September 2004                                   www.hermann-mensing.de                                   

mensing literatur

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Mi 1.09.04   10:56

Den Einstieg in den September hatte ich mir so vorgestellt. Ich würde Ihnen voller Freude berichten, dass die Katze, von der ich letztlich sprach, noch immer bei uns ist. Dass sie ein sehr zurückhaltendes Wesen hat, tagsüber gern auf dem Tigersessel im Zimmer unseres ältesten Sohnes liegt und schläft, dass sie ihre großen und kleinen Geschäfte außerhalb erledigt, dass sie über Nacht herumstreift, morgens aber auf einem Stuhl auf unserem Balkon auf uns wartet, dass ich mich bemühe, ihren Spieltrieb wieder zu wecken, wenngleich sie den Eindruck macht, als habe sie in ihrem anderen Leben mit noch älteren Menschen als wir es sind zusammen gelebt, dass sie sprechen kann und sehr hübsch ist.
All das hätte ich Ihnen gern berichtet, aber nun wird diese Freude überschattet von der Erkenntnis, dass Meister M. trotz 55jähriger Existenz nur dann für Augenblicke glücklich ist, wenn er Geld verdient. 55 Jahre intensiver Erprobung haben es nicht fertig gebracht, ihn mit seiner Existenz an sich zu versöhnen. Seine Selbstachtung steigt und fällt dem Haben- bzw. Soll-Saldo auf seinem Konto. Ist das nicht schade? Ist Meister M. nicht manns genug, nur zu SEIN? Offensichtlich nicht. Offensichtlich hat die Verwertungsdoktrin des Kaptialismus wüste Schäden hinterlassen. Sie untergräbt jeden Versuch, dem Leben andere Prioritäten zu setzen. Tief in ihm wühlt und wirft sie Gräben auf, die zwangsläufig zu Herzinfarkten und anderen Krankheiten führen müssen. Früher oder später. Nun soll niemand glauben, Meister M. fürchte den Tod, nein, ganz gewiss nicht, es ist nur so traurig. Diese Welt ist so unendlich traurig. Dabei ist sie so schön.

PS. Die Katze ist tatsächlich bei uns geblieben. Und heute kam Geld. Mehr, als ich erwartet hatte.

17:35

Unterwegs von A nach B

 

Do 2.09.04   10:10

Tagesbefehl:

Kille den Hermann, den, der immer und ungefragt raunt: Hermann, du bist ein schlechter Hermann, alle anderen Hermänner sind besser als du. Spalte ihm den Schädel, säg ihn bis in den Schritt, sodass du zwei Hälften erhältst, löffle die Seiten aus, bis sie hohl sind und setze sie wieder zusammen.
Jetzt sollst du mal hören, ob er noch tönt. Ob er immer noch ungefragt raunt. Ich glaube nicht.
Was für ein herrlicher Tag! ruft er plötzlich. Setz dich auf's Rad und fahr hinaus in die Welt.

20 Kilometer später:

Einer raucht HB, ein anderer Pall Mall, eine in meinem Alter hat Strähnchen und mit dunklem Stift nachgezeichnete Augenbrauen, da sie die tatsächlichen wegrasiert hat, der HB Raucher ist ganz in Schwarz, von Hut bis zu den Slippern, er trägt ein rot-weiß gestreiftes Hemd, hat einen grauen Schnäuzer und sein Feuerzeug hängt an einer breiten goldenen Kette um seinen Hals. Es ist laut und sonnig, die mit den Strähnchen hat einen jugoslawischen Mann und den Kragen ihrer rosa Jeansjacke hochgeschlagen. Eine tamilische Familie geht vorüber, ein Kind trägt einen türkisfarbenen Tele-Tubbi, eine in schwarzes Tuch gehüllte Muslimin geht Einkaufen. Ihre Augen sind frei, der Rest ist verhüllt. Vor ihr zwei Britney Spears Klone, die Venushügel fast frei. Ein Mann in einem klassisch grünen Jaguar hält vor einer Ampel und schaut auf ein Plakat, auf dem steht: Arbeit muss sich lohnen. Für alle. PDS.
Ist Arbeit verkaufte Lebenszeit? Kann man Lebenszeit bezahlen?
Die Kirchturmglocken schlagen Mittag.
Auch ich verkaufe Lebenszeit.
Allerdings auf nicht ungeschickte Art und mit dem Privileg größtmöglicher Verfügungsgewalt. Der Preis für derartigen Luxus ist eine mickrige Rente, aber wer weiß denn, was morgen ist?
Eine junge Frau führt einen weiteren Lebensentwurf vor. Auch sie wie die Muslimin in Schwarz, allerdings ist es bei ihr die Farbe der Finsternis, sie ist ein Gruftie, ganz bleich. Die, die ich kennengelernt habe, waren lieb. Sehr lieb sogar. Diese trägt ein Stachelhalsband und ich nehme an, es bedarf einiger Überredungskunst, ihr das vom Hals zu lösen, will man sie küssen.
Wespen kreuzen nervös um meinen Eisbecher.
Der Mann, der HB raucht, redet auf eine ledrige Vielraucherin ein, süchtig nach Malboro. Ihre Beiträge zu seinen Ergüssen lauten "ja, ja", "nööö, nä", "ja, ja." Die Blonde mit Strähnchen ist fort, der Jugoslawe scheint jetzt, da ich ihn im Profil sehen kann, eher ein Grieche. Bei ihm noch eine Frau meines Alters: rostrotes Haar und Tigerbluse. Die Post liefert dem Zeitgeist neue Ware. Die Blonde mit Strähnchen ist zurück, stark geschminkt, auch die Wangen leicht rosa, das Kinn spitz und der Mund schon als Kontrapunkt ihres Afters erkennbar, in den sie sofort eine Zigarette steckt.
Herr M. hat Kaffee getrunken, hat ein Eis gegessen, und ist nun gespannt, ob sein Rücken wieder so schmerzt wie vor einer halben Stunde, als er aufstand, um sein Jacket zu holen, das er auf den Gepäckträger seines an einen Baum vor der Eisdiele gelehntes Gazelle Damenrad geklemmt hatte.

