sprechen. Außerdem hätte ich sie in Bann geschlagen. Manchen Mädchen sei es sogar zu unheimlich gewesen. Sie hätte gesehen, wie sie sich Schlafsäcke über die Ohren gezogen hätten. Sie hätte gehört,  wie sie "oh - nein, bitte nicht...." und ähnliches sagten. - Ja. War das so? - Als ich zuende gelesen hatte, kamen Mädchen und sagten, dass es Klasse gewesen wäre, aber das hat meine Zweifel nicht zerstreut. Zwölfjährige Mädchen geben nichts von sich preis. Sie sind mir unheimlich. Biologisch zwischen den Welten und vollauf damit beschäftig, sich zu verpuppen. Von allen Lesungen der letzten vierzehn Tage war diese die anstrengendste.  Mal sehn, wie es morgen wird, wenn ich aus der "Großen Liebe Nr.1" lese. 

25.09.01   9:29

Vertrag zwischen ... und (ich) ... 

1. Der Vertragspartner verpflichtet sich, in den Räumen der ... zum angegebenen Termin und der festgesetzten Zeit folgendes Programm zu geben: Titel: Lesung aus dem Roman "Große Liebe Nr.1" Datum 25.09,01  Uhrzeit 15:30. 

2. Der Vertragspartner ist mindestens eine viertel Stunde vor Veranstaltungsbeginn in der ... eingetroffen. 

3. Der Vertragspartner erhält für sein Programm nach erbrachter Leistung ein Honorar plus evtl. anfallender Nebenkosten von DM 35.000.-- 

Ja Leute. Das Leben ist schön.  

12:05

Langsam steigt die Spannung. Wer wird zuhören wollen? Werden überhaupt welche zuhören? Und wenn, werden sie es gut finden, oder sich gähnend abwenden? 

Wie immer ist das Leben voller Fragen, aber ich lasse mich nicht bange machen. Werde ihnen den Text um die Ohren hauen , dass es nur so scheppert. 

17:41

Niemand wollte zuhören. Aber was soll's?  Habe das Geld eingesackt und in Aktien investiert. Der Markt ist augenblicklich voller Schnäppchen. - 

Schreiben ist ein geiles Geschäft. Fragt sich, wer davon lebt. Ich? - Nein, ich nicht. Ich schreibe. Ich lebe. Aber nicht vom Schreiben. - 

Bin gespannt, was die Frau von der Zeitung schreibt? Wird es ein kritischer Artikel über die Trägheit junger Menschen zwischen 12 und 15? - Wird es eine nachdenkliche Betrachtung über die verlorenen kulturellen Traditionen? - Wird es ein Verriss träger Lehrer, denn auch diesmal waren wieder alle Schulen benachrichtigt, oder haut sie der Einfachheit halber mich in Pfanne, obwohl sie nicht einen Satz von mir gelesen hat? - 

Wir werden die Sache verfolgen. Vor Ort zeigte sie sich jedenfalls verwirrt. So etwas hatte sie noch nicht erlebt. Ich auch nicht. Aber immer noch besser, niemand kommt, als während der Lesung mit Coladosen beworfen zu werden. Na ja, und dann bleiben mir ja immer noch die 350.000 Euro, von denen ich sprach. 

Venceremos. Wenn nicht heute, dann morgen. 

21:22

Gut, vielleicht übermorgen. 

 

27.09.01     20:38

Heute ist übermorgen. Ich habe gestern in Moers gelesen. Zweimal vor jeweils sechsten Haupt- Real- und Gymnasialklassen. Und um jede habe ich kämpfen müssen. Ob ich gewonnen habe, weiß ich nicht. Kinder in diesem Alter neigen dazu, sich zu verschließen. Sie wollen in ihrem Verpuppungsprozess nicht gestört werden, sie entdecken gerade die Einsamkeit des Coolseins und finden sie aufregend. Nass geschwitzt war ich nach einer Viertelstunde. Keines der Signale, die ich sonst empfange, kamen über ihre Sender, und so bleibt die Erkenntnis, dass 12-13jährige nicht meine Zielgruppe sind. Was nicht ausschließt, dass sie die Geschichte genossen haben. Sie würden es nur nie zugeben. Wer bin ich denn? sagte ein Junge zu mir, als ich ihn fragte, ob er in der Lage sei, die sich mit einem lähmenden, durch Mark und Bein fahrenden Geräusch öffnende Schranktür nachmachen könne. In Grundschulklassen war das kein Problem. Da machten siebzig Kinder bereitwillig mit, zu ihrer und meiner Freude. Sechste Klassen sind zu alt für so etwas. Und dann höre ich, dass einer sagt, dass die Geschichte nicht gruselig war, und später sehe ich, dass welche vorm Bibliothekscomputer R. L. Stine Titel aufrufen, der plump und höchst erfolgreich mit Versatzstücken aus Horror, Fantasy und Grusel arbeitet. Dagegen will ich nicht angehen. Dagegen kann ich nicht angehen. Dagegen gehe ich nicht an. Ich habe die Lesungen der letzten Wochen sehr genossen. Sie waren anstrengend und aufschlussreich. Jede Lesung unterschied sich von der vorherigen. Ich hoffe, dass ich noch oft lesen kann. Es könnte allerdings auch sein, dass ich morgen tot bin. Alles kann sein. Aber ich gehe davon aus, dass ich überlebe. 

