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Hermann Mensing

Ein Tag London für Billigflieger

7:00
Nachdem mein Portemonnaie beim Einchecken Alarm auslöste und noch zweimal durchleuchtet werden musste, eh mir einfiel, dass mein silberner Zahnstocher Auslöser dieses Alarms sein könnte, verlor ich jede Furcht vor einem terroristischen Anschlag.
Soviel deutsche Gründlichkeit würde ein Terrorist kaum überstehen.
Was dennoch blieb war die Angst vorm Sterben im Allgemeinen. Wie schon in der Woche vorher, in der das fatale Gefühl, dieses Mal würde ich den Flug nicht überleben, von Tag zu Tag gewachsen war. Mochte beim Abschied nicht darüber reden. Dachte, wenn es denn sein muss, soll man mich ohne Abschiedsworte in Erinnerung behalten.

7:25
Steil geht es nach oben. Seltsam, jetzt ist alle Angst fort. Genieße den Blick über die sich nach rechts senkende Tragfläche und den links sich ins Blaue verlierenden Horizont bei der Kurve nach Westen. Stelle meine Uhr zurück.
6:25
Ortszeit London.
M. überlegt, ob er das Air Berlin Kissen stehlen soll. Rate ab. Wenn schon, dann nach dem Rückflug.

6:30
Ein junger, südeuropäisch aussehender Mann in der Sitzreihe vor mir fragt mich in holprigem Englisch, ob es im Flugzeug eine Toilette gäbe und ob er da jetzt schon hingehen dürfe. Ich sage, eine Toilette gäbe es mit Sicherheit, aber den zweiten Teil seiner Frage könne ich nicht beantworten. Er lächelte schüchtern, nahm seinen Rucksack und verschwand.

7:05
M. fragt, wieso ich mich ständig so hektisch umschaue. Antworte, dass ich mich frage, was dieser junge Mann auf der Toilette macht. Sollte der deutschen Gründlichkeit beim Einchecken doch etwas entgangen sein? M. beruhigt mich. Hast du nicht gesehen, sagt er. Der hat Angst. Der will nichts sehen vom Flug. Der wartet auf dem Klo, bis wir gelandet sind. Tatsächlich sahen wir ihn erst im Terminal wieder.

8:25
Das englische Schaf steht auf goldbrauner Weide, Eichen sind knorrig und klein, viel Unterholz, Flüsse, ein See hier und da, quietschendes Schaukeln des zügig fahrenden Stansted Express, britisches Fachwerk und die nicht enden wollende Vorstadt.
Einzelhaus Einzelhaus Einzelhaus, Fußballfeld: Chesthunt der Ort.
Ab Briston drängen sich erste, elende Mehrstöcker ins Bild.
In Northumber Park winkt eine schwarze Katze den Reisenden zu.
Tottenham Hale. Drei Videokameras wachen am Mast, darinter ein Ring nach unten weisender unterarmlanger Stacheln. Das Wetter: nun diesig.
Während wir dazu neigen, das Fenster nach innen zu öffen, tut es der Brite anders herum (Ort: Clapton). Eigensinnig der Insulaner. Kein Wunder, er fährt ja auch links.
Fragte den Steward gleich nach dem Einsteigen in die kleine Boing 737-700 (der Gründer dieser Firma stammt aus Stadtlohn, einem Dorf gar nicht weit von meiner Heimatstadt Gronau), wieso im Cockpit eigentlich die Seitenfenster zu öffnen seien.
Notausstieg, war die Antwort. Der Kapitän habe zudem ein Seil, an dem er das havarierte Flugzeug verlassen könne. Sind wohl Optimisten, die Herren der Lüfte.
Hackney Downs. London Fields. Der britische Parkrasen macht einen müden, verbrannten Eindruck.
Sommerflieder in Cambridge Heath.

9:15
London Sugar Quay Walk. Pissen in die Themse. Weit und breit kein Mülleimer.
Fragte vor der Liverpool Street Station einen in dunklen Zwirn gekleideten etwa 60jährigen, grauhaarigen Schwarzen, ob man, wenn man der Straße folge, ins Centrum gelange. Erstaunt darüber, dass wir laufen wollten, sagte er ja. Schenkte uns ein warmherziger Lächeln. Wünschte uns einen schönen Tag.

9:35
Millenium Bridge. Kormorane auf Pollern. Möwen in der von der Tide gefluteten Themse. Westwind. St. Pauls Cathedral im Norden, die Tower Bridge flussab. Sonne. Soll ich M. erzählen, wie das war, als ich zum ersten Mal nach London kam. Damals, 1967? - Nein, lieber nicht. Vielleicht habe ich es ja schon erzählt.