30 Kilometer später:

Sie läuft aufrecht, fast als achte sie peinlich darauf, nicht die Schultern hängen zu lassen, stolz vielleicht, trotzig stolz, denn Gesicht und Hals sind voller Pickel: senfgelbe Gewächse, die den einen mehr und den anderen weniger plagen. Vielleicht hilft Stolz, vielleicht ist Stolz die einzige Antwort.
M. ist im Zentrum jetzt, im Beamtenarsch.
Vater unser, unseren Beamtenarsch halte frisch, wie wir reinigen unsere Rosette, in Ewigkeit, Amen.
Man zeigt sich gemäßigter hier als zehn Kilometer weiter östlich.
Verkaufte Lebenszeit findet sich hier gern an Schreibtischen wieder.
Fließendes Hin und Her in der Fußgängerzone.
Mittendrin und sehr fremd: zwei grobschlächtige junge Männer mit Bierflaschen in den Händen und enttäuschten russischen Gesichtern. Dazu spielt eine Roma Kapelle (zwei Gitarren, Akkordeon). Ein Tambourinspieler ist auch noch dabei, ein fehl am Platz dreinschauender Dicker, der schließlich herum geht und um eine Spende bittet. Es gibt hier und da Geld, aber noch mehr schräge Blicke.
Dem Herrn sei Dank, dass er mich nicht als Roma oder Sinti hat auf die Welt kommen lassen, womöglich auch noch als Jugoslawien-Flüchtling. Hass und Verachtung großer Teile der Bevölkerung wären mir sicher.

40 Kilometer später: ab ins Netz.

 

Fr 3.09.04   9:21

Meine Rede soll sein: optimistisch, zukunftsorientiert und visionär, also praktisch wie die 40-minütige Rede des großartigen Präsidenten des großartigsten Landes überhaupt, dass da heißt, äh - na, komm jetzt nicht drauf.

14:29

Ich wünsche all meinen Lesern ein friedvolles Wochenende.
Sollten Sie sich langweilen, fahren Sie doch ein wenig nach Israel, Russland, Afrika, Asien, Nordirland, Südamerika oder in andere friedliche Länder. Und verklagen Sie anschließend Ihren Reiseveranstalter. Das ist klug und macht Spaß.

 

Sa 4.09.04 16:05

(...) "und eine feindliche Zeit will nicht vergehen, sie weigert sich, zu vergehen, je fieser und feindlicher sie ist, um so mehr kriecht sie und schleppt sich, als wolle sie sich ins Schlimme verbeißen", sagte Paul, und in Großvaters Schwalbenschwanzuhr erklang ein Glasglockenschlag, "eine freundliche Zeit fließt und fliegt, und eine feindliche Zeit stockt und bockt, ich weiß nicht, warum", sagte Paul. (1)

 

Mi 8.09.04  12:18

Verehrte Freunde des gepflegten Wahns,

als ich vor drei Tagen versuchte, die Fotos eines Nachbarschafts-Kaffetrinkens (das wir als Ersatz für unser jährliches Grillen, das in diesem Jahr durch verschiedenste, teil dramatische Ereignisse plus schlechten Wetters verursacht, ausfallen musste) auf meine Festplatte zu laden, gab diese erst seltsame Geräusche von sich, und verweigerte danach jeden Zugang.
In der Hoffnung, mein mit Computern professioneller arbeitender Sohn Jan könne mir helfen, besuchte ich diesen am Folgetag. Das Ergebnis aller Anstrengungen gipfelte in der insgeheim längst befürchteten Diagnose, die Festplatte habe sich verabschiedet.
Waren die dort gespeicherten Daten noch zu retten?
War ich noch zu retten?
Ich fuhr zum LapStore, wo ich meinen Rechner vor Jahren gekauf hatte. Dort winkte man ab. Über meine Rettung könne man nichts sagen, was aber die Datenrettung betreffe - nun, man selbst könne eine so hochkomplizierte Aktion nicht durchführen, es gäbe zwar bundesweit einige Anbieter, die so etwas könnten, die Kosten dafür seien aber immens.
Aha, sagte ich. Scheiße.
Und begann nachzudenken: alle Manuskript-Dokumente (bis auf die letzten Hörspiele vielleicht, die aber als ausgedruckte Texte vorliegen) könnte ich von meinem Verlag bekommen.
Alle Netz-Texte lagern glücklicherweise auf einem mir nicht näher bekannten Server, auf den ich dennoch Zugriff habe.
Wirklich verloren sind all meine E-Mail Adressen.
Deshalb hier die Aufforderung:
Jeder, mit dem ich je kommuniziert habe, möge mir seine E-Mail Adresse zusenden.

