April 2002                                       www.hermann-mensing.de                  

mensing literatur

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Mo 1.04.02    20:37  (1.04.1978 Hikkaduwa)

Im April geht es um Zimmer. Möglich, dass auch noch ein "Es war einmal" hinzu kommt. Wir werden sehen. Heute Abend geht es nur noch um diese Mail: 

In der Sonne sitzend und später auch im Zimmer und heute morgen im Bett habe ich gelesen: DER RADIKALE TRÄUMER und hatte meine Freude dran, dachte zurück an mich selbst vor 20 Jahren, als ich gerade meiner Sekte namens KBW den Rücken gekehrt hatte, kannte damals - im Gegensatz zu dir - noch nicht das Motto der kleinen dicken Frau (Wer Objektivität zu seiner
Lebensmaxime macht, verleugnet, dass es ein Leben vor dem Tode gibt."

Aufgefallen ist mir auch folgende Stelle (S. 96): "Sprache (...) ist
in ein Stadium zunehmender Verwirrung getreten. (...) Sprache hat
immer Gefühle manipuliert. (...) Der Verein erstrebt das Zeitalter
der Kommunikation ohne Worte."

Einerseits: haben wir das nicht heute weitgehend: Sprachunmündigkeit
bis hin zum neuen Analphabetismus? Stattdessen Bildersprache
allenthalben & allerorten?
Andererseits: schon die Dadaisten haben festgestellt, dass Sprache nur
zu Missverständnissen führt, und diese dann zu Konflikten; wenn aber
alle Dada sprechen, könnten sie sich nicht mehr verstehen und ergo
nicht mehr missverstehen. Klingt logisch, war aber erfolglos. War
diese Idee irgendwie im Hinterkopf des Vereins für abgelebte Stunden?

Wie auch immer: ich habe mich gefreut, in diesem Buch den heutigen
Tagebuch - Hermann in nuce zu entdecken, habe mich gefreut, die Distanz
des jungen Hermanns weiterhin lebendig zu sehen, genoss das Spiel mit
dem Leser und mit Erwartungen und Verwirrungen - und wundere mich,
dass dieses Buch in der Reihe "panther" erschienen ist, die sich
meiner Erinnerung nach an 16- bis 20-jährige vor allem wendete - oder
täusche ich mich da? (Nein. Aber wer zahlt, druckt, war die Devise)

M.

Di 2.04.02    00:34  (2.04.1978 Hikkaduwa)

Liebe Antisemiten, wofür haltet ihr euch, wenn ihr Kirchen Unschuldiger niederbrennt? - Habt ihr den Verstand verloren? Ich glaube, es wäre das Beste, euch, Ariel Sharon und etliche andere zum Mond zu schießen. Vielleicht machte das die Welt friedlicher. Eine Passagierliste bestellt man hier.

8:48

Ariel Sharon nennt Arafat einen "Feind Israels und der gesamten freien Welt". Ich sage: Sharon ist Israels größter Feind, wenngleich er das sicher abstreiten würde. 

10:38

Zimmer/Raum: bei der Suche nach Definitionen stieß ich zwar auf eine mathematische und eine physikalische Definition des Raumes, nicht aber auf die eines Zimmers. Ob ein Raum zum Beispiel Fenster hat, war nicht zu erfahren. Auch, ob ein Zimmer Fenster haben muss, um Zimmer genannt zu werden, erfuhr ich nicht. Ich beschloss daher, einen physikalischen Raum nur dann Zimmer zu nennen, wenn er Fenster  hat. Hat er die, braucht er natürlich auch eine Tür. Was aber, wenn ein Raum keine Fenster, wohl aber eine Tür hat? Worüber sprechen wir dann? 

***

Das ethymologische Wörterbuch vom Herrn Duden führt aus (interessant:
Wohnraum!):

Zimmer s: Das altgerm. Substantiv mhd. zimber, ahd. zimbar
"Bau[holz]", mniederl. timmer "Baumaterial; Gebäude", engl. timber
"Bauholz", schwed. timmer "Bauholz" gehört zu der unter -ziemen
entwikkelten idg. Wurzel "dem[o]- "[zusammen]fügen, bauen". Es
bedeutete urspr. "Bauholz", woraus sich im Westgerm. die Bed.
"[Holz]gebäude" entwickelte. Auf das Dt. beschränkt ist die weitere
Bedeutungsentwicklung zu "Wohnraum" (15. Jh.) Das -b- in den mhd.,
ahd. und engl. Formen ist der leichteren Aussprache wegen
eingeschoben. Abl.: zimmern (mhd. zimbern, ahd. zimbron). Zus.:
Zimmermann (mhd. zimberman, ahd. zimbarman). 

(Einsendung von Malte Bremer) ***

Zimmer/Raum 1: Es geht um einen Raum, der einmal Fenster und Türen hatte, aber nie ein Zimmer war, jedenfalls keines in dem Sinne, in dem wir über Zimmer zu sprechen bereit wären. Es war ein Raum im Keller eines zweistöckigen Geschäftshauses. Das Haus war bombardiert worden und lag in Schutt und Asche. Der Raum, der kein Zimmer war, wenngleich er einst Türen und Fenster hatte, ist unter den Trümmern des Hauses zusammengesunken. Zwischen diesen Trümmern sind Hohlräume entstanden. In einem dieser Hohlräume (keine Tür, keine Fenster) liegt Tante Ä. Sie hatte sich zur Zeit des Angriffs im Keller aufgehalten. Sie hat kaum Platz, sich zu bewegen, ist aber unversehrt. Es ist dunkel. Und es ist gespenstisch ruhig. Sie weiß, was geschehen ist und hofft auf Rettung. Sie ruft. Irgendwann wird ihr geantwortet. Aber es dauert noch Stunden, eh man sie aus dieser Lage befreien kann.

12:28

richtig -falsch??  

Zimmer frei - Raum frei //   Wohnraum - Wohnzimmer // Raumordung - Zimmerordnung // Schlafraum - Schlafzimmer // Zimmermann - Raummann // Stauraum - Stauzimmer // Waschraum - Waschzimmer // Raumflug - Zimmerflug // Raumgleiter - Zimmergleiter // Weltraum - Weltzimmer // Raumgewinn - Zimmergewinn //  Sprachraum - Sprachzimmer //  Raumdeckung - Zimmerdeckung // Zimmerflucht - Raumflucht //  

Zunächst schien mir, dass ein Zimmer eher privaten Charakter  besitzt. Dann fiel mir ein, dass es auch in öffentlichen Gebäuden Zimmer gibt.  

Und wieso:  

Gaskammer, nicht Gasraum oder Gaszimmer? 

Hier sind die Vernichter gefragt. Die verniedlichenden Vernichter, denn Vernichter verniedlichen gern. Daran erkennt man sie. Sie bekämpfen ihre eigenen Skrupel mit Verniedlichungen. 

14:05

Zimmerhocker - Raumhocker //  Stubenhocker? 

14:15

Erste Anforderung einer Passagierliste ist eingegangen und abgeschickt worden. Erhielt vom gleichen Absender zudem höchst erhellendes zur weiteren Klärung der Lage:


***
Zimmerflucht - Raumflucht? Ruhezimmer - Ruheraum? - Raumpfleger - Zimmerpfleger? Zimmermann - Raummann? Zimmerpflanze - Raumpflanze? Zimmerbalsamine - Raumbalsamine? Arztzimmer - Arztraum? Krankenzimmer - Krankenraum? Zimmertheater - Raumtheater? Zimmersuche - Raumsuche? Gästezimmer - Gästeraum? Zimmerkellner - Raumkellner? Zimmermädchen - Raummädchen? Zimmertanne - Raumtanne? Robert Zimmermann - Robert Raummann? Klavierzimmer - Klavierraum? Vorzimmer - Vorraum?  Esszimmer - Essraum? Torzimmer - Torraum? Rauchzimmer - Rauchraum? Kinderzimmer - Kinderraum?

Raum für Kinderzimmer schaffen - Zimmer für Kinderräume schaffen

Noch mehr Zimmer.... 

arbeits, bade, bedienten, beobachtungs, besuchs, boden, bücher,
classen, dach, damen, dienstmädchen, ess, eck, familien, fremden, gast, gesellschafts, hauptfrau, hochzeit, honoratioren, jagd, kaffe, konferenz, kranken, küchen, lese, mädchen, neben, ober, pfarr, polizei, pracht, quartett, rauch, restaurations, roulette, schlaf, schul, schreib, seiten, speise, spiegel, staats, sterbe, studier, tafel, tee, toten, trauer, turm, verhör, vorder, vor, wächter, wacht,
warte, wirts, wochen, wohn.

Hauptfrauzimmer??? 

Findet sich nur bei Hugo Ball, Flametti:

    »Sie haben mich hier nicht rauszuwerfen. Flametti hat mich hier
rauszuwerfen!« versuchte Traute.
    »Was hab' ich?« schrie Jenny, jetzt vollends rabiat, und keilte
die Künstlerin aus dem Verschlag.
    Die hielt sich mit beiden Händen fest an der Tür. Die Türe schlug
zu. Zwei Vasen mit Binsen und Klatschmohn fielen zerschellend hoch vom
Büfett. Nettchen, der Dackel, schoß, ein fauchendes Krokodil mit zwei
Reihen Sägezähnen, hervor aus den Sofafransen.
    Die Mädel kreischten. Flametti, im Hemd, mit haarigen Beinen,
drang aus dem Hauptfrauzimmer.
    »Was gibt's denn da?« riß er die Sklavin der Hauptfrau weg.
    »Hier gibt's eine Kindsleiche, wenn sie nicht rauskommt.«
    »Hilfe! Hilfe!« schrie Traute, als sei ihr der Hals bereits
abgeschnitten, und rannte zum Fenster.
    »Bist du ruhig!« drohte Flametti mit aufgeblasenen Backen.
    Schon war die ganze Nachbarschaft an den Fenstern. Eine Scheibe
klirrte.
[Ball: Flammetti, S. 154. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche
Literatur, S. 9540 (vgl. Ball-Flametti, S. 112-113)]

Hoffe, dir bei der Zimmersuche behilflich gewesen zu sein!
malte

Danke Malte. Bin begeistert.  

16:15

flashback:  habe mir ein kleines haus gemietet. es hat nur ein zimmer. wohne dort ganz allein. habe ein bett, einen tisch, einen stuhl, keinen strom, einen brunnen, einen eimer. wenn ich vom dorf kommend abends durch den hohlweg zum haus gehe, ist es so dunkel, dass ich die hand kaum vor augen sehe. hikkaduwa steckt voller hippies, die einander belauern und abschätzen. halte mich, wo immer es geht, fern. begegnete gestern bei einem längeren spaziergang über den bahndamm, der durch einen sumpf führt, einem waran. alles in allem mag er zwei meter lang gewesen sein. er blieb stehen, züngelte, ich stand längst wie angewurzelt, dann verschwand er im hohen schilf. schwere gewitter am nachmittag. korallengärten vor der küste, aber man muss vorsichtig sein, die strömung ist stark, es treibt einen schnell fort. fliege am 8. april nach kathmandu.  

