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Hermann Mensing

Briefe an Annette von Droste Hülshoff

Brief 61

Liebe Annette,

du findest mich erschöpft. Die Welt ist noch verrückter geworden. Bei allem guten Willen, sie zu verstehen, muss ich zugeben, dass ich scheitere. Es geht gegen jeden Menschenverstand. Auf dem Mittelmeer sterben täglich Menschen, die in kaum seetüchtigen Booten aus ihren politisch korrupten, durch Krieg, Hunger und Seuchen gebeutelten Heimatländern fliehen. Im nahen Osten herrscht Krieg. In Afrika herrscht Krieg. In der Ukraine herrscht Krieg. Ich weiß gar nicht, wo sonst noch Krieg herrscht. Überall, scheint mir. Und immer aus den gleichen dummen, selbstsüchtigen Gründen. Manchmal kommt mir unsere politische Lage vor wie die Lage im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nationen, in dem auch immer irgendwo Krieg herrschte. Diese Aussichtslosigkeit, die ich mit Hoffnung zu füllen versuche, kostet mich Kraft. Ja, sage ich, die Menschen sind gut, es sind die politischen Umstände, die ihnen das Leben so sauer machen, aber so ganz stimmt das nicht, denn auch, wenn es vornehmlich die Herrschenden sind, die Kriege anzetteln, um ihre Interessen durchzusetzen, sind wir es ja, die all das geschehen lassen, und unseren demokratisch gewählten Volksvertretern gelingt es nicht, die zahllosen Krisen (von denen die Flüchlingskrise nur eine ist) politisch zu lösen. Immer stellt sich irgendein Land quer. Nein, sagt es, wir wollen keine Flüchtlinge haben. Ich kann verstehen, dass Staaten sich vor unkontrollierter Einwanderung all der Gehetzten, Hungernden und Verfolgten fürchten, dass sie um die Stabilität ihrer Gesellschaften bangen, aber wir haben uns dieses Problem selbst eingebrockt. So wie Napoleon versuchte, Europa und Ägypten zu erorbern, so haben wir zugeschaut und zugelassen, dass die reichen Nationen des "Westens" die armen Länder der (wir nennen sie) "Dritten Welt" systematisch ausplünderten. Der große Reibach begann mit Kolumbus.

Ach, Annette, ich liege dir in den Ohren mit der Politik, dabei hatte ich doch versprochen, dir zu erklären, was ein SUV oder eine Flatscreen ist. Ich bin müde, Annette. Ich will nichts mehr erklären. Ich möchte nichts mehr hören. Ich habe die Nase voll. Ein Glück, dass ich im Rüschhaus immer wieder Gäste treffe, die mich aufheitern. Menschen, die wissen wollen, wie es dir dort ergangen ist.

Alles ist kompliziert, Annette, von früh bis spät ploppen E-Mails auf (kennst du nicht, sei froh), elektronische Nachrichten, nichts bleibt unreguliert, ständig muss alles besprochen werden, und dass ich meine Briefe mit "Liebe Annette" beginne, findet man unpassend. Ich müsse, wenn ich von dir spräche, von der "Droste" sprechen. Mein Argument, wir seien Kollegen, wird nicht akzeptiert. Von "Kollegen" zu sprechen, ist auch nicht korrekt, denn wir Gegenwärtigen, "gendern", ich müsste also von Kollegen und Kolleginnen sprechen, kurz Kolleg:innen, damit niemand zu kurz kommt. Gendern solle zu einer gerechteren Geschlechterwahrnehmung führen, aber ich habe den Verdacht, als wäre es erfunden worden, um von den tatsächlichen, oben genannten Problemen, abzulenken. Wir reden aneinander vorbei. Wir sind ein politisches Gemeinwesen mit besten Grundsätzen, das sich um Kopf und Kragen redet. Wie das zu lösen ist, ist mir schleierhaft.

Liebe Annette, es tut mir Leid, dass ich noch immer klage, in Gedichtform klingt das viel interessanter, deshalb lies einfach das Gedicht im 60ten Brief noch einmal. Lieber erzähle ich dir den Gänsen, die auf der Böschung der Gräfte sechs Küken ausgebrütet haben, von denen noch vier übrig sind, die anderen hat vielleicht der Fuchs geholt, aber jetzt sind die vier schon fast so groß wie Hühner, rennen mit vorgerecktem Hals über den Vorplatz des Rüschhauses und schlagen mit den Flügeln, dabei ist alles an ihnen noch Flaum. Oder von den Zaunkönigen, die zahlreich ums Haus fliegen. Vom Getreide, das schon wieder hüfthoch steht. Von den Kukucksnelken und dem Löwenzahn, den Schwertlilien und dem unerhörten Grün ringsum, das mit der Zeit geht und jeden Tag anders leuchtet. Alles ist schnell. Gerade war noch Winter. Jetzt ist bald Mittsommer. Und schon wieder ist jemand gestorben, der mir nah war.

Herzlich


Hermann

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