9:40
Den ersten Mülleimer finden wir bei der Tate Modern Collection am rechten Themseufer.

10:02
Im Young's Founded Arms zwischen Milleniums und Blackfriars Bridge orten wir Briten beim Verzehr von Bohnen, Tomaten, Eiern und Speck. Seltsame Bräuche haben diese Insulaner. Sehr merkwürdig. Als ich in einer Pension in Bognor Regis einmal fragte, wieso zum britischen Frühstück eigentlich Bohnen gehörten, antwortete man mir, ich zitiere: Beans are good for you.

11:10
Picadilly Circus. Als wir an der Paliament Street vor einer roten Ampel warten, um dann mit dem Strom dennoch über die Straße fluten, steht auf der Gegenseite eine kleine dicke Frau mit ihrem kleinen dicken Sohn, der empört: It's red! It's red! ruft. Alle gehen, sie und das Kind bleiben stehen. Ich bin sicher, das es nun einen neuen Konflikt mit sich trägt.
Der Spaziergang an der Themse hat uns behutsam ins touristische London gebracht. M. ist im Lillywhites, ein Sportgeschäft. Ich lasse Autos und Menschen kreisen. Halte alle an der Longierleine und rufe Anweisungen. Schon nach elf. Der Tag wird verfliegen. Waren kaum 50 Minuten in der Luft.

11:28
Achtung! Die Japaner sind da. Dreißig bis vierzig Jungs um die 16 fotografieren Picadilly und sich, während die Horseguards mit Polizeischutz vorbei reiten.

12:05
Carnaby Street. Puma Schuhe zu 160 Pfund. Der Mensch als Konsument.

13:10
Erschreckend Hässliches gibt es zu sehen in Britannien. Menschen von ausgesuchter Geschmacklosigkeit. Erstaunlich auch, dass selbst der ärmere Mensch kaum zögert, völlig überteuerte, von Lohnsklaven in Billigstländern hergestellte Markenware wie Puma, Nike etc. zu kaufen. Vorschlag: wir nennen das alte Europa Konsumien. Präsident wird jeweils der, der am sinnlosesten Geld ausgibt. Wir.

13:30
Am Victoria Embankment, der linksseitigen Themse-Uferstraße, steht ein Obelisk. Eine Inschrift im Sockel verkündet stolz, wie der und der britische General (Räuber wäre die präzisere Beschreibung. Kolonialer Plünderer) diesen Obelisk unter großen Entbehrungen und Mühen von Ägypten nach London brachte.
Ort der verschriebenen Zeit: Footlocker. London. Oxford Street. Richtung Marble Arch.

14:10
Hyde Park. Speakers Corner. Ringsum ein wenig mehr Raum nach den Exzessen der Kaufsucht. Müdes, totgetretenes Gras. Wir pausieren und überlegen, wie es weiter geht. Fest steht: um 19:00 Uhr werden wir mit dem Stansted Express zum Flughafen fahren. Ankunft dort: 19:40. Abflug 20:45.

15:50
M. hat entschieden, ich hätte zu entscheiden, wohin wir vom Hyde Park gehen. Also entschied ich mich für Harrods. Kamen dort überein, dass alle Cousins des Herrn Al Fayed, deren Cousins und wiederum deren Cousins bis ins vierte und fünfte Glied dort in den verschiedenen Abteilungen arbeiten.
Die dunklen Wolken, der Wind und der Regen, die uns ins Harrods trieben, sind nun vorüber.
Haben leider die luxuriösen Toiletten ungenutzt gelassen. Waren auch sonst nicht sehr beeindruckt vom Luxus des Hauses. Die in den Schaufenstern angebotene Kunst spottete jeder Beschreibung. Jetzt sitzen wir im Pizza in the Park, Knightsbridge, ein zur Hälfte gefliestes, zur anderen Hälfte mit Parkett ausgelegtes Restaurant. Als wolle der Brite die Wand hochgehen.
Haben die Rückroute beschlossen. Sie führt uns zunächst zur bescheidenen Behausung der Königin.

17:15
Trafalgar Square. Percy der Pelikan lebt nicht mehr im St. James Park. Aber: Enten, Gänse, Blesshühner, Tauben und handzahme Eichhörnchen.

17:55
Vom Trafalgar Square Richtung Picadilly, über den Leicester Square und die Shaftsbury Avenue quer durch das quirlige Theaterviertel Londons und China Town zur Tottenham Court Road und von dort weiter Richtung Holborn. Nehmen für das letzte Stück die U-Bahn. Das erste Mal heute.