17:54

Habe das Problem um Robert Zimmermann - Robert Raummann lösen können. Es war nicht einfach, aber es ist mir gelungen.

 

Mi 3.04.02     9:12  (3.04.1978 Hikkaduwa)

Es war einmal ein Mann, den wir "keltischer Riese"  getauft hatten. Wir sahen ihn häufig in unserer Straße, eine Nord-Süd Achse, von der Hauptstraße durch die Siedlung zum Landweg führend. Er wohnte im Süden, wo, wussten wir nicht. Er ist über zwei Meter groß,  hat schulterlanges,  dunkles Haar und wirkt ungelenk. Seine Freundin, beträchtlich kleiner, hat langes, glattes Blondhaar und trägt gern wadenlange, schwarze Mäntel. Wir sahen sie oft, bis sie fortzogen. Beide sind Engländer. Er tauchte häufig in der Bibliothek der Erziehungswissenschaften der hiesigen Universität auf (meine Frau arbeitet dort) und nutzte einen Computer in einem schmalen, mit Büchern vollgestopften Raum. Der Raum hat etwas verschwiegenes, es ist, als gäbe es ihn nicht,  und tatsächlich wurde der Computer, der dort unterm Fenster stand, kaum von anderen Studenten genutzt. Die nutzten die Computer in einem großen, hellen Raum auf der anderen Seite des Flurs. Der keltische Riese kam oft. Er war freundlich und genoss die Sympathien der Angestellten, von denen jedoch niemand so recht wusste, ob er  eingeschriebener Student war oder nicht. Im Januar 1999 gab es Probleme mit dem Computer. Ein Spezialist überprüfte das System und stellte fest, dass auf der Festplatte unzählige Dateien mit kinderpornografischem Inhalt gespeichert waren. Der Verdacht fiel sofort auf den keltischen Riesen. Die Polizei wurde eingeschaltet. Kriminalbeamte stellten die Festplatte sicher, untersuchten sie eingehend und fanden noch mehr Dateien pornografischen Inhalts. Der "keltische Riese" schien wie vom Erdboden verschluckt. Die Polizei bat anzurufen, sollte er auftauchen, aber er tauchte nicht wieder auf.  

Vor vier Tagen waren meine Frau und ich im Odeon, ein Klub, der nach 25 Jahre geschlossen werden sollte. Hier hatten Bands wie Nirvana, die Chilli Peppers, die Toten Hosen, Henry Rollins, Trio und viele andere gespielt hatten, ehe sie berühmt wurden. Der Club hatte Generationen sozialisiert. Wir wollten Abschied feiern. 

Und da, an einer Säule neben der Theke,  stand der "keltische Riese". Er war mir nie unsympathisch gewesen, aber wir hatten oft über den Verdacht, der auf ihm lastete, gesprochen. Ich beschloss, ihn anzusprechen. "Entschuldigen Sie, kann ich Sie einen Moment sprechen?" "Excuse me?"  "Sie haben doch oft in den Räumen der Erziehungswissenschaften gearbeitet. Ich möchte Sie etwas fragen." Wieder ein abwehrendes "excuse me?", wie jemand, der kein Deutsch versteht, oder nicht belästigt werden will. Ich wusste von meiner Frau, dass er Deutsch spricht, wiederholte meine Frage dennoch in Englisch. Er antwortete, er habe nie dort gearbeitet. Ich warf ein, es gäbe Zeugen. Er lenkte ein und sagte, er habe seit 1995 nicht mehr dort gearbeitet. In diesem Augenblick kam meine Frau,  die sich ein Bier geholt hatte, sah, dass ich mit ihm sprach, blieb einen Meter abseits stehen und beobachtete uns. Ich sagte, dass stimme nicht, er sei zuletzt vor gut zwei Jahren dort gesehen worden und es gäbe Gründe, weshalb ich mit ihm sprechen müsse. Er stünde unter schwerem Verdacht. "Excuse me?" Ich schilderte ihm, worum es ging, ich sagte, dass alle Beteiligten glaubten, dass nur er als Täter in Betracht komme, ich sagte, ich wolle, dass er wisse, dass man ihn verdächtige, und plötzlich warf er ein, es hätten aber doch auch andere an diesem Computer gearbeitet. Meine Frau mischte sich ein. Nur selten, sagte sie. Ich sagte, sollte er mit der Sache nichts zu tun haben, sei es um so besser für ihn, dann möge er die Störung entschuldigen, ansonsten wisse er, dass man ihn erkannt habe. 

Meine Frau sagte später, als sie zu uns gestoßen sei, habe der keltische Riese am ganzen Leibe gezittert. Mir war das nicht aufgefallen. Heute, eine knappe Woche später, sind wir uns sicher, dass er der Täter ist. Wir haben überlegt, ob wir die Polizei einschalten sollen, aber es gibt - außer den Widersprüchen seiner Einwände - keine vor Gericht verwertbaren Verweise. Man bräuchte einen richterlichen Durchsuchungsbefehl, um seinen Computer beschlagnahmen zu können, doch selbst, wenn man dort Dateien ähnlichen Inhalts fände, mehr als moralische Vorhaltungen könnte man ihm nicht machen, denn um ihn zu belangen, müsste man ihm Verbreitung, Herstellung und Verkauf nachweisen können. Wir hoffen, dass der Druck, unter den wir ihn gesetzt haben, ihn zum Nachdenken zwingt.  

12:04

Zimmer/Raum 2: Ich war fünfzehn, als ich es bezog. Mehr als ein Bett, ein Schrank, ein kleiner Tisch und ein Stuhl standen nicht drin. Vom Fenster konnte ich die vergitterten Zellenfenster des Gefängnisses im Amtsgericht sehen. Mit achtzehn zog ich in ein Zimmer unterm Dach. Tante Ä., die bis dahin im Geschäftshaushalt ihrer Schwester in dem Haus, in dem sie verschüttet - und das nach dem Krieg wieder aufgebaut worden war - gearbeitet hatte, zog jetzt zu uns. In mein ehemaliges Zimmer. Ein gusseiserner Ofen stand in der Ecke links gegenüber der Tür, die Verbindungstür zum Schlafzimmer meiner Eltern war mit einem olivgrün gestrichenen Schrank verstellt, ein Bett stand rechts neben der Tür, davor ein kleiner Tisch, zwei Cocktailsessel, ein Sofa, auf denen zwei Kissen thronten wie kleine Könige. In meiner Erinnerung ist in diesem Zimmer alles grün bis olivgrün. Und obwohl Tante Ä. in diesem Zimmer bis vor drei Jahren wohnte, hat sie es nie wirklich genutzt. Manchmal ging sie für ein Mittagsschläfchen nach oben, aber abends saß sie immer mit meinem Vater und meiner Mutter im Wohnzimmer, während ich oben unterm Dach laut Musik hörte.  

15:06

Zimmer/Raum 2.1: Es war auch das Zimmer, in dem K. sich die Pulsadern ritzte. Ein Signal, dass sie Unterdrückung und Gewalt nicht länger ertragen konnte. Der Hausarzt kam und spielte alles herunter. Sagte sinngemäß: "So ist das mit der Liebe manchmal." - Was hätte er sonst sagen sollen? Den Finger in die offenen Wunden einer familiären Katastrophe legen? - Nein. Er verklebte K.'s Wunden mit Heftpflaster und verabschiedete sich. Zurück bleibt dieses Bild: K. im Bett. Große Blutflecken auf der Bettwäsche. Verschämtes Wegsehen. Nicht verstehen. Schweigen. 

Zimmer/Raum 2.2: Letztes Jahr starb jemand in diesem Zimmer. Es war die Großmutter einer türkischen Familie, die in das Haus zog, nachdem meine Mutter und meine Tante ins Altenheim gezogen waren. Seit der vorletzten Jahrhundertwende hatten meine Großeltern und Eltern dort gewohnt.  

18:42

Zimmer/Raum 2.3: Wurde kopuliert? - Das entzieht sich meiner Kenntnis. Bei der allgemeinen Fortpflanzungsfreude der Menschen muss man jedoch davon ausgehen. Wer mit wem? - Das weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass während des Krieges bis in die frühen 50er Jahre ein ausgebombter Bäcker mit seiner Familie im ersten Stock wohnte. Das Zimmer war Teil ihrer Wohnung. Ich weiß, dass masturbiert wurde. Der Ausführende war ich selbst. Ich weiß auch, dass sich jemand fast 24 Stunden lang in regelmäßigen Abständen in einen neben das Bett gestellten Eimer erbrach. Das war Folge meines ersten und in dieser Intensität nie wiederholten Besäufnisses. Was in der Gegenwart in diesem Zimmer geschieht, weiß ich nicht. Meine Menschenkenntnis sagt jedoch, dass alles, was Menschen tun, auch in diesem Augenblick in diesem Zimmer geschieht. 


Do 4.04.02   00:53   (4.04.1978 Hikkaduwa) 

Zimmer/Raum 3: Aha. In diesem Zimmer ist Nacht. Zwei Lampen sind an und im Fernsehen läuft Trainspotting. Einer sitzt vorm Computer. Er ist aus der Stadt zurück. Er hat dort auf einer Session gespielt. Gut gemacht, haben sie zu ihm gesagt. Ich nehme an, nur aus diesem Grund hat er sein Zimmer verlassen, sich auf ein Rad gesetzt, ist gegen einen steifen Ostwind geradelt und hat einen SchankRAUM betreten. 

10:35

Zimmer/Raum 3.1: Fast ein ganzes Leben hat sich hier abgespielt. Es ist eine Bühne. Vater und Mutter betreten sie, als schon ein Kind auf der Welt ist. Kurz darauf kommt ein zweites hinzu. Auf- und ab treten verschiedene Tiere: Katzen meist, aber auch ein Meerschweinchen, ein Igel, ein Kaninchen und Vögel. Die Requisiteure haben während dieser Zeit alle Hände voll zu tun. Sie tragen Sofas hinein und wuchten sie abgenutzt wieder hinaus. Sie bauen Regale auf und ab. Sie postieren Stühle um einen Tisch. Sie diskutieren über den günstigsten Ort für den Tigersessel. So geht das jahrein und jahraus. Eigentlich gibt es nur einen Ort in diesem Zimmer, der in all den Jahren unverändert geblieben ist. Das ist die Ecke links unterm großen Fenster. Dort steht ein Verstärker, ein Kassettenrecorder, ein Radio, ein CD-Player und ein Plattenspieler. Noch eh überhaupt klar war, wie das Leben in diesem Zimmer dekoriert werden sollte, standen diese Geräte schon dort. Die Boxen wurden an der gegenüberliegenden Wand postiert. Dann wurde die Musik zur Installation ausgewählt, und die Requisiteure machten sich an die Arbeit. Man darf davon ausgehen, dass sie immer noch tätig sind. Seit ein paar Jahren hantieren sie gern mit Bildern und Skulpturen. Hängen und stellen sie um, als gäbe es einen Plan. Aber es gibt keinen. Alles wird augenblicklich entschieden. Alles kann augenblicklich vorbei sein. Das, finden seine Bewohner, ist wichtig zu wissen.