Im Übrigen werde ich mich nach den nervenaufreibenden letzten 48 Stunden eine Weile still verhalten und gar nichts tun. Ich finde, ich habe das verdient. Ich finde, man müsste mir (wie es seit etwa über eine Woche jeder meiner Familie mit unserer Katze tut) eine Weile hinter den Ohren kraulen, mir den Bauch usw. pinseln, damit sich mein labiler Kreislauf stabilisiert, ich fürchte aber, derartiger Service ist nur gegen BARES in einschlägen Etablissements zu bekommen, die ich jedoch nie besuche.
Vielleicht sollte ich diese Vorbehalte bedenken, aber das ist eine andere Geschichte.
Diese Geschichte endet mit der ersten Zeile eines Liedes der canadische Band MAX WEBSTER (die Ende der Siebziger zu meinen Favoriten zählte und die ich noch heute gern höre): The headaches are all gone, and it is morning in this song.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Do 9.09.04   11:43

großer vater bill gates, der du in seattle haust, dein digitales reich komme, dein wille geschehe, wenn nicht heute, so vielleicht morgen. hast du nicht aller welt versprochen, sie anzuleinen an deine nullen und einsen, auf dass alles einfacher werde und schnell und problemlos? - stattdessen verwirrst du uns, spinnst uns ein in dein netz dir geldbringender monopole und vertreibst produkte, die uns zum deppen deiner gnade machen. lässt meine festplatte abschmieren, bescherst mir böse träume und herzklabastern, hast hektik verbreitet und die stimmung im haus auf den nullpunkt getrieben. verdammt seist du, bill gates, verdammt bis ins letzte glied!!! soll es verdorren im digitalen dschungel! hoch leben die hammer, die sägen, die meißel, mit denen wir dein imperium zertrümmern. 

12:17

So sieht sie aus, die Dame. Jeder liebt sie. Sie tut uns gut.

 

Fr 10.09.04   20:09

INRI

Nicht nur, dass ich mit neuem Betriebssystem fahre, nein, ich habe auch einen Gedichtband zusammengestellt. Er heißt: Gedichte für moralisch gefestigte Leser. Meine Stammleser ahnen vielleicht, wohin die Reise geht. Richtig. Es handelt sich um zweiundsechzig Gedichte (alle sind auf dieser Webseite zu finden), sortiert nach folgenden Themen: Ausländisches, Animalisches, Dichterisches, Geriatrisches, Fäkales, Brutales, Erotisches und Weises. Alle Gedichte sind in den letzten vier Jahren entstanden sind, ausgesucht habe ich sie, lektoriert und sortiert hat Malte Bremer, verkaufen muss ich sie. Und das will ich. Und (vorsichtige Prognose) das werde ich. Schönen Abend allerseits.

 

So 12.09.04    14:58

Gestern fuhr ich ins Weserbergland. Es war eine ruhige Reise bei schönem Wetter. Den Teutoburger Wald überwindend, das Wiehengebirge durchfahrend, die Weser überquerend, kurz vor Hannover dann ab von der Autobahn und über zwei Dörfer in ein idyllisches Nest.
Eine wunderschöne Kirche stand dort, eine kompakte kleine Sandsteinkirche mit quadratischem Turm, daneben ein Pfarrhaus und neben dem Pfarrhaus ein so prächtiger Birnbaum, dass man hätte glauben können, hier müsse der Herr von Ribbek zu Ribbek leben.
Lebte er aber nicht. Hier lebte ein Pastor mit seiner Frau. Und deren Tochter heiratete.
Ich war als Gast hier und als Musiker, denn der Bräutigam hatte die Working Worms, die Band, mit der ich sporadisch Musik mache, zu seiner Feier geladen.
Die Türen des Pfarrhauses stand weit offen. Darin Verwandte und Freunde. Große und kleine Kinder. Ein Tisch mit Geschenken. Ein wenig unaufgeräumt war es überall. Kreatives Chaos würde man das vielleicht nennen. An den Wänden hingen Ölbilder. Sehr groß, sehr farbig und gegenstandslos. Zeitvertreib.
Ich trank Kaffee und aß leckeren Butterkuchen.
Gleich würde der Brautvater seine Tochter trauen. Ein mittelgroßer Mann mit ordentlichem Bauch und grauer Stoppelfrisur, um den Hals ein kleines schwarzes Holzkreuz.
Die Brautmutter groß, freundlich forsch und für alles verantwortlich.
Bräutigam und Braut kommen, die Gäste wandern vom Pfarrhaus hinüber in die Kirche, der Pfarrer lässt Lieder singen und hält eine kurze, launige Predigt, während die anwesenden Kinder den Mittelgang als Rennsteig nutzen.
Nach der Trauung fuhren die Gäste ins Bürgerhaus eines benachbarten Dorfes.
Dort sollte gefeiert werden.
Als ich meinen Wagen auf dem Parkplatz abstellte, fiel mir ein kleiner, schwarzhaariger Junge auf, der mit einer Spielzeugpistole auf mich zielte. Dimitri, wie sich später herausstellen sollte.
Das Fest beginnt. Die Gäste sind bunt gemischt. Junge und Alte, wenngleich Junge überwiegen. Ein Büffet ist aufgebaut, auf einem Grill vorm Haus hat ein Koch eine große Gemüsepfanne vorbe
reitet, man isst, die Jugendlichen zapfen Bier und servieren, wir spielen zum Essen und beobachten still.
Als das Essen vorbei war, es ging auf halb zehn, saß ich draußen. Drinnen war Rauchverbot, draußen standen also ständig Menschen, tranken, rauchten und redeten. Zwischen ihnen spielten Kinder. Und Dimitri. Der hatte seine Kreise immer enger gezogen, und spielte jetzt mit. Niemanden störte das.
Dann aber tauchte der Pastor auf. Ging auf Dimitri zu, griff ihn fest am linken Oberarm, Dimitri wehrte sich, aber der Pastor zerrte den Jungen fort. Ich hörte, dass der Pastor sagte, wer er denn überhaupt sei und dass er hier nichts zu suchen habe.
Von diesem Augenblick an war ich bereit zu glauben, dass vieles von dem, was ich gesehen hatte, Fassade war. Ähnlich wie die Bilder im Pfarrhaus.
Ich blieb folglich auch nicht, wie eigentlich verabredet, über Nacht dort, sondern fuhr mit dem Gitarristen der Band zurück nach Hause.