22:08

Und die Zeit verging, wie sie zu vergehen pflegt, wie ein Schatten durch die Welt oder wie ein schwarzer Tänzer mit Seidenstrümpfen und Mohairhosen. Und eine schwerer Duft von  Blumen und totem Wasser schlug mir entgegen. 

 

28.09.01    8:57

I give you everything I got for little peace of mind....

17:00

Heute bat man mich auf, für eine im nächsten Jahr erscheinende Autorenbroschüre einige Fragen zu beantworten.  

Wann haben Sie angefangen, Bücher zu schreiben? Erstes Manuskript 1972.

Wie sieht ihr Arbeitsalltag aus? Langes Frühstück, danach drei Schritte vorwärts und zwei zurück. Bei Arbeit an einem Projekt jeden Tag.

Was ist ein wesentlicher Faktor beim Schreiben für Sie?  Wesentlicher Faktor beim Schreiben: macht es mir Spaß? - Wenn nicht, lasse ich die Finger davon.

Wodurch lassen Sie sich inspirieren?  Inspiration ist nicht mehr so wichtig wie früher. Wichtig ist, am Ball zu bleiben, wenn ich einmal angefangen habe. Im Grunde kommt dann alles von selbst. Dieser Zustand ist aber ohne Disziplin schwer zu erreichen.

Wie ist ihr Verhältnis zu ihren Protagonisten? Meine Protagonisten wachsen mir im Lauf der Arbeit ans Herz. Danach vergesse ich sie. Ich vergesse sowieso alles, was ich einmal geschrieben habe. Ich nehme an, dass das so etwas wie Selbstreinigung ist, um den Kopf für weitere Arbeiten frei zu bekommen.

Welche Bedeutung hat Lesen für Sie? Lesen bedeutet beste Unterhaltung.

Welche Helden gibt es für sie? Keine Helden.

Woran erinnern Sie sich besonders gern in ihrer Kindheit?  An das Leben an der Grenze zu den Niederlanden.

Was macht für Sie ein gutes Buch aus? Ein gutes Buch ist dann gut, wenn ich es gut finde. Der Rest interessiert mich nicht.

Wer ist für Sie der größte Kinder- und Jugendbuchschriftsteller?  Habe keine großen Helden, denen ich nacheifere. Will alles ganz allein machen.

Ihr Lieblingsbuch? Habe auch kein Lieblingsbuch. Mein Lieblingsbuch ist immer gerade das, welches ich lese. Habe wohl einen Lieblingsschreiber. Ernesto Sabato.

Ihr Lieblingsmaler?  Ich kaufe Kunst, die mir gefällt. Lieblingsmaler? - Nein. Die Welt ist voll guter Kunst. Wie sollte ich da den einen einem anderen vorziehen.

Lieblingskomponist?  Eric Satie, weil er so wenig spielt und so eindringlich ist. Zappa, weil er so viel spielt. Die Beatles, weil sie mich auf die Welt gebracht haben.

Ein paar Leidenschaften?  Schlagzeugspielen. Spazieren gehen. Die anderen verrate ich nicht.

Was mögen Sie überhaupt nicht? - Schlechte Bücher. Schlechte Musik. Pfusch in jeder Hinsicht. Wenn jemand sich keine Mühe gibt.

Was möchten Sie unbedingt erleben? - Opa werden.

Was ist das Verrückteste, was Sie jemals gemacht haben? - Das, was ich jeden Tag tue. Glauben, dass sich meine Literatur durchsetzt. Verrückter geht's kaum.

Was würden Sie niemals tun? - Weiß ich nicht. Alles ist möglich. Ich schließe nichts aus.

Was halten Sie im Leben für völlig überflüssig?  Überflüssig sind Idioten.

Was würden Sie zaubern, wenn Sie es könnten?  Wenn ich zaubern könnte, zauberte ich Vernunft.