11:56

Strahlender, windiger Tag. Ideal, um Wäsche im Garten aufzuhängen. Von solchen Tagen träumt der dichtende Hausmann. Allerdings hat er seine Arbeit längst erledigt. Heute schaut er den Kolleginnen beim Wäscheaufhängen zu. Und staunt. Da gibt es hellblaue und vanillefarbene Damenunterhosen, Herrenunterhosen der Größe 7, bedruckt  mit Motiven schweizerischen Alm-Lebens, Glocken, Käselaibe, Buttertonnen etc., aber auch ein frohes Gruezi ist zu lesen (links neben dem Eingriff), und ein überflüssiges Alm. Außerdem hängt da eine beeindruckend große, türkisfarbene lange Frotteeunterhose, eine kardinalrote Satin-Schlafanzughose,  es wehen verschiedene T-Shirts und neun Waschlappen unterschiedlicher Farben im Wind, die, so nehmen wir an, im Badezimmer an kleinen Haken hängen, unter denen oben und unten steht. So vergeht der Tag, während meine Gedanken um "Die wilde Möhre" kreisen, eine Rundfunkarbeit, die ich in den nächsten Tagen in Angriff nehmen will, wenngleich mir noch schleierhaft ist, worum es sich drehen soll. Aber das beunruhigt mich nicht, denn dieser Zustand ist mir bekannt. Immer bleibt alles vage. Klärung erfolgt erst mit Beginn. 

13:14

Zimmer/Raum 4: Dies ist ein Raum, in dem sich jeder schon einmal aufgehalten hat. Es gibt weder Türen noch Fenster. Dennoch findet jeder hinein und - wenn auch unter Mühen - wieder hinaus. In diesem Raum wird nicht gesprochen, nicht gegessen, nicht einmal getrunken. Es herrscht völlige Dunkelheit. Man schwebt. Man verändert sein Aussehen. Alles in allem ist dies ein Raum, in dem Märchenhaftes geschieht. Ungeheures. Ein heiliger Raum. Der erste, in dem man sich aufhält, und der erste, den man wieder verlässt. Viel später versuchen viele, in diesen Raum zurückzukehren. Leider gelang das noch nie.  

15:44

Zimmer/Raum 5: Wer hätte gedacht, dass wir so schnell von Raum zu Raum eilen. Schließlich liegt ein ganzes Leben zwischen dem vorigen und diesem. Ein Leben dauert so und so lange. Niemand erhält Garantien, aber wenn es endet, endet es immer hier. Auch dieser Raum hat weder Fenster noch Türen. Auch diesen Raum betritt man nicht aus eigener Kraft. Verlassen wird er schon gar nicht. An seinem Äußeren ist leicht zu erkennen, ob er von Armen oder Wohlhabenden bewohnt wird. Und noch etwas unterscheidet ihn von anderen Räumen. Man trägt ihn. Links und rechts sind Messinggriffe angebracht. Man trägt ihn von hier nach dort, wobei dort entweder ein Loch in der Erde oder ein Ofenloch ist. Wie auch immer, der Raum verschwindet darin und löst sich samt Inhalt nach langer oder kurzer Zeit auf. Wer hätte gedacht, dass Räume sich auflösen können? Man lernt eben nie aus. 

 

Fr 5.04.02   8:04  (5.04.1978 Hikkaduwa)

Zimmer/Raum 6: Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein.

9:14

Sie hockten zu dritt in den Ästen eines Gehölzes hinterm Kindergarten. Als ich vorbeiging, rief ein Mädchen mir zu: "Wir fallen nicht runter." "Na wunderbar", sagte ich, "aber wenn ihr schon wie Vögel da hockt, solltet ihr auch singen." Das Mädchen schaute erst mich - dann ihre beiden Freunde an, und in ihren erstaunten Gesichtern konnte ich lesen, dass sie meinen Vorschlag ernsthaft in Erwägung zogen. 

11:57

Zimmer/Raum 7: Auch ein Zimmer, dessen Fenster zum Amtsgericht weist. Aber man muss sich strecken, um die vergitterten Zellenfenster zu sehen. Streckt man sich nicht, schaut man auf eine hohe, rote Ziegelmauer. Was man dahinter vermutet: Verbrecher, die  ein- zweimal pro Tag ihre Runden drehen. Es gibt eine Tür in dieser Mauer, ein hohe, graue Eisentür mit zwei Flügeln. Geöffnet hat sie noch nie jemand gesehen. In den fünfziger Jahren stand ein Ofen mit emaillierten Türen, einer Ofenplatte, aus der Ringe genommen werden konnten, um einen Topf der Glut aussetzen zu können, in diesem Zimmer. Rings um den Ofen verlief ein Handlauf. Später stand an seiner Stelle ein Gasherd. Die beiden Schränke waren uralt. Zweiteilig. Unten die Töpfe, oben die Teller. Ein Tisch in der Mitte, an dem jeder seinen Platz hatte. Stirnseite mit Blick zum Fenster: Vater. Links neben ihm: Mutter. Ihr gegenüber: Sohn. Dem Vater gegenüber : die Tochter. In der Ecke rechts neben dem Fenster eine Spüle. Später auch eine Waschmaschine. Dieses Zimmer war lange das einzig und ständig beheizte Zimmer im Haus. In diesem Zimmer fanden Kämpfe statt. In diesem Zimmer wurde geschrieen und krakelt. In diesem Zimmer flog ich aber auch auf den in die Höhe gereckten Füßen meines auf der Chaiselongue liegenden Vaters über den Atlantik nach Amerika. In diesem Zimmer hörte ich Sätze, die ich nie jemandem sagen werde. Dieses Zimmer war das Zentrum der Welt. Bis ich eines Tages eine Tasse Kaffee nahm und sie meiner Mutter entgegen schleuderte. 

15:03

Zimmer/Raum 8: Das Zimmer hatte eine Nummer. Es standen drei Betten darin, die Wände waren kalkweiß. Zwei Betten waren leer. Im dritten lag W., ein Mann um die fünfzig, schwachsinnig. Er arbeitete in der Küche des Krankenhauses, er fegte den Hof, er tat dies und tat das. Man kann sagen, er verzehrte sein Gnadenbrot. Und dann kam der Tag, an dem er vor ein Auto lief. Mir hatte man gesagt, ich solle mich zu ihm setzen, W. habe sonst niemanden mehr. Ich glaube nicht, dass er bei Bewusstsein war. Neben dem Kopfende seines Bettes stand ein Monitor, der die Herzfrequenz zeigte: eine auf- und absteigende Kurve. Das Zimmer war halbdunkel. Die Ruhe, die darüber lag, war mir unheimlich. W. atmete ruhig. Ich beobachtete abwechselnd ihn und den Monitor. Die Herzfrequenz-Kurve verflachte. Ich lief zur Stationsschwester. Sie sagte, ich solle mich nicht , er stürbe, ihm sei nicht mehr zu helfen, ich solle nur bei ihm bleiben. Das tat ich. Die Ruhe im Zimmer bekam etwas Unwirkliches, obwohl nichts wirklicher ist als der Tod. Aber dies war meine erste Begegnung mit ihm. Nach einer Weile gewöhnte ich mich. Und als W. gestorben war, fand ich, dass nichts an ihm erschreckend war. Ich verließ das Zimmer und sagte: "W. ist tot."

21:09

Zimmer/Raum 9: Wieso ist es so ruhig? Lauert Gefahr?

 

Sa 6.04.02   15:49  (6.04.1978 Hikkaduwa)

Zimmer/Raum 9.1: Kein Zutritt.  

 

So 7.04.02   10:47 (7.04.1978 Colombo)

Zimmer/Raum 9.2: Wir haben es uns überlegt. Wir gestatten Ihnen den Zutritt auf eigene Gefahr. Die handelnden Personen könnten Sie an Ihr Leben erinnern. Deshalb seien Sie vorsichtig. Betreten Sie das/die Zimmer, als lauerten dort wilde Tiere. Als hockten Dämonen auf Schränken, als tobten dort Stürme, die jeden davon wehen. 

13:36

Als ich meine Mutter letzte Woche besuchte, bat sie mich, Vitaminbonbons, Saft und einen Labellostift für sie zu kaufen. Ich ging zum Supermarkt an der Gildehauser Straße. In der Nachbarschaft wurde gerade das Möbelhaus M. abgerissen, ein Bau aus den Sechzigern, einst hochmodern, aber seit die Möbelmärkte an den Stadträndern so groß sind wie Fußballplätze, längst überholt. Bagger mit Greifzangen brachen Wände um, während ein Arbeiter Wasser auf die Trümmer spritzte, um den Staub zu bändigen. Ich kaufte ein und ging zurück. Ein blauer Wasserschlauch lag am Weg. Er endete an einem Hydrant kurz vorm Altenheim. Ich unterbrach die Wasserzufuhr und machte mich aus dem Staub.  

14:34

Lieber Herr Genazino, als ein Freund mir vor zwanzig Jahren die "Abschaffel" Trilogie empfahl, kaufte ich sie, begann darin zu lesen und legte sie wenig später beiseite. Vor zwei Monaten nahm ich sie erneut aus dem Regal und war schon nach der ersten Seite begeistert. Seitdem habe ich "Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz", "Fremde Kämpfe", "Ein Regenschirm für diesen Tag", "Das Licht brennt ein Loch in den Tag" und "Die Kassiererinnen" gelesen. Ein paar Mal stieß ich auf Begebenheiten, die ich nicht glauben kann. Zum Beispiel schreiben Sie, Sie hätten beobachtet, dass ein Habicht einem anderen Habicht im Flug eine Maus übergibt. An anderem Ort beschreiben Sie die Reise zu einer niederländischen Insel, zu der man drei Stunden unterwegs sei, auf der nur wenige Menschen lebten und es kein Hotel gäbe. Ich wüsste gern, wo diese Insel ist. Ich kenne die niederländischen Inseln. Zu keiner ist man viel länger als eine Stunde unterwegs. Und dass es auf einer kein Hotel gäbe, ist Unsinn. So etwas sollten sie nicht schreiben. Im übrigen aber war es tröstlich, ihre Bücher zu lesen. Ich werde sie weiter empfehlen. (zurück in die Zukunft)

18:24

Zimmer/Raum 10: Zwei liegen im Bett. Sie haben es gerade getan. Erstens, weil sie sich lieben, zweitens, weil dies die Stadt der Liebe ist. Das Bett hat gequietscht und geschwankt. Ein Wunder, dass es nicht zusammen gebrochen ist. Das Zimmer ist schäbig. Ein besseres konnten sie sich nicht leisten. Es riecht nach Katzenpisse. Durch das geöffnete Fenster hört man Schreie, Klatschen auf Fleisch, Schläge, splitterndes Holz und zerspringendes Glas. Die Geräusche kommen aus einem Kino, in dem nur Kung-Fu-Filme laufen. 