 

Mo 13.09.04  10:17

Beängstigend, was alles nicht gesagt werden kann. Es sei denn, ich wäre bereit, verachtet und in totaler Einsamkeit zu sterben. Das Leben zwingt mich, Komplize zu sein. Ich stecke mit allen unter einer Decke, ob ich will oder nicht. Heissa hoppsasa Pippi, im nächsten Leben ziehe ich in deine Villa...

 

Di 14.09 .04  11:45

Der Gläubige hat den Vorteil der Gewissheit. Er glaubt, dass da jemand war, der für ihn sein Leben gegeben hat. Er glaubt, dass dieser Jemand Gottes Sohn war. Zwar wird auch er nicht ohne Zweifel durchs Leben gehen, aber immer münden diese Phasen des Zweifels wieder da, wo sie ihren Ausgang genommen haben: im Glauben. Beneidenswert, oder?
Ich wünschte, ich könnte auch glauben.
Ich wünschte, ich hätte diesen sicheren Hafen, der mich behütet vor dem Irrsinn der Welt.
Wie ich drauf komme? -
Nun, ich hatte gerade Besuch von einem kongolesischen Priester.
Abbé Matthieu. Als Priester im Kongo geweiht, promoviert in Leuven, Belgien.
Zwischen 1993 und 1996 war er als Vikar in Billerbeck tätig. Er hat noch Freunde dort, die er einmal im Jahr besucht, und durch diese ist er an mich gekommen.
Sie hatten ihm von meinem Hörspiel erzählt. Nun
wollte er wissen, wie das war mit dem Sklaven Johann Junkerdink, der Anfang des 18. Jahrhunderts in Roxel als ehemaliger schwarzer Sklave Organist wurde, die Tochter des Küsters heiratete und mit ihr vier Kinder bekam.
Ich erzählte ihm davon, schenkte ihm das Manuskript "Mein Prinz" und das Hörspiel.

Er erzählte mir diese Geschichte: vor Jahren lebte ein amerikanisches Paar im Kongo. Sie war Ärztin, er ein protestantischer Priester. Die beiden bekamen ein Kind. Das Kind war schwarz. Der Mann war empört, weil er glaubte, seine Frau habe ein Verhältnis mit einem Einheimischen gehabt und schickte sie nach Hause. Die Frau aber beteuerte, nichts dergleichen sei geschehen. Bei Untersuchungen stellte sich schließlich heraus, dass unter den Vorfahren des Mannes Schwarze gewesen sein müssen. Entsprechende Gene ließen sich nachweisen.
Ich dachte sofort, dass Gene des Johann Junkerdink (in den Kirchenbüchern finden sich zwar Hinweise auf die Geburt seiner Kinder, nicht aber über evtl. Verbleib, Eheschließungen oder Tod) bestimmt noch in westfälischen Familien schlummern, und dass es interessant wäre, wenn sie sich einmal bemerkbar machten.

Auf meine Frage, wie er mit dem Widerspruch lebe, Priester eines Glaubens zu sein, den die Kolonialherren ins Land gebracht haben, sagte er, dass die Menschen seines Bistums den Glauben an einen weißen Gott nicht als fremd erlebten. Zudem habe das Christentum (ähnlich wie das durch die römischen Kolonialisten zu uns gebrachte Christentum) sich in Afrika kulturell angepasst. Christliche Riten dort seien durchsetzt mit afrikanischen Traditionen.
Ich hätte noch gern mehr gefragt, aber der Abbé musste weiter. Ein sehr freundlicher Mittdreißiger mit lautem, fröhlichen Lachen. Und eben dieser Gewissheit der Gläubigen. Ich mochte ihn.

13:29

In diesem Zusammenhang fällt mir eine Busreise ein. Es war in Kolumbien. Es war tiefe Nacht, wir kamen vom Berg hinab in ein Tal und durchquerten eine schlafende Stadt. Auf einem Platz im Zentrum stand ein großes Holzkreuz. Der gekreuzigte Jesus war schwarz.