Wo und wie erholen Sie sich?  Ich erhole mich beim Schlagzeugspielen, beim Spazieren gehen. Wobei  ich mich sonst noch erhole, verrate ich nicht.

Was bedeutet für Sie Erfolg? Erfolg bedeutet, dass ich in Frieden meiner Arbeit nachgehen kann.

Was wünschen Sie Ihren Büchern? Meinen Büchern wünsche ich viel Erfolg.

Was wünschen Sie Ihren Lesern? Meinen Lesern wünsche ich allerbeste Unterhaltung und die Einsicht, dass sie es bei mir mit jemandem zu tun haben, der sie nicht verarscht.

19:07

Sagte er, dieser Baum ist schön, fragte sie, woher er das wissen könne, sagte er, ich denke, wir gehen jetzt links, zerrte sie so lange an seinem Arm, bis sie rechts gingen. Und so kam es, dass er eines Tages ohne noch ein warnendes Wort eine Axt griff und ihren Schädel spaltete. Und als sie mit gespaltenem Schädel vor ihm lag, fragte er sie, was sie denn nun glaube, ob das ein guter Hieb gewesen sei oder ein schlechter? Als sie sagte, ein miserabler, rannte er schreiend aus dem Haus auf die Straße und geriet unter die Doppelreifen eines LKW. Mittlerweile hatten Nachbarn das Stöhnen seiner Frau gehört und einen Notarzt alarmiert. Der hatte nun beide Hände voll zu tun, oben die Frau und auf der Fahrbahn der Mann. Und als man die Frau, die schon starb, aber noch wusste, wie ihr geschah, auf einer Bahre zum Krankenwagen trug, sah sie den Mann, der schon starb, aber noch wusste, was ihm geschah und sie rief so laut sie nur konnte, das hast du davon. Worauf er lächelnd flüsterte, o ja, ich weiß. 

 

29.09.01   16:36

Saßen mit einer Frau von W., einem schwulen Bekannten und meiner Frau beim Essen und redeten bis tief in die Nacht. Verwundert, wie engagiert er sich für Stefanie von Monaco interessiert, für Gardinen und die Ausstattung von Badezimmern, und wie sehr er damit den Damen der Gesellschaft den Kopf verdreht, so dass man ihn überall hin einlädt, obwohl er nicht sonderlich spritzig ist. Traumhaft ist sein Lieblingswort, womit er sich schon auf der sicheren Seite glaubt, ganz gleich, ob es um Kunst, Kino, Literatur oder Musik geht. Traumhaft. Saßen und aßen und redeten nichts Nacherzählenswertes. Vertrieben uns nur die Zeit, was dazu führte, dass wir zu wenig Schlaf bekamen und diesen sonnigen Samstag im Bett und auf dem Sofa vertrödeln müssen. Die Sonne steht schräg, niemand mäht Rasen, so vergeht wieder ein Tag.  

18:11

Man wird oft von einem Wort behext. Z. B. vom Wort "wissen". 

22:44

Ich kann mich nicht erinnern, dass sie je zärtlich war. Ich kann mich an gar nichts erinnern. Die Bismarckstraße und jede mit ihr aufsteigende Geschichte könnte eine Erfindung sein. Ein Traum, den man träumt und als sein Leben ausgibt. Nur wenn ich sie liegen sehe in ihrem Totenbett, in dem sie schon so lange liegt, wenn ich sie sehe, wie ich sie letzte Woche sah, als ich in ihr Zimmer kam und sie eines der Lieder sang, die sie in ihre Gegenwart hinüber gerettet hat, kann ich nicht umhin, sie zu lieben. "Das machen nur die Beine von Dolores, dass die Senores ...." singt/spricht sie und ahnt nicht, dass ich in der Ecke des Zimmers sitze und zuhöre. Sie sieht und hört ja nicht, sie ist ja ganz allein mit sich in ihrer vierundneunzig Jahre alten Welt, und ich weiß nicht, wie ich ihr begegnen soll. Einmal mit den Fingern geschnippt, schon könnte sie für immer fort sein, morgen schon, jetzt, und ich werde zurück bleiben und nie erfahren haben, was das zwischen uns war, zwischen ihr und mir und warum sie nie zärtlich war und ich nie mit ihr sprach. So eine Mutter ist das und so ein Sohn bin ich. Und mein Vater, der warm war, ist vier Jahre tot. 

 

30.09.01   11:21

Langsames Erwachen auf dem Lande.

 _____________________________________________________________________________

(aktuell) -  (download) - (galerie) - (in arbeit) - (notizen) - (start)