 

Mo 8.04.02   7:59  (8.04.1978 Kathmandu)

Zimmer/Raum 11: Frauenzimmer.

Zimmer/Raum 12: Herrenzimmer.

Zimmer/Raum 13: Ein Zimmer mit dieser Nummer gibt es nicht. Es handelt sich entweder um das Zimmer 12 a oder 14. 

15:40

Er reicht vom Parterre bis unters Dach. Er ist luftig. Sitzt man darunter und schaut hoch, ist alles rosa. Eine Wolke. Darüber ein blass blauer Himmel, der sich weiter und weiter entfernt.  Schwer, ihn in Kubikmetern auszurechnen, denn er hat weder Ecken noch Kanten, er ist auch nicht rund, hat weder Fenster noch Türen, und die frische Luft, die ihn umstreicht, kann niemand in Litern messen. Vielleicht handelt es sich um eine Fata Morgana, vielleicht ist es aber auch wahr und man findet die Lösung.

20:00

Auf dem Betriebsgelände stehen fünfzig Gebrauchtwagen. Kaum einer kostet weniger als 5000 Euro. Von den wenigen schaue ich mir einen näher an. Es ist ein Kombi, 2,2 Liter, 116 PS. Ich gehe herum. Ich schaue darunter. Ein Verkäufer kommt und fragt, ob er mir den Wagen auf eine Bühne fahren solle. Ich bejahe und bin sehr angetan, dass man auf einen von mir noch nicht ausgesprochenen Wunsch reagiert. 

Der Wagen steht auf der Bühne. Ich versuche, ihn so fachmännisch wie mir möglich zu begutachten. Nicht, dass ich ein fundiertes Urteil abgeben könnte, aber ich will mir zumindest den Anschein geben. Ich nicke. Der Wagen sieht trotz seines Alter gut aus. Sie können ihn gern einmal fahren, bietet der Verkäufer mir an. Das tue ich. 

Ich bin behäbiges Fahren gewohnt, ich fahre eher defensiv, und selbst wenn ich schnell fahren wollte, mit meinem Peugeot ginge das gar nicht. Der Wagen, in dem ich nun sitze, fährt mit mir davon. Er fährt schnell. Ich beschleunige auf 120. Ich öffne reihum die elektrisch betriebenen Fenster, weiß aber anschließend nicht, wie sie zu schließen sind. Ich fahre zurück auf das Betriebsgelände. Was wäre mit meinem alten Wagen? frage ich. Würden Sie den in Zahlung nehmen? Unter Umständen, sagt der Verkäufer. Dann gibt er mir Informationen zum Wagen und seine Karte. Ich sage, dass ich ihm bis morgen Bescheid sagen werde, wie ich mich entschieden habe. Er verabschiedet sich freundlich. Das war heute Vormittag. Heute Nachmittag stieß ich in unserer Nachbarschaft auf einen Wagen, der 50000 Kilometer weniger gefahren hatte und mir auf Anhieb besser gefiel. Auch den fuhr ich. Morgen werde ich ihn kaufen.  Den Verkäufer der anderen Firma habe ich informiert. Ob ich ein anderes Fahrzeug gefunden hätte, fragt er. Ich bejahe. Ich nenne ihm Fabrikat, Fahrleistung und Kilometerstand. Er sagt, da machen Sie einen guten Fang. 

 

Di 9.04.02  8:52    (9.04.1978 Kathmandu)

Zimmer/Raum 14: Mein Zimmer ist klein. Es ist eher eine Höhle. In einer Nische habe ich meinen Altar aufgebaut. Ein Foto von C., eine Kerze, Räucherstäbchen, mein Tagebuch. Die Tür führt in einen Innenhof. Braunrotes Gemäuer, an dem weiße Rosen ranken. Ich wasche mich am Brunnen im Hof. Das Wasser ist eiskalt. Die Menschen sind bronzefarben. Manche kichern, wenn sie mich sehen.  

11:40

Eine Versicherungskauffrau, bei der ich unser Auto versichere,  gesteht, nachdem sie meinen Beruf erfragt hat und entzückt "das ist aber toll" ausruft,  dass sie nie ohne Buch ins Bett gehe. Krimis, Historisches und (Lachen) manchmal auch ein Kinderbuch. Kinderbücher hätten so was. Ich frage nicht, was. Ich kann es mir aber vorstellen. Sie hat ein Rauchergesicht und kräftige Hände. Ihr Lachen klingt auch so. 

14:46

Mein Führerschein wurde mir am 7. April 1971 nach bestandener Prüfung ausgehändigt. So steht es da. Aber ich hatte damals noch kein Auto. Meine Eltern hatten auch keines, wenngleich mein Vater noch immer davon sprach, seine Wehrmachtsführerscheine umschreiben zu lassen, um dann vielleicht ein Auto zu kaufen. Ich kaufte mein erstes drei Jahre später. Ein Käfer, den man an manchen Tagen anschieben musste. Dann sah man mich mit einer Hand am Steuer, mit der anderen am vorderen Holm schiebend, meine Mitbewohner am Heck, ebenfalls schiebend, über den Dorfplatz traben, manchmal bis zur Post. Mein nächstes Auto war ein Peugeot 404. Mein Vater hatte das Dach vanillefarben, den Rest schokoladenbraun gestrichen. Eine bildschöne Limousine, natürlich gebraucht, denn eine neue konnte ich mir damals und kann ich mir heute nicht leisten. Allerdings zahlte ich bar, was ich auch heute noch tue und was viele für Dummheit halten. Im 404 übernachteten wir oft an verschiedenen Orten Europas. Anfang der Achtziger kaufte ich einen R4. Dem folgte ein Peugeot 303, ein Kombi, dessen Motor auf der Jungfernfahrt auf der Ijsselbrücke bei Deventer explodierte. Ein Ersatzmotor wurde eingebaut, aber kurz darauf fuhr mir jemand von hinten auf, das Chassis verzog sich und so kam ein Peugeot 304 ins Haus, an den ich kaum Erinnerungen habe. Unser größtes Auto war ein Peugeot 505, mit dem wir über Jahre in Urlaub fuhren, bis ich das Auto kaufte, das ab morgen Vergangenheit sein wird, ein Peugeot 404.  Und der neue Gebrauchte? Ein Volvo. Allerdings bin ich den Franzosen nicht untreu geworden, denn das Auto hat einen Renault Motor. 

19:56

Ich verließ das Büro, um mit dem Chef noch ein paar Dinge zu klären. Er stand auf dem Hof und sprach mit einem Mann meines Alters. Ein Typ in Jeans, dickem Bauch unterm dunklen Flanellhemd plus Kaschmirpullover und einer  karamellfarbene Wildlederjacke. Aus seinem offenen Hosenladen hing ein Zipfel seines Hemdes heraus. Ich sah es, die Chefin sah es und der Chef sah es auch. Die beiden beendeten ihr Gespräch. Der Chef wendete sich mir zu, und während wir besprachen, was zu besprechen war, ging der Mann zu seinem Golf-Cabrio und setzte sich hinein. Er wollte es in die Werkstatt fahren, die allerdings noch nicht frei war. Ich verabschiedete mich, ging zu dem Cabrio, beugte mich zu dem Mann (vielleicht zu verschwörerisch, denn er schaute sehr misstrauisch) und sagte: Darf ich Ihnen einen Tipp geben? Er zögerte. Ich machte auch eine dramatische Pause, worauf er schließlich nickte. Sie haben den Hoseladen auf, sagte ich und ging. Als ich schon vier, fünf Meter weg war, lachte er laut auf und rief mir nach, so etwas könne man sich unter Männer ja sagen. Ja, ja, sagte ich. 

21:18

Ruhig und ausführlich berichtete ich ein Ereignis nach dem anderen. (...) Dass ich mich irgendwie über Wasser halte. Obwohl ich nirgendwo hingehen kann. Dabei aber trotzdem gealtert bin. Dass ich niemanden ernsthaft zu lieben imstande bin. Dass ich meine Leidenschaft verloren habe. Dass ich nicht weiß, was ich mir wünschen soll. Dass ich jedoch bei allem, was ich tue, mein Bestes versuche. Dass es aber keine Rolle spielt. Dass ich spüre, wie ich langsam steif werde.  (1)

 

Mi 10.04.02   9:39  (10.04.1978 Kathmandu)

Zimmer/Raum 15: Man müsste schon fliegen, um hinzukommen. Man könnte auch mit dem Schiff übers Meer fahren. Auf jeden Fall muss man fort, weit weit fort. 

10:46

Die ersten Sätze der "wilden Möhre" sind fixiert. So fängt es immer an. Ob es weiter geht, kann ich noch nicht sagen. Aber das Signal wirkt positiv. Er hilft, Bilder aufzubauen. Sofort tauchen Motive auf. Das lässt hoffen. Der einzige Wehrmutstropfen der täglichen Selbstbehauptung eines Schriftstellers ist die geplante/gewollte Verwertung. In den Redaktionen herrschen schwer kalkulierbare Gesetze. Hat die Lektorin/Redakteurin etwa einen misslungenen GV hinter sich, hat sie schlecht geschlafen, war ihr Stuhlgang zu hart oder zu weich, kann es sein, dass mein Manuskript dafür büßen muss und auf dem Stapel "uninteressant" landet. Alles kann sein, wenn so ein Manuskript meinen Schreibtisch erst einmal verlassen hat. Eitelkeiten spielen eine Rolle. Eifersucht kann Erfolg verhindern. Ich hatte es einmal mit einer eifersüchtigen Redakteurin zu tun, die heute zum Glück im Ruhestand ist. Ich hätte sie gern erwürgt. Ideal wäre es daher, man verfügte über ererbtes Vermögen und wäre demütig genug, aus Liebe zu schreiben. Aber so ist meine Welt nicht gestrickt. Ich kalkuliere. Ich sage, wenn die das Ding kaufen, halte ich meinen Standard vom letzten Jahr. Vorausgesetzt, das Hörspiel, das zur Entscheidung bei einem anderen Sender liegt, wird auch gekauft. Wenn nicht, geht alles wieder von vorn los. Aber das ist nicht neu. Nur jedes Mal überraschend.  