14:39

Nach wie vor sterben Menschen wie Fliegen. Schuldig oder nicht scheint egal. Hauptsache, Blut fließt. Nach wie vor aber steht die Frage nach den Ursachen für diesen blutigen Terror nicht zur Diskussion. Wer danach fragt, macht sich verdächtig. Kaum, dass einmal zu hören war, dass Tschetschenien seit 400 Jahren um seine Unabhängigkeit kämpft. Dass die russischen Kaukasus-Republiken geraubtes Land sind. Dass es keine Rechtstitel gibt, der Juden Israel verspricht. Dass die USA einen Kontinent entvölkert haben. Dass die europäischen Kolonialmächte weltweit verheerende Schäden angerichtet haben, deren Behebung noch nicht eingefordert wurde, aber mit Sicherheit eingefordert werden wird.
Nicht eine Entschuldigung seitdem. Nur Verurteilungen des Terrors. Immer wollen die anderen uns etwas. Sind böse. Entmenscht. Nie wird nach eigener Schuld gefragt.
Das wird sich rächen. In noch weit größerem Maß wie es sich schon jetzt rächt.
Ich hoffe nur, dass man langsam zu begreifen beginnt. Denn es ist ja nicht so, dass es keine Stimmen gäbe, die auf unsere Versäumnisse hinwiesen. Es ist nur so, dass das den Herrschenden nicht in den Kram passt.

 

Mi 15.09.04  18:38

Natürlich ist nachzutragen, dass auch das heilige Teutschland zu oben genannten Verbrechern zählt, dennoch gibt es einen kleinen, aber gewichtigen Unterschied. Als Teutschland im vergangenen Jahrhundert seine Verbrechen beging, hoffte es, diese als Gewinner zu begehen.
Da allerdings war es schief gewickelt. Es beendete sie als Verlierer.
Und wie Sie wissen (oder wissen sollten), werden Verlierer sofort zur Kasse gebeten.
Falls es also so etwas gäbe wie eine getilgte Schuld (was es nicht gibt, höchstens, dass einem vergeben wird), hätte Teutschland gezahlt. Die anderen aber haben das nicht getan, denn sie waren (und sind) Sieger. Und wie Sie wissen, müssen Sieger sich für gar nichts entschuldigen. Sieger sind per Definition entschuldigt.
Schade, dass Herr M. nie zu den Siegern zählte.
Er hätte sich so gern auch einmal unschuldig gefühlt. Hach, wär' das schön gewesen.

But now to something completeley different.
Ich habe heute in Essen gelesen.
In zwei Bibliotheken. Davon erfahren Sie morgen mehr.

Heute nur noch ein weiteres Highlight meiner gesammelten Absagen.
Diesmal von einem sehr (sehr sehr sehr) renommierten Verlag.
Sie lautet:

Sehr geehrter Herr Mensing,
vielen Dank für Ihre heutige E-Mail; Sie haben natürlich völlig recht, nun einmal an Ihr Manuskript zu erinnern, und ich bitte um Nachsicht, dass Sie dazu erst heute von mir hören.

Ihr Kinderroman "Tillie, Geige und die Birkenbande" ist ohne Zweifel spannend, und wir haben sehr gern darin gelesen. Wir haben uns jedoch entschlossen, in unserer Reihe ... für das Lesealter zwischen 8 und 12 in der nächsten Zeit bei Themen aus anderen Ländern zu bleiben und diese Reihe thematisch nicht auszuweiten. Wir sind immer wieder in Versuchung, das zu tun, wenn uns gute Manuskripte auf den Tisch kommen, sehen aber im Moment keine Möglichkeit dazu.


Mit der Bitte um Verständnis für diese Absage und freundlichen Grüßen ...

(Heißa hoppsasa Pippi, das treibt mir Freudentränen in die Augen.

 

Do 16.09.04  11:55

Jedda stand mit den anderen vor mir am Tisch, während ich Autogramme schrieb. Jedda war groß und kräftig, eine hübsche junge türkische Frau. Jedda sagte, ich solle "für Jedda" auf die Autogrammkarte schreiben. Ich antwortete, "wenn ich das für dich mache, muss ich's auch für alle anderen machen und dann dauerte es ewig, bis ich siebzig Autogramme geschrieben habe. Also lass ich's. "Für Jedda schreibst du drauf", beharrte sie. Ich schüttelte nur lachend den Kopf und schrieb weiter. Jedda blieb neben mir stehen, bis der letzte Schüler gegangen war. "Für Jedda", sagte sie. Ich schrieb ein Autogramm und gab es ihr. "Für Jedda", sagte sie noch einmal. Ich schüttelte den Kopf. "Dann will ich keins", sagte sie und ging.

Ich hatte drei Taxifahrer gestern.
Dem ersten, ein Mann um die sechzig, dem zwei Finger der linken Hand bis zum ersten Glied fehlten, musste ich die Karte lesen. Er wusste zwar, wo Schonnebeck ist, die Straße aber kannte er nicht, jedenfalls nicht ihre Lage.
Der zweite, ein Mann zwischen dreißig und vierzig, ein Türke, sprach mit mir über sein Satelliten-Navigationsprogramm und darüber, dass er diesen Tag nie vergessen werde, es sei nämlich sein Hochzeitstag.
Der dritte schließlich, auch ein Mann um die sechzig, sagte, sein Navigationsprogramm schalte er nur ein, wenn er Essen verließe, in der Stadt kenne er sich aus. Nach vielleicht fünf Minuten Fahrt schoß er den ersten dummen Witz auf mich ab. Ich lachte. Das war ein Fehler, denn auf den verbleibenden Kilometern bis zum Hauptbahnhof hörte er nicht mehr auf, Witze zu erzählen.