18:10
U-Bahn-Station Holborn. Am Fahrkartenautomat steht ein mittelgroßer, muskulöser Schwarzer. Er trägt einen Tarnanzug, hohe Schnürschuhe und hat eine Glatze. Nur auf dem Hinterkopf ist ein schmaler Streif Haare stehengeblieben. M. sagt, Vorbild für diese martialische Kostümierung sei Mister T. aus der amerikanischen Fernsehserie A Team. Er führt einen schneeweißen Kampfhund an der Leine, ein sehr kräftiges, aber nicht unfreundliches Tier. Auf der steilen Rolltreppe, die tief hinab zu den Zügen führt, steht Mister T. nicht weit hinter uns. Er trägt seinen Hund im Arm wie eine kleine Geliebte. Ihr Kopf liegt auf seiner linken Schulter. Sie macht einen sehr unglücklichen Eindruck. Ängstlich. Der martialische erste Eindruck der beiden ist völlig verflogen. Nun wirken sie liebevoll einander zugetan. Rührend. So ganz unpassend zu Rasse und Outfit. Kampfhund und Kämpfer.

18:40
In einem Pub gegenüber der Liverpool Street Station. Trinken Lime&Lager, das englische Geld ist restlos verbraucht. Auf Plasmaleinwänden schießt England gerade unterm großem Jubel der anwesenden britischen Trinker den Ausgleich zum 1:1 gegen Mazedonien.

18:46
Der Zug nach Stansted fährt in 14 Minuten.

18:53
Zwei junge Schweden steigen zu. Der eine koppelt sich an seine Musikmaschine, der andere nimmt ein Buch und beginnt zu lesen. Schon vorm ersten Umblättern lacht er laut. Das spricht für das Buch. Sein an die Musikmaschine gekoppelter Freund schaut ihn fragend an. In mir summt die große Stadt, die wir nun verlassen. Nachher fliegen wir der Nacht in die Arme.

19:10
Spätes Licht schneidet die Vorstadt auf Backsteingröße. Gleich verliert sie sich hinter hohen Böschungen, fasert aus und setzt sich als Wiese wieder zusammen. In dieser Wiese stehen 4 Kühe. Ein Kirchturm spießt die Sonne. Überm Horizont Ost lagern Wolken.

19:35
Flüsse, Flüsschen, Kanäle, kleine Seen, hohes Schilf, Angler, Campingplätze mit Trailern etc. Bishops Stortford.

20:10
Schon im Flieger, der jedoch erst um 20:45 abhebt.

20:50 Stelle die Uhr um

21:50 Ortszeit Münster jetzt.
Hoch in der Luft. Unter uns die Lichtspiele der Städte. Prognostizierte Flugzeit 45 Minuten. Dein Reich komme, dein Wille geschehe.

21:55
Lichtflecken die Städte, Ornamente.

21:57
Das Meer, der Ärmelkanal. Mal sehn, wann wieder Land kommt. Der Mensch ist Licht.

21:59
Gegenverkehr.

22:01
Leichte Kurskorrektur übern rechten Flügel.

22:05
Schiff unten links. Eher: Bohrinsel.

22:08
Turbulenzen. Ich sehe Licht. Also: Menschen. Hol Land. Daher also das Rütteln beim Übergang von Wasser zu Land. Amsterdam unten links. Ankunftsprognose: 22:37

22:15
Längst wieder im Landeanflug. Diesig. Rütteln beim Durchfliegen von Wolken.

22:19
Offizielle Ansage: Landeanflug. Jetzt nicht mehr Scheißen. Ohrenploppen ist erlaubt.

20:20
Wieder Bodensicht.

20:39
Am Boden. Überlebt. Die dumpfen Ängste der letzten Tage haben sich nicht bewahrheitet.

Der Spaziergang:

Liverpool Street Station - Bishops Gate Richtung London Bridge - Camo Bev. Marks Richtung Tower Bridge - Minories - Tower Hill - Thames Path West - vorbei an: Tower Pier - London Bridge - Cannon Street Bridge - Southwark Bridge - über die Millenium Bridge - Modern Tate Galery - Blackfriars Bridge - über die Waterloo Bridge - Victoria Embankment Richtung Big Ben - George Street - Horse Guards - The Mall - Waterloo Place - Picadilly Circus - Regent Street - Beak Street - Carnaby Street - Argyll Street - Oxford Circus - Oxford Street Richtung Tottenham Court Rd. - Oxford Street Richtung Marble Arch - Hyde Park - Hyde Park Corner - Knightsbridge - Brompton Road - Harrods - Brompton Road Richtung Wellington Place - Constitution Hill - Buckingham Palace - St. James Park - The Mall - Waterloo Place - Pall Mall - Trafalgar Square - Haymarket - Leicester Square - Shaftsbury Avenue - China Town - Charing Cross - Tottenham Court Road - New Oxford Street - Holborn - Liverpool Street Station -

 

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