12:32

flashback: was bleibt ist der schrecken der wiedergeburt. aber was soll's. die zigarette schmeckt süß. im yin und yang gibt es haschischkuchen. da seid ihr, hier bin ich, woodstock war ein witz. draußen ist das mittelalter und tod herrscht. hier drin spielt musik. eitel ist alles, so eitel, ihr hippies. als ich heute früh mit dem rad zum paschupati tempel unterwegs war, stieß ich an einer mauerecke auf ein skelett. erst dachte ich an ein kind, aber es war ein affe. rings um kathmandu ist es grün. mais, glaube ich. nebelfetzen am morgen, rauchfahnen über den hütten. tiefes elend. ich bin längst auf dem heimweg. 

 

Do 11.04.02    9:12  (11.02.1978 Kathmandu)

Für's Alter parfümiert. Fehlt nur noch die Rente. Guten Morgen, liebe Mitalternde. 

9:59

Das sind die Sätze, von denen ich sprach:

Die wilde Möhre

Sein Name ist Pelle. Sein Haar ist blond wie Stroh. Er ist spindeldürr, obwohl er gern und viel isst.  Wenn er die Arme reckt, reicht es, einen Apfel vom Baum im Garten zu pflücken. Es ist ein kleiner Baum, eher ein Bäumchen, und seine paar Äste hängen tief. Zehn Äpfel sind dran, wenn’s hoch kommt mal elf oder zwölf. Wenn’s dreizehn werden, wird es gefährlich, hat Opa gesagt.

14:38

Zimmer/Raum 16: Vor einem halben Jahr sah ich ihn an der Straße zur Grenze. Schmerbauch, schulterlanges fettiges Haar, nachlässig gekleidet. Ginger! dachte ich. Trotz dieses Namens war er nie über das Trommeln auf Bänken hinausgekommen. Wir gingen zur gleichen Schule. Ich zwei, er vier Jahre, weil er jede Klasse wiederholen musste. Ginger hatte den gleichen Beruf erlernt wie ich, war nach Berlin gegangen, hatte geheiratet, die Frau war ihm weggelaufen, Anfang der 90er war er in das Kaff an der Grenze zurückgekommen, arbeitslos. Als wir zusammen zur Schule gingen, war sein Zimmer mit Slips tapeziert. Nicht, dass einer ihm abnahm, er habe all diese Trophäen erobert, aber gesehen haben musste man das. Die Slips waren bonbonfarben, manche hatte Rüschen. Dazwischen hatte er Kondome gepinnt. Verschiedene Sorten, wenngleich es damals  kaum Auswahl gab. Der Rest war voll mit Postern der Cream, Led Zeppelin, Cuby's Bluesband und....

16:51

Nudelte über Land, um das neue Auto kennen zu lernen. Landete schließlich bei Musik Produktiv.  Die Schlagzeugabteilung dort ist so groß wie ein mittleres Kaufhaus und überall stehen Schlagzeuge. Jedes darf man spielen, man muss nur fragen. Ich streifte herum, noch ohne zu wissen, was ich eigentlich wollte, ging in die Cafeteria, trank Kaffee und kehrte dann mit dem Vorsatz zurück, Snares zu testen. Eine 'dw graviotto', aus einem Ahornblock gearbeitet, gefiel mir auf Anhieb. Die Art, wie die Stöcke tanzten, ihr runder warmer Klang, das Sirren des Teppichs. Ich war begeistert und erkundigte mich nach dem Preis. 1495 Euro.  Am Nachmittag erzählte ich C. davon. 

Sie sagte, ihr sei heute ähnliches passiert. Auf der Suche nach einer neuen Armbanduhr habe ihr ein Modell besonders gut gefallen. Sie habe sich nach dem Preis erkundigt und nun solle ich raten. Ich zuckte die Achseln. 3000 Euro. 

Woraus man nur schließen kann, dass wir in einer parallelen Existenz wahrscheinlich stinkreich sind, waren oder sein werden, je nach Standort der Betrachtung.

Sollte ich diesen Zustand noch erleben, werde ich nicht zögern, meinem Wunsch, die Snare zu besitzen, nachzugeben. Außerdem werde ich Jaguar fahren. C. wird die Uhr kaufen, und was dann noch übrig bleibt, werden wir für Bilder, schöne Möbel und anderes nutzloses Zeug vergeuden. Mein Sarg wird die Form eines Schlagzeuges haben, weshalb es besonders teuer sein wird, mich zu kremieren. Aber das macht nichts. Ich bin ja reich.  

 

Fr 12.04.02   8:06  (12.04.1978 Kathmandu)

Zimmer/Raum 17: Ein Premierenzimmer. Schmal. Ein Spülstein gleich links, ein Jugendbett, ein Schreibtisch, ein Regal, Bücher von Satre, Camus, Kafka, Schulbücher. Die vorherrschende Farbe: braun, beige. Das Zimmer in einem Bungalow. Die gleiche Farbe. Der Geruch: atemberaubend, denn hier wohnen drei Männer mit Schweißfuß und zwei Frauen. Eine von ihnen, die Mutter,  ist depressiv. Ich bin neunzehn und häufiger Gast. Aber aus der Premiere wird nichts. Der Spülstein, der eine stützende Rolle spielen soll, weigert sich und bricht ab, und so haben wir andere Dinge zu tun.   

Zimmer/Raum 18: Die Bühne ist gerichtet. Ein Raum für Illusionen mit Stellwänden, Requisiten und Licht. Das Stück heißt: Der Groß-Cophta. Goethe. Es geht um die höfische Gesellschaft und ihre Modeticks: Wunderheiler. In einer Szene sitzt die Gräfin Soundso nackt im Bade. Sie ist sehr attraktiv. Die Beleuchter (u. a. ich) und Bühnenarbeiter, sonst im Aufenthaltsraum mit Bier trinken und Skat spielen beschäftigt, stehen in der Gasse und versuchen den Anschein zu erwecken, gleich sei Umbau. Aber gleich ist kein Umbau. Gleich muss die Gräfin aus dem Bad steigen. Danach sind die Gassen wieder leer gefegt. 

13:12

flashback: kathmandu, im landeanflug, stoned....

 

Sa 13.04.02     10:45 (13.04.1978 Kathmandu)

Heute wegen Hausputz geschlossen.

22:06

Zimmer/Raum 19: Ein Fenster, eine Tür, ein Loch im Boden, darüber eine Porzellanschüssel. Das Fenster in einem Viertel eines halbrunden Türmchens, das sich ans Haus klammert wie eine verunglückte Umarmung. Das Fenster ist hoch überm Boden und klein. Aber man kann es schaffen. Man lehnt ein Fahrrad an die Wand, steigt auf den Sattel, hält sich mit dem rechten Arm am Fensterrahmen fest, schiebt ein Bein durch das Fenster, zieht den Unterkörper nach, bis man halbschräg in der Fensteröffnung hängt, versucht, mit der freien Hand das Rohr des Spülkastens zu fassen, zieht den Kopf ein und arbeitet sich langsam ins Innere dieses Raumes vor. Ein Bein hängt bei dieser akrobatischen Vorführung noch draußen, während der Fuß des anderen,  noch weit über der Porzellanschüssel schwebend, dennoch versucht, die Brille zu erreichen. Es reißt im Schritt, aber dann ist es geschafft. Man zieht das andere Bein nach, steht schließlich mit beiden Beinen auf der Brille und hofft, dass die Tür nicht von außen abgeschlossen ist. 

 

So 14.04.02    11:18  (14.04.1978 Pokhara)

Morgen vielleicht.

14:58

Wanderten in den Baumbergen. Diesiger Blick bis zum Nordrand des Ruhrgebiets. Saßen auf einem Buchenstumpf im Wald und hörten den Vögeln zu. Übten das Blinzeln über blühenden Raps. Sahen Felder, deren Konturen gegen den Horizont denen eines auf der Seite liegenden weiblichen Körpers ähneln. Hörten den dringenden Schrei eines Fasan und sahen die ersten sichelnden Schwalben des Jahres. Werden den Rest des Tages vertrödeln.  

20:47

Zimmer/Raum 20: Ich gehe durch das Lager, folge einem dunklen Flur und stehe vor einer Tür. Ich öffne und trete ein. Ein rechteckiger großer Raum. Links, den Raum teilend, zweimal vier Schreibtische, die sich gegenüber stehen. In der hinteren Reihe ganz links der meines Feindes. Rechts von der Tür ein großer Ofen, den ich feuern muss. Hinter meinem Feind ein Fernschreiber. Sansevierien auf den Fensterbänken. Darunter zwei Schreibtische für die Damen. Ansonsten nur Männer in diesem Büro. Jeden Tag von früh bis spät Männer verschiedener Lebensalter. Ich bin der jüngste. Ich veranlasse, dass alle Anwesenden  den Raum verlassen. Mein Feind muss bleiben. Ich kette ihn an den Fernschreiber. Dann übergieße ich Akten und Schreibtische mit Benzin und zünde es an. Dann verlasse ich den Raum. Ich schaue zu, wie die Flammen auf das Lager übergreifen und das Gebäude bis auf die Grundmauern niederbrennt. Ich bin glücklich. Endlich ist er tot.  

 

Mo 15.04.02    7:48  (15.04.1978 Pokhara)

Grau. Wind von Südwest. 8 Grad C. Tote: keine Angaben. Aussichten: keine Besserung.  

9:23

Es war einmal ein kühler verregneter Nachmittag vor vielen Jahren, als sich Glück und Unglück die Hand gaben und wir einen Tag lang  nicht sicher sein konnten, wer siegen würde. Wir saßen mit Freunden im Wohnzimmer, während der jüngste Sohn, damals vier, in der Wohnung unterwegs war. Uns entging, dass er versuchte,  seinen damaligen Lieblingsplatz hoch überm Alltag auf dem Kleiderschrank im Flur zu erreichen. Er hatte einen Stuhl herangeschoben, sein Bobbycar auf den Stuhl gestellt und war hochgeklettert. Und dann war es geschehen. Kopfüber war er vom Schrank gestürzt, für uns zunächst nur ein alarmierendes Geräusch. Meine Frau ging, um es zu ergründen. Sah ihn und und schrie. Ich eilte hinzu, und dann sah auch ich ihn auf dem Rücken liegend, leblos. Kein Blut. Keine Verrenkungen. Meine Frau starr vor Schreck. Ich legte mich neben ihn. Sprach ihn an. Ich legte meinen Arm um ihn. Nach einer Weile öffnete er die Augen. Er wimmerte. Ich trug ihn aufs Bett. Er wehrte sich. Wir riefen den Notarzt. Er meckerte. Sein Rebellentum, damals besonders ausgeprägt, seine Wut, die sich gegen alles richtete, was nicht so war, wie er es wollte, war schon wieder erwacht und nie war ich glücklicher darüber. Wenig später wurde er in die Klinik gebracht. Protestierend. Gift und Galle spuckend. Das nährte meine Hoffnung, dass er Glück im Unglück gehabt hatte. Einen Tag später bestätigte sich das. Der Flur muss voller Engel gewesen sein, als er fiel. 