Usha, ein junger Mann mit tamilischen Wurzeln, hatte sehr schöne Schuhe. Sie waren mir sofort ins Auge gefallen und Usha hatte das auch bemerkt. "Geile Schuhe, nicht?" sagte er und ich bejahte. Ich fragte, was er dafür bezahlt habe. Er antwortet stolz: "110".

Usha gehörte zu den Schülern der zweiten Gruppe, denen ich gestern aus Abends am Meer vorlas. Das Seltsamste dieser Lesung war, dass die Schüler erst gegen Ende der Lesung begriffen, dass ich nicht nur der Vorleser- sondern auch der Urheber der Geschichte war. Ganz offensichtlich hatten sie nicht gewusst, was ein Schriftsteller ist, denn wenn sie's gewusst hätten, wären sie nicht so erstaunt gewesen, als sie es erfuhren. "Haben Sie das selbst geschrieben???", fragten sie. "Ja, was dachtet ihr." "Wow, geil!"

Keine einfachen Lesungen waren das, aber da ich auf Zeichen achte und mich daran gewöhnt habe, dass schon eine sinnvolle Frage ein Erfolg ist, waren es erfolgreiche Lesungen. Vielleicht war die für die zweite Gruppe in Essen Altendorf sogar die erfolgreichere, denn die Jugendlichen dort waren so unbeleckt, hatten so wenig Erfahrung mit Literatur, oder besser, mit Lesen, dass ich aus dem Staunen nicht herauskam.
Ich hoffe, dass sie Kontakt mit mir aufnehmen. Ich hoffe, dass die beiden Lehrerinnen ein wenig nachhaken. Das wäre schön. Versprochen haben sie es. Aber geredet wird viel.

Auf jeden Fall weiß ich nach dieser langen Sommerpause jetzt wieder, dass das, was ich tue, nicht verkehrt ist. Ob es damit auch richtig wird, ist eine andere Frage.

 

Fr 17.09.04   20:27

Ein wunderschöner Tag war das. Wusch Wäsche, hängte sie auf, als die Wiese hinterm Haus noch feucht war, checkte Verlagsadressen, telefonierte mit Diogenes, die sehr freundlich waren, trank Kaffee auf dem Balkon, brannte mit dem CD-Brenner, den ich mir habe einbauen lassen, seit vorletzte Woche meine Festplatte abschmierte, zwei CD's mit Lieblingsliedern, aß mittags eine Schale in Vanille-Wein-Sauce gekochte Dülmener Rose mit flüssiger Sahne, machte Max etwas zu essen, als er von der Arbeit kam, ging mit C. auf den Markt, schickte ein Manuskript nach Zürich, lass in der Spätnachmittagssonne auf dem Balkon ein wenig Zeitung, C. kam mit tütenweise Fotos aus vergessenen Ecken, ich schaute mir welche vom 80jährigen Geburtstag meines Vaters an, ich weinte vor Trauer und Glück, wir aßen gemeinsam, ich fuhr mit der Fiets eine Runde durch Wiesen und Felder den Baumbergen entgegen, hinter denen die Sonne unterging, die Alleebäume hingen voller Birnen und Äpfel, die niemand pflückt, ich überlegte, einen Strauß leuchtend gelber Löwenmäulchen zu pflücken, ließ es aber, da sie draußen viel schöner sind, kehrte heim, erfuhr, dass meine Lesungen im Freiherr vom Stein Gymnasium am 8.10. gefördert werden, dann schellte das Telefon, und Maria, die Abbé Mathieu, den kongolesischen Pastor, begleitet hatte, war voller Begeisterung über das Mohren-Hörspiel. Abbé Matthieu, sagte sie, sei nach Brüssel gefahren und habe die ganze über Zeit den Swatten Jehann gehört. Jetzt wird es Nacht und ich bete für die Welt, denn sie kann es gebrauchen.

 

So 19.09.04  11:12

Poes (Puus) ist noch immer bei uns. Wenn es stimmt, dass Katzen weder Herrchen noch Frauchen benötigen, sondern Personal, sind wir ihr Personal. Mit knappen, eindeutigen Signalen sagt sie, was sie wünscht. Wir folgen ihr. Allerdings sind wir klug und tun nur das Nötigste, denn das stellt sicher, dass sie uns gewogen bleibt. Zudem war Poes viel zu dick, als sie vor drei Wochen zu uns kam. Jetzt ist sie schon schlanker.

18:08

Ich saß am kleinen See im Südpark, der eher ein Planschbecken ist, eine Hand breit tief mit weit geschwungenen Kurven und flachem Ufer zum Rasen. Ich saß mit Blick auf die Hinterseite der Bühne und schaute zu, wie zwölf Mädchen im späten Kindergartenalter sich mühten, ihre Bewegungen zur Musik zu koordinieren. Bei einem Positionswechsel fiel eines der Mädchen hin und die anderen lachten.

Die nächsten Tänzerinnen waren Teenager. Diesmal saß ich vor der Bühne und sah, dass sie versuchten, so sexy zu zucken wie ihre Idole auf MTV. Dass das an einem windigen Nachmittag nur schwer- wenn überhaupt unmöglich ist, schien sie nicht zu beeindrucken.

Zum Schluß tanzten Breakdancer. Fünf junge Männer zwischen 16 und 20. Ich fand, dass sie ihre Sache gut machten, fürchtete aber die ganze Zeit um ihre Bandscheiben.