18:12

flashback: man hat mir angeboten, in kathmandu als catcher im wikinger-kostüm aufzutreten. werde darüber nachdenken.    

 

Di 16.04.02    9:02  (16.04.1978 Pokhara)

Ich kann es nicht mehr sehen. Ich kann es nicht mehr hören. Es geht mir am Arsch vorbei.

10:12

Sollte es irgendwo weh tun, ignorieren Sie den Schmerz. Tanzen Sie. Man muss immer weiter tanzen. Immer. Tanzen. 

17:15

Zimmer/Raum 21: Ein Bett nur, darin: SIE. Bettlägerig seit ihrem Sturz vor sieben Jahren. Blind. Fast taub. Klaglos. Das Bett ist hydraulisch. Die Hydraulik unterscheidet acht Stellungen. Neben ihrem Bett ein Nachttisch. Darauf eine sprechende Uhr, zwei Flaschen Pfirsichsaft, Vitaminbonbons, Creme. Auf der Fensterbank ein Radio und ein Telefon. An der Wand hinterm Kopfende des Bettes Fotos vom Vater, von der Mutter, von den Schwiegereltern, den Kindern und Enkeln. Die Wände sind weiß. Obwohl ich das Zimmer einmal pro Woche  betrete, weiß ich nicht, wie der Fußboden aussieht. (Manchmal graut mir vor meiner Unaufmerksamkeit.) Aus diesem Zimmer gibt es kein Entkommen. Hier wird SIE sterben. Ich hoffe, dass ich bei ihr bin. 

18:05

Diesen Tag mit GRAU zu beschreiben, wäre geschmeichelt. 

 

Mi 17.04.02    9:43  (17.04.1978 Pokhara)

Wieder bin ich nicht geflogen....(2)

11:43

Ich wäre jetzt wohl in Rom. Ich säße an der Piazza Barberini, tränke Capuccino und schaute den Römern zu. Ein leichter Mantel läge über der Stuhllehne. Irgendwann stünde ich auf, schlenderte die Via Veneto hinauf zur Porta Pinciana und hielte mich links. Ich wüsste, dass im Park hinter den schlanken hohen Palmen die Villa Borghese liegt. Aber dorthin wollte ich nicht. Ich wäre auf dem Weg zur Via Condotti. Ich hätte bei Armani ein paar Tage zuvor diesen Anzug anprobiert,  aber da die Hosen ein wenig zu lang gewesen wären, hätten wir vereinbart, sie zu kürzen. Heute wäre Anprobe. Ich genösse den Blick über Rom, eh ich die spanischen Treppen hinab ginge, stolperte und stürzte. Ich bräche mir das Genick. Alles hinge nun davon ob, ob es gelänge, meine Wirbelsäule zu stabilisieren. Ein Kopfnicken wäre mein Tod. Geht es ihnen gut, würde jemand fragen. Ich würde nicken.  

14:47

Und so käme es, dass ich Engel würde. Nachmittags flatterte ich zur Ponte Cestio und äße Panini mit Schinken, Mozarella und Tomaten in der kleinen Bar auf der Insel, flöge über Trastevere hinauf zum Garibaldi Denkmal auf dem Monte Gianicolo, fettete meine Flügel und schaute über den Tevere hinab auf das Viertel zwischen dem Corso Vittorio Emanuele und der Lungotevere dei Tibaldi. Röche die Abgase, die mir nun nichts mehr anhaben könnten, stähle verdutzten Touristen Zigaretten und stimmte sphärische Gesänge an, bis selbst der letzte Skeptiker glauben würde, Rom sei mit dem heiligen Geist über ihm und ihm bliebe nichts, als sich zu beugen. Liefe dann guter Laune vorbei am Ospedale Del Bambin Gesu hinunter zum Fluss, folgte ihm aufwärts bis zur Piazza Della Rovere und machte mich auf dem Weg zum Chef im Vatikan. Der allerdings hätte gar nichts von mir, denn er wäre mit Regieren beschäftigt. 

15:02

Flöge weiter und engelte Schwestern, die später in glühenden Worten davon berichten würden, wie der heilige Geiste über sie gekommen wäre. 

18:19

Hätte nach so viel Erbauung kaum noch Lust und verzöge mich schleunigst. Machte mich auf zum Leonardo Flughafen und verstörte Flugpassagiere durch gekonntes Rückenfliegen vor deren Fenster beim Start, worauf viele an ihrem Verstand zu zweifeln begännen. Versuchte gleiches auch vor dem Cockpit, würde aber feststellen müssen, dass Piloten sich nicht so leicht ins Bockhorn jagen lassen. Dächte schon wieder ans engeln, die himmlischen Schwestern waren einfach zu süß. 

 

Do 18.04.02   8:03  (Pokhara 18.04.1978)

Zimmer/Raum 22: Man hat noch nichts gesagt. Vielleicht hat man noch nicht einmal zu denken begonnen, dennoch muss man sich stellen. Unausweichlich ist das, und jeden Tag wieder geschieht es, man steht sich Auge in Auge gegenüber und stellt sich entscheidende Fragen, die - wie jedes Mal - unbeantwortet bleiben. Dann putzt man sich die Zähne. Man wäscht sich Gesicht und Achseln. Man schaudert in den frühen Morgen, und wenn man glaubt, in seinen Betrachtungen schon ein wenig voran gekommen zu sein, wagt man einen zweiten Blick. - Ja. Man könnte glauben, es selbst zu sein. Man hat dieses Gesicht schon einmal gesehen. Bei längerem Nachdenken verdichten sich Gedankenfetzen zu Erinnerungen. Man ist schon länger in dieser Person anwesend, man erinnert sich sogar ihres Namens, aber man hat keinen Hinweis darauf, wie man hinein gekommen wäre. Man verlässt das Zimmer, um in einem anderen Kaffee zu trinken und sich mit Nachrichten aus aller Welt abzulenken. Morgen hat man den nächsten Versuch. Auch da wird man kaum weiter kommen.  

10:33

Zimmer/Raum 23: Endlich ein Raum der Kontemplation, eine "heilige Stätte der Abfuhr allen Übels", an der wir schon oft erlebten, dass sich seelische Konflikte mit - zugegeben - gewöhnungsbedürftigem Geruch - verflüchtigten. Was war geschehen? Wie kam es zu dieser Katharsis? - Wir können es uns kaum erklären, aber jeden Morgen pilgern wir demütig wieder hierher. Umgeben von Bildern heiliger Kühe und fliegender Schweine, bewacht von John Z., einer Zeichnung unseres jüngsten Sohnes M. und den Kopffüßlern unseres ältesten Sohnes J. brummen wir still unser Mantra, während anderen Orts andere Mantren explosionsartig den Morgen verschrecken.  

11:48

Er hatte endlich verstanden. Das also war das Geheimnis hinter der großen Liebe. Hiervon hatten all die Filme gehandelt, die er sich angesehen hatte. Jemandem ohne Furcht und ohne beschönigende Wort zu zeigen, wer man wirklich war. Ohne die ständige Angst, nicht gut genug zu sein. Seine ganze Unzulänglichkeit zu offenbaren und trotz aller Fehler nicht befürchten zu müssen, wie überflüssiger Ballast aussortiert zu werden. (3)

 

Fr 19.04.02   9:06  (Pokhara 19.04.1978 )

Fetz Fetz ab ins Netz.

10:07

Die Sonne schein. Wir glaub an ichts. D Frag mach uns mürb. 

12:26

Welch Frag frag u? Viel Fragzeich schwirr üb uns Kop. Gibt Tag da kanns kaum en Himm seh vor laut Fragzeich. Gibt ag da kling jed Wort wie ein Frag. Scheint, dass dies o ein ag ist.   

 

Sa 20.04.02    10:44   (Pokhara 20.04.1978)

Zimmer/Raum 24: Aus gestampftem Lehm ist der Boden. Aus Lehm und Stroh sind die Wände. Das Dach ist rietgedeckt. Ein kleines Fenster, mit einem Leinensack verhängt, eine niedrige Tür. Ständiges Halbdunkel im Innern, eine offene Feuerstelle. Mein Zauberhaus. Wenn ich hinaus trete, sehe ich im Nordosten himmelhohe Berge. Dahinter ist China. Ich zaubere. Ich gehe hinunter zum See. Ich zaubere. Ich sitze im Bus und fahre dahin zurück, wo ich hergekommen bin. Ich zaubere. Aber mein Hut bleibt leer und das Kaninchen mag keine Möhren.   

11:00

Hallo Herr Mensing
ja, wir wollen den Titel machen - für 8-jährige mit sw-Illus wie die Meise - aber nach starker Überarbeitung. Heute und morgen schaffe ich es nicht, ausführlich über das Projekt zu sprechen (Außendienstagung Freitag/Samstag), aber Anfang nächster Woche (wirklich!).

Ein rascher Gruß aus Wien....

Bitte gern bitte gleich!!!

19:41

Ehepaar A. und Ehepaar B. sitzen am Nachbartisch. Berlinern, sprechen von Broilern und darüber, wie gut bzw. schlecht sie geschlafen hätten. Plötzlich ruft Frau B.: "Ein Käfer!!! Ein Käfer auf meinem Bein!" Darauf ihr Mann: "Eigentlich erstaunlich, dass wir zwei Kinder haben." - 

Frau A. erzählt, dass Soundso schon drei Hörstürze gehabt habe. "Geht ja nicht, hat ja nur zwei Ohren!" wirft ihr Mann ein. - 

Wir spekulieren, ob's Ossis sind. C. meint nein, sie wären zu geschmackvoll gekleidet. 

Ergänzung 21.04.02 14:21 : "Ich bin hier nichts, denkt er, als Sachse mit Bart bin ich ein Untermensch, und in meinen schäbigen, unmodischen Kleidern sehe ich wie ein herumreisender Penner aus. Ich hab es nicht gelernt, meine Arbeitskraft teuer zu verkaufen, ich hab immer gedacht, dass ich durch das viele Westfernsehen die Bundesrepublik einigermaßen kenne und ihr vorbildliches Rechts- und Wirtschaftssystem, ich wär froh, wenn wir nur ein Viertel davon hätten. Aber hier muss man mitlügen und hochstapeln, wenn man aufsteigen will, aber wohin steigt man auf, fast alle haben fast alles und trotzdem freut sich keiner so richtig am Wohlstand, alle klagen sie oder demonstrieren. (4)

 

So 21.04.02    10:53  (Pokhara 21.04.1978)

Was für ein schöner Sonntag bahnt sich da an. C. meint, es läge am Bärlauch. 

11:14

Wanderten gestern ein kleines Stück Hermanns-Weg im Teutoburger Wald. Irgendwann summte C. "I-Männeken, Kaffee-Känneken, loat din Püppken tanzen..." und fragte sich, wie dieser Kinderreim wohl nach all der Zeit an die Oberfläche ihres Bewusstseins gestiegen sein mochte. Eine Weile darauf fiel uns auf, dass auf die Stämme mancher Buchen eine grüne Kanne auf weißem Grund gemalt war - eine Wegmarkierung. Und sofort wurde der Zusammenhang klar. Wir sehen unbewusst, aber die Nachricht dringt dennoch in tiefere Schichten und fördert Dinge zutage, die längst vergessen schienen. "I-Männchen, Kaffee-Kännchen, lass dein Püppchen tanzen...."  

Das gleiche Phänomen hat dazu geführt, dass wir letzten Sommer nach Schottland reisten. Als wir ein paar Monate vorher - im März nämlich - im Circus Maximus saßen, die Sonne genossen und unsere Beine streckten, kam eine Gruppe junger Römer, packte Dudelsäcke aus, stimmte sie und begann zu spielen. Seltsam, dachten wir, während die Töne die weite Fläche des Circus Maximus fluteten, über die Hunde jagten und Spaziergänger trödelten. Jetzt wissen wir, wozu es geführt hat. Und so geht das jeden Tag. Jeden Tag nehmen wir unbewusst wahr, aber in den Tiefen unseres Bewusstseins arbeiten diese Signale weiter, um irgendwann hervor zu brechen. Ich bin aber sicher, dass man nicht immer so glimpflich davon kommt.  

16:01

Zimmer/Raum 25: Alle bisherigen Räumen hatten drei Dimensionen, deshalb zögere ich, diesen Raum zu beschreiben, denn er hat nur zwei. Und die sind auch nur dann belebt, wenn elektrischer Strom fließt und einen Videorekorder treibt. Wir sehen eine italienische Familie am Strand von Bergen an Zee im Jahr 1990. Gelangweilte Kinder im Alter zwischen fünf und zehn. Eine Frau, deren  Blicke sehnsüchtig über den Horizont schweifen und ein missmutig Kette rauchender Mann. Falls Sätze gesprochen werden, klingen sie ermüdet. Dann aber ein plötzlicher Wandel. Er macht eine Videokamera aufnahmebereit. Als alles eingestellt ist, gib er sie seiner Frau und beginnt mit den Kindern zu spielen, was diese zunächst nicht begreifen, dann aber mit aufgeheiterter Mine als willkommene Abwechslung begreifen. Sie filmt. Er ruft launige Sätze ins Objektiv. In den nächsten Minuten entwickelt sich fröhliches Treiben am Strand. Close-Ups wechseln mit Schwenks, man filmt, was das Zeug hält, dann aber sind die Aufnahmen abgeschlossen und die Familie fällt zurück in die bewegungs- und freudlose Starre des dreidimensionalen Raumes. 

 

Mo 22.04.02   10:58  (Sangarkot 22.04.1978) 

Hermann, bitte melde mich!

13:47

Ich bin im Schreibraum. Auch dies ein virtueller Raum. Der tatsächliche Raum kann überall sein, das Schreiben an sich findet dennoch woanders statt. Wo, weiß ich nicht. Jedenfalls findet man mich im Augenblick dort. Und ich melde mich. Hier bin ich. Oder?

15:16

Zimmer/Raum 26: Wenn ich mich recht erinnere, heißt der Platz Dhurbar Square. Er trennt das alte und neue Kathmandu. Und an einer Seite steht das Gefängnis. Ich hatte oft zu den vergitterten Fenstern hoch geschaut. Eines Tages sah ich, dass jemand winkte. Ich kannte ihn. Ich hatte ihn auf Sri Lanka getroffen. Er rief, ob ich ihm Papier und Zigaretten besorgen könne. Ich nickte. Ich kaufte, was er wollte und machte mich auf den Weg in dieses Gebäude. Gleich hinter der ersten Wache begann ein dunkler Traum. Es roch nach Urin und Unrat, die Wände waren fleckig, das Licht trüb und mich hätte nicht gewundert, Schreie zu hören. Ich erklärte einem Wachbeamten, was ich wollte. Er verwies mich in ein bestimmtes Büro. Ich ging hin und klopfte. Jemand bat mich herein. Zigarettenrauch. Gitter vorm Fenster. Ein Metallschreibtisch. Ein Stuhl. Ein Metallschrank. Alles schäbig und überall Aktenstapel. Ein Mann hinterm Schreibtisch. Klein, mit gefährlich verschlagenem Blick. Wieso war ich eigentlich in diese Höhle gekommen? Setzen, sagte der Mann. Nicht "setzten Sie sich". Mir wurde schlagartig klar, dass ich mich in seiner Gewalt befand, und er nicht zögern würde, nach Gutdünken mit mir umzugehen. Er verhörte mich. Das Schlimmste war, dass ich ein paar Gramm schwarzen Afghanen in der Tasche hatte. Hier kommst du  nicht wieder raus! dachte ich. 

23:08

Liebe Konsumenten, die Ihr versehen seid mit den verschiedensten Systemen zur Tröstung, als da wären die heilige dreifaltige Kirche, der Islam, Buddha, die Popmusik, der Jazz, die Kultur im Großen und Ganzen, die Psychotherapie und ähnlicher Quatsch, hört, was ich Euch zum weiteren Trost biete. Hört und folgt, denn der Trost, der Euch zukommen wird, ist grandios. Geht, schaut und hört das Vienna Art Orchestra, wie ich es soeben tat,  lasst Euch tragen von vier Trompeten, vier Posaunen, vier Saxophonen, zwei Rhythmusgruppen (die eine elektrisch, die andere akustisch), gehet hin wo immer Ihr davon erfahrt, dass dieses Orchester spielt, kauft eine Karte und freut Euch, dass das Leben so schön sein kann. Und als Zugabe dann diese herrliche Frühlingsnacht. Wieso zögert ihr? Geht. Haut schon ab.   

 

Di 23.04.02    11:34  (Pokhara 23.04.1978)

Zimmer/Raum 27: Schon wieder so ein Raum, der die Definition dessen, worüber wir sprechen wollten, ein wenig sprengt. Sprachraum. Der Raum, in dem ich groß geworden bin. Der Raum, der zu meiner Kindheit noch durch die Insignien des einen und des anderen Staates voneinander geteilt war, wenngleich immer durchlässig und seit Schengen ohne jede Kontrolle zu betreten bzw. zu verlassen. Auf meiner Seite wurde Deutsch und Plattdeutsch gesprochen, auf der anderen Niederländisch und Twents. Das Plattdeutsche und das Twents gleichen sich sehr. Im Niederländischen und Deutschen gibt es jedoch - entgegen landläufiger Annahme - eine große Zahl verschiedener Worte und Wortstämme, was vielleicht damit zusammenhängt, dass die Niederlande schon früh eine seefahrende Nation war, die ihr Wesen (und Unwesen) in Übersee trieb. Ich wuchs zwischen all diesen Worten auf und begann früh, sie zu imitieren. Als ich fünfzehn, sechzehn war, gelang es mir schon, nach Übertreten der Grenze meine deutsche Haut abzulegen und die niederländische überzustreifen. Mir gefiel das. Es gab mehrere Gründe für diese Verwandlung, einer war, dass ich mich so meiner deutschen Vergangenheit entledigen konnte. Noch heute liebe ich diese Wechsel. Und gäbe es Wiedergeburten, ich dränge darauf, an einer Grenze geboren zu werden.   

17:41

Erfahrener Schriftsteller, der die Nase gestrichen voll hat von Einwänden wie ... Lieber Herr M., ich habe Ihr Stück gelesen. So gefällt es mir nicht. Mit drastischen Kürzungen, Straffung der Handlung, Verlagerung der Erzählteile auf einen inneren Monolog Tims könnte ein 45'-Stück daraus werden... und lieber heute als morgen als jemand, der es allen gezeigt hat, in die Kriminalgeschichte einginge, wünscht sich Betätigung als Nachtwächter, Türmer, Vogelschutzwart auf einsamster Insel oder ähnliches. Angebote unter gnisnem@compuserve.de.

18:29

Akzeptierte auch Hofnarr oder Fahrer bei Millionär. 

22:23

Geht zum Teufel!

 

Mi 24.04.02    10:20 (24.04.1978 Pokhara)

Zimmer/Raum 28: Quadratisch im Grundriss. In der linken Ecke ein einfaches Klo. Rechts eine Liege. Daneben ein kleiner Tisch. Kein Fenster, stattdessen in gut vier Meter Höhe eine trübe Lichtquelle. Die Wände entnervend türkis abwaschbar. Eine Stahltür, die mit schwerem Schlüssel geöffnet werden kann. Zudem ist eine Klappe darin. Durch diese Klappe dürfen Sätze geworfen werden. Sätze wie: Wir sprachen über ein Stück und nicht über eine Serie. Wir sprachen über ein Hörspiel und nicht über eine getarnte Lesung. Ruft man zurück: mit drei Sätzen fange ich nicht an zu arbeiten, erhält man als Antwort: Ob Sie an die Arbeit gehen oder nicht ist Ihre Entscheidung. Und so sitzt man in diesem Raum. Man wird regelmäßig verpflegt. Man könnte gehen, wenn man wollte. Man hat sich das selbst ausgesucht. Man sitzt in diesem Raum und stößt Verwünschungen aus gegen die, die immer am längeren Hebel sitzen.  

14:51

Tauben gurren. Denkbar wäre ein prachtvoller...

16:19

Es gibt so viele Illustratoren, die darauf warten, ein Cover zu gestalten. Stattdessen: das da. Ich werde damit nicht glücklich, das weiß ich.

 

Do 25.04.02     9:32 (Kathmandu 25.04.1978)

flashback:  auf dem weg von pokhara nach kathmandu blieb der bus plötzlich stehen. alle westler redeten aufeinander und auf den busfahrer ein, rauchten nervöse zigaretten und verfluchten das land, während die einheimischen ausstiegen, sich an den wegrand setzten und zuschauten, wie die zeit verstrich und geduldig warteten, bis neues benzin herangeschafft war. - in kathmandu ging ich zur post und wühlte mich durch briefstapel, bis ich die beiden an mich adressierten trauerbriefe fand. c. und ich hatten vereinbart, dass sie mir geld in solchen umschlägen schickt, da diese mit einem gewissen respekt behandelt und nicht so leicht ihres inhalts beraubt werden. zwei trauerbriefe also mit den benötigten devisen für den heimweg. und noch mehr post von c. und noch mehr. ich bin glücklich. ich habe keine zweifel mehr an meiner rückkehr. die reise ist so gut wie vorüber. nach benares noch, nach agra, nach new dehli und von dort mit dem flugzeug über moskau zurück nach frankfurt. lese meine post wieder und wieder und gerate im yin und yang in einen joint, der so mächtig reinhaut, dass ich mich für stunden kaum bewegen kann. wahrscheinlich opium. 

16:45

Leben und Leiden des Schriftstellers M. (die ganze Geschichte)

Sie: ich habe Ihr Stück gelesen. So gefällt es mir nicht. Mit drastischen Kürzungen, Straffung der Handlung, Verlagerung der Erzählteile auf einen innenen Monolog Tims und könnte ein 45'-Stück daraus werden. 