Jetzt war ich an der Reihe. In der rechten Hand das Manuskript, in der linken das Mikro, vor mir Kinder zwischen 3 und 13 Jahren. Ich las "Die weggezauberten Eltern". Nach Beenden einer Seite legte ich sie vor mich auf den Boden und stellte meinen Fuß darauf, damit sie nicht weg wehte. Nach 12 Seiten und gut 20 Minuten, ohne dass ein Blatt Papier fortgeweht wäre, war ich fertig.

Nach Lesungen fühle ich mich oft beängstigend leer. Zum Glück hält dieser Zustand nie lange. In Essen brauchte es eine Currywurst, um ihn zu vertreiben, nach der Südpark-Lesung ein Bitter Lemon und eine Ziegenkäse-Creme-Torte mit Krokant plus Espresso. Danach war mir ein bisschen schlecht, aber die Leere war fort. Irgendwann wird es nur einen letzten Atemzug brauchen, um sie endgültig zu besiegen.

 

Mo 20.09.04 16:02

dämliches aus dem hause men-sing:

schnabeltritt die gurkenmeise
fand, es fordere beweise
mittels derer man ihr nachweist
dass sie immer auf mein dach scheißt.

worauf ich die dna
importiert aus usa
an der meise ausprobierte
was ihr heftig imponierte.

so ist unvermittelt schluss
mit dem, was man wissen muss
wünscht man jedoch mehr davon
klickt man hierhin, weiß man schon....

 

Di 21.09.04  9:32

Führe heute gern zum Meer. Sähe gegen die Schaumkronen der Wellen. Liefe gegen steifen Wind. Tränke irgendwo was. Säße dann da und dort länger. Hätte kein Unglück nicht mitgebracht. Hätte genügend von allem anderen. Müsste nichts müssen. Tätärätäää.

12:33

Die Show hieß That will be the day, eine Revue großer Hits der 50er,60er und 70er, eine Produktion eines Londoner Westend-Theaters, dort angeblich seit 17 Jahren ein Hit, gestern auf der Bühne des wunderschönen, vielleicht schönsten ehemaligen Kino-Saales in Münster, dem Roland-Theater, das seit ein paar Jahren ein Varieté beherbergt, das Frosch Theater. Und wir hatten Karten. VIP-Karten.
Nun muss man wissen, dass ich für Retro-Veranstaltungen wenig übrig habe, meine Grundstimmung war daher eher verhalten bis skeptisch. Ich mag auch nicht gern mitklatschen müssen, vor allem, wenn alle auf 1 und 3 klatschen, statt auf 2 und 4, wie es sich eigentlich gehört, wenn man schon mitklatscht, ich mag auch nicht singen müssen, nur weil das dargebotene Lied ein Riesenhit war, damals, in der goldenen Jugendzeit, und "Alice, Alice, who the fuck is Alice?" rufe ich schon gar nicht.
Von all diesen Kleinigkeiten aber mal abgesehen fand ich, dass da eine Truppe agierte, die mit viel Herz versuchte, Menschen zu unterhalten. Und solche Leute bewundere ich. Die Akteure ließen keinen Trick aus, sie fürchteten keinen Kalauer, aber es gab Momente in ihrer Show, die ans Herz gingen, etwa, als eine der Sängerinnen als Dusty Springfield auftrat. Sie hatte eine sehr warme, runde Stimme. Und noch etwas ist geblieben von dieser Show: bei einer Parodie auf Mick Jagger verstand ich plötzlich, wie meine Eltern sich gefühlt haben mussten, als sie Herrn Jagger damals im Fernsehen sahen. Ein Geck, dieser Herr Jagger, eine Witzfigur, aber wir sahen das damals anders.
Die Band spielte druckvoll und beherrschte die Genres. Die Show ging über drei Stunden. Ich habe mich nicht gelangweilt, ich musste lachen und hatte anschließend gute Laune. Bei meiner angeborenen Skepsis will das schon etwas heißen. Also sollten Sie Münster besuchen, die Show geht bis Ende der Woche.

 

13:34

Meister M. liest im Südpark.Man kann die Begeisterung förmlich mit der Hand greifen. Ja, ja, es gibt nichts Schöneres auf der Welt, als auf einer Bühne inmitten eines Parks, in dem gerade ein Unicef-Fest stattfindet, gegen das Herumtollen, das Luftballon-Steigenlassen, das Auf-Leitern-Klettern und Schminken anzulesen. Zum Glück gab es Gage.

21:27

Ein Trick, der immer funktioniert, wenn man nichts schreiben will, ist, auf die Inspiration zu warten. (2)

 

Mi 22.09.04   9:10

Wenn ich das Land, in dem ich seit 55 Jahren lebe, richtig verstehe, ist es eine parlamentarische Demokratie. Da wird es doch in der Lage sein, mit ein paar Rechtsnationalen umzugehen, ohne sich gleich in die Hosen zu scheißen, oder? Es sollte sich auch nicht entschuldigen. - Wofür? - Es sollte den Einzug der NPD in Länderparlamente als Teil der gesellschaftlichen Normalität betrachten. Alles andere liefe darauf hinaus, der Bundesrepublik einen Sonderstatus zuschreiben zu wollen. Seht her, was für eine fortschrittliche Demokratie wir geworden sind! Bei uns gibt es nicht einmal Rechte. - Nein, nein, Leute, bekämpft sie mit den Mitteln der parlamentarischen Demokratie und bleibt vor allem gelassen! Jedes Land braucht seine Idioten. Es ist doch gut, wenn man weiß, wo sie sich aufhalten. Guten Morgen.