Ich: ich merke wohl, sie sind ein schwerer brocken.
um die arbeit anzugehen, denke ich, müssten wir sprechen, oder? sagen sie
eine zeit und einen ort und ich komme hin.
mit drei sätzen fange ich nicht an zu arbeiten.

Sie: Ob Sie an die Arbeit gehen oder nicht ist Ihre Entscheidung. Wir sprachen über ein Stück und nicht über eine Serie. Wir sprachen über ein Hörspiel und nicht über eine getarnte Lesung. Ich bin gerne bereit, mich wieder mit dem Stück zu beschäftigen, wenn die Grundvoraussetzungen stimmen.

Ich: dass die grundvoraussetzungen stimmen müssen, finde ich auch und ich bin gern bereit, die sackgasse zu überdenken. sie werden mir aber zugestehen, dass ich mich nicht mit drei sätzen zufrieden gebe, die in variationen für jede mögliche arbeit anwendbar sind.
wie zum beispiel stellen sie sich vor, die erzähleranteile in innere monologe tims umarbeiten?
schließlich haben wir es mit einem erzähler zu tun, der alles weiß.
tim weiß nichts.
so einfach ginge das also nicht.
das stück auf eine länge von 45 minuten zu bringen, halte ich für nicht möglich. ich kann mir zwei folgen vorstellen.
vielleicht bin ich als autor des romans aber für so einen schnitt auch zu befangen. von all dem aber einmal abgesehen wäre es mir wichtig, mit ihnen ein paar sätze zu sprechen, um zu lösungen zu kommen.
dazu sollte zeit sein. ich hoffe, dass zeit ist, sonst wird aus dem projekt nichts.
ich wünsche was

Sie:
zur Zeit ist keine Zeit. Zwischen Ende Mai und Mitte Juni sieht es etwas besser aus. Über zwei Teile brauchen wir nicht reden, ich bleibe bei einem Teil. Ich bin im Übrigen nicht traurig, wenn aus dem Projekt nichts wird und wünsche ebenfalls was.

Ich: werde sehn, was ich tun kann.
aber sollte der trainer seine spieler nicht motivieren? ihnen zuraunen, wie sehr er auf sie baut, sich auf sie verlässt. stattdessen ein schnödes: im übrigen bin ich nicht traurig, wenn aus dem projekt nichts wird ... etc.
denke über suizid nach. sie sind schuld.
schönen tag

Sie:  so reagiere ich gerne, wenn es denn vorher so aus dem Walde schallt. Es ist nun mal so, dass hier eine Vielzahl von wirklich guten Stücken liegt, die teilweise mit wenig Aufwand, teilweise aber auch mit sehr davon verbunden sind. Bei wirklich guten Stücken bin ich eine der besten Trainerinnen und investiere gerne viel Zeit.
Sie haben ein gutes Buch geschrieben und ein schlechtes Hörspiel. Suizid ist eine Möglichkeit aber sicher nicht die Naheliegendste.
Schöne Grüße 

Ich:  n'abend..... gut, dann arbeite ich darauf hin. bis dahin 

20:29

Beispielsweise könnte man den Dom auf die andere Rheinseite verlegen, das verkürzte vielen den Weg und verhinderte, dass sich an der Domplatte ständig Menschen versammelten, um Gauklern und Skateboardern zuzuschauen. Man könnte aber auch den Rhein umleiten, schließlich ist das Land links um Köln flach, da reichten ein paar Bodenarbeiten, in zehn Jahren wäre das Schnee von gestern und dann hätte man Platz für eine vernünftige Autobahn, die mitten durchs Herz der Stadt führt. Ja, so etwas wäre machbar, wenn wir nur endlich diese Nörgler los würden, diese ewigen Verhinderer, Beharrer und Nichtskönner, die immer wieder neue Argumente auf den Tisch legen: Rettung der Krötenpopulation etc. pp. Wer bewegen will, muss bewegen und sich nicht fürchten. Und glauben Sie nicht, dass der Dom wirklich irgendjemand am Herzen liegt. Dieses grässliche, von Taubenschissen verunstaltete Gebäude einer Verbrecherorganisation, die mit Sitz in Rom ihre Geschäft weltweit treibt und unsere zu verhindern sucht. Das glauben Sie doch nicht wirklich, oder?

 

Fr 26.04.02    10:07  (Kathmandu 26.04.1978)

Horch! - Ist es Dada? 

12:54

Ein Regisseur, mit dem ich im letzten Jahr zusammengearbeitet habe, kriegt heute Nachmittag einen Preis. Die feierliche Überreichung findet im Erbdrostenhof statt. Werde mich in feinen Zwirn werfen, hingehen und untertänigstes Lächeln hierhin und dorthin senden. Werde die Grußworte auf mich wirken lassen und versuchen, beim anschließenden Empfang das Buffet zu räumen. 

23:33

Erst wenn alle gemein und niederträchtig über die Schwächen aller anderen herziehen, wenn alle wegen ihres Geschlechts, ihrer Abstammung, ihrer Rasse, ihrer Sprache, Heimat und Herkunft, ihres Glaubens, der religiösen und politischen Anschauungen und natürlich auch der körperlichen Gebrechen ausgelacht werden und keiner und keine ausgespart bleibt und wenn alle mitmachen - dann ist endlich Ruhe und Frieden. Und dann geht die Party erst los, dann wird nicht mehr gejammert und gejault, sondern gelebt und gestorben und gefeiert - da ist der Teufel los, und selbst die Götter schauen noch mal vorbei bei dieser Revolution, die keine revolutionären Beamten und Henker mehr braucht. (5)

 

Sa 27.04.02    10:09 (Kathmandu 27.04.1978)

Mr. Ferry: drei Dinge, die ein Mann braucht. - Ein Ziel, die Taschen voller Geld, und Vertrauen. Vor allem Vertrauen in sich selbst.

 

So 28.04.02    10:41 (Kathmandu 28.04.1978)

Sinnkrise hieße ja, vorher wäre Sinn gewesen, aber das glaube ich nicht.

12:47

Wahrscheinlicher ist, dass es sich bei der Angelegenheit um eine Spielart des Hochmuts gehandelt hat. Ich bin da sehr anfällig. Ich muss mich ständig hinterfragen. In diesem Fall ist das wohl unterblieben. In diesem Fall habe ich wohl geglaubt, das Kind sei in trockenen Tüchern. Falsch gedacht. Gehe zurück auf Anfang und beginne von vorn.  

13:05

Zimmer/Raum 29: Auch diesmal ein quadratischer Grundriss. Auch diesmal: kein Fenster. Die Farbe der Wände: durchscheinend blau, verwaschen. Zwei sich unter der Kuppel kreuzende Glasfiberstäbe halten die Konstruktion. Der Raum ist mobil. Bei einiger Übung benötigt man kaum mehr als fünfzehn Minuten, dann ist er errichtet und bezugsfertig. Innen und Außenwelt trennen nur die gewebten Wände. In einer ist ein Reißverschluss, der es ermöglicht, das Innere zu verlassen bzw. von Außen hinein zu gelangen. Ein häufig gehörtes Geräusch ist daher das Auf- und Ab solcher und ähnlicher Reißverschlüsse in ähnlichen Räumen der Nachbarschaft. Ich habe gern und oft in solchen Räumen übernachtet. Mir war die Nähe zur Außenwelt immer besonders lieb, wenngleich ich zugebe, dass es in stürmischen Nächten am Meer manches Mal unheimlich wurde. Ich denke an eine Nacht in Rotheneuf. Auf steinigem Grund über einer Bucht mit Blick auf St. Malo drückte der Wind die Kuppel wieder und wieder über die halbe Höhe nach unten, um ihr dann Gelegenheit zu geben, mit einem explosionsartigen Knall in ihre ursprüngliche Form zurückzukehren. In solchen Nächten ist Schlaf kaum möglich. In solchen Nächten wünscht man sich in Räume mit festen Wänden. Aber solche Nächte sind Ausnahmen. Sie gehen vorbei und mit einigem Glück spannt sich am Morgen ein freier Himmel über die Welt und versöhnt uns. Uns schmerzt das Kreuz, der schwedische Sturmkocher bereitet Wasser für Kaffee, man hockt da wie ein Indianer und lebt. Das ist schön.  

14:32

Der Rest des Sonntags vergeht mit Blütenregen und langer Weile, die immer zu etwas führt, wenn man bereit ist, sie zu ertragen. 

 

Mo 29.04.02    9:10 (Kathmandu 29.04.1978)

Auch möglich, dass sie zu nichts führt. 

14:31

Das muss man ertragen. 

15:11

Schließlich weiß man jetzt mehr. 

16:52

Wer noch mehr wissen will, betritt diese Zimmer.

 

Di 30.04.02    9:14  ( Kathmandu 30.04.1978)

Und dann sitzt man da und betrachtet die Blasen im Urschlamm. Konzentrieren muss man sich nicht dabei. Reagieren muss man auch nicht. Man braucht sich an nichts zu erinnern. Seinen Verstand vermisst man nicht, weil man ihn gar nicht benötigt. Herz, Leber und Lunge funktionieren weiterhin normal. Davon abgesehen ist alles friedlich und still. Man befindet sich im Nirwana des kleinen Mannes. Und wenn ein garstiger Mensch daherkommt und sagt, man sähe aus wie eine Fliege am Müllkübel, dann beachtet man ihn einfach gar nicht. (6)

19:43

Werden uns in den Mai trinken. Schätzen, dass unser Verstand nach etwa einem halben Liter Malt-Whiskey zu schmerzen aufhört. Nach einem weiteren halben werden wir schottischen Hochlandforellen beim fröhlichen Treiben zuschauen. Nebenher werden wir eine Tüte einpfeifen, wie sie die Welt seit Fanny Fahndrichs Tüte Anno 69, die aus vier Paketen Drum und zwanzig Paketen Zigarettenpapier bestand, nicht mehr gesehen hat. Danach wird man uns auf eine Intensivstation verbringen und pflegen. Wie wir uns schon freuen. Wie wir uns sehnen in dieser Welt der hemmungslosen Menschenliebe. Heil Sharon! Heil! (Heile Gänschen) 

21:33 

21:34 

21:35 

21:36

22:35

ich habe abitur // und habe studium // doch mein herz bleibt dumm// (7) ______________________________________________________________

1. Haruki Murakami "Tanz mit dem Schafsmann"  Du Mont, Köln 2002 // 2. Joachim Witt  "Märchenblau" WEA 1985 // 3. Karin Alvtegen "Schuld" Rowohlt 2001 // 4. Friedrich Christian Delius "Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus" Rowohlt 1995 // 5. Mathia Beltz (1945-2002) // 6. Raymond Chandler // 7. Erdmöbel CD "das Ende der Diät"  //

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