11:15

Auch heute wird kein Roman geschrieben. Im Gegenteil. Ich lasse den Tag verstreichen wie viele andere vorher und versuche mich über die Einnahmen, die bereits erzielten und die noch zu erzielenden dieses und der nächsten Monate zu legitimieren. Prächtiges Motiv! Großartige Literatur, die nicht zu Papier gebracht wird.

 

Do 23.09.04   9:20

Auch heute wird nicht geschrieben. Heute lasse ich es regnen und grau sein und freue mich über unsere Katze, die alle Tugenden des entspannten Nichtstuns in sich vereint und mir zeigt, wie es aussähe, wäre ich auch nur annähernd so entspannt wie sie.

Aber nicht geschrieben bedeutet nicht, dass ich nicht meinem kleinlichen Drang nach Ruhm und Geltung nachgäbe, nein, natürlich nicht, denn unter meiner Fassade des Nichtstuns gärt und brodelt es, und so habe ich mich heute folgendem Plan verschrieben:

Um 13 Uhr Mitteleuropäischer Zeit treffe ich den Kulturamtsleiter meiner Heimatstadt, um ihm das Konzept für eine Aktion zu erklären. An ca. 50 ausgewählten Standorten der Stadt will ich Plakate mit Texten aufhängen, die sich auf eben diese Orte beziehen. Aufgezogen wird das Ganze wie die Plakatierung zu einer Wahl: Meine Straße, mein Viertel, meine Stadt. MSVS.
Die grafische Aufbereitung der Plakate wird ein Künstler übernehmen.
Parallel dazu wird eine Webseite online gestellt, auf der Fotos zu den Standorten zu sehen sind. Zu jedem Standort wird es einen MP3 File mit dem von mir gesprochenen Text geben.
Dem realen Rundgang (zu dem es einen Flyer geben wird) steht also auch ein virtueller zur Seite.
Schließlich könnte es auch den Roman, dem die Texte entstammen, zur Aktion geben.
Ob die Aktion die niederländische Grenze überschreitet (was ich sehr befürworten würde), muss noch besprochen werden.

Nun werden Sie vielleicht denken, mein lieber Mann, was macht er nun, jetzt traut er sich aber was, wieso hängt er sich so weit aus dem Fenster? - Keine Angst, liebe Leser eines nur mäßig bekannten Kinder- und Jugendbuchautors, dem seine Kollegen Schnurz sind und der auf die Kulturschickeria scheißt, alles halb so wild, denn falls diese Aktion zustande kommt, falls also im nächsten Frühjahr plötzlich überall in der Stadt an der Grenze Plakate hängen und die Bürger sich fragen, was denn MSVS bedeutet, falls es also dazu kommen sollte, stünde nichts weiter dahinter, als eine Kumpelei, denn der Kulturamtsleiter und ich wohnten um die Ecke und haben zusammen Fußball gespielt, Zigaretten geraucht und Dinge getan, die man tut, wenn man Kind ist und im gleichen Viertel aufwächst.

Woraus man sehen kann, was man alles tun könnte, wäre man etwa in Salem zur Schule gegangen, wäre von edlem Geblüt oder gehörte sonstigen einflussreichen Gesellschaftsschichten an. Da das nicht der Fall ist, da mein Vater und meine Mutter bedeutungslos waren, muss ich mich mit kleinen Kungeleien begnügen.
Aber immerhin, ich kungele mit!!!

 

Fr 24.09.04    16:58

Tri, tra, trullala, liebe Freunde der Literatur, Meister M. hat heute einhundertsechzig Realschülern aus seinen Romanen "Große Liebe Nr.1" (Kichern hinter vorgehaltener Hand) und "Abends am Meer" (Rote Köpfe, Kichern hintern hochgezogenen Rollkrägen) vorgelesen.
In der ersten Reihe saß ein charmantes Arschloch, die Sorte, die sich einschmeichelt und glaubt, kluge Sache fragen zu müssen. Wir hatten vor Jahren Nachbarn, die genau so einen Sohn hatten, seitdem erkenne ich seine Sorte auf 10 Kilometer.
Ich war also gerade an der Stelle, als man Steff einen "to the drunk boy" adressierten Brief bringt, als dieser Junge "ha, ha, ha, drunk boy, drunk boy!" rief und seinem Nachbarn einen Ellenbogen in die Seite rammte. Jetzt, dachte ich, und sagte, "na, du weißt doch sicher, was das heißt, oder?"
Wusste er nicht. Wurde rot und wusste es nicht.
Kleinliche Freude flutete mein System und alle anderen freuten sich mit mir.
Ein Glück, dass ich kein Lehrer bin, dachte ich, wie klug ich doch damals war, mich gegen diesen Beruf zu entscheiden, denn charmante Arschlöcher hätten bei mir keine Chance, ich ließe sie ohne jeden Gewissensbiss ins offene Messer laufen.
Im Übrigen war es, glaube ich, eine ganz gute Lesung, wenngleich natürlich niemand nichts vorbereitet hatte, aber wie sollte ein Lehrer so etwas auch vorbereiten können, die Lesung stand ja erst seit vier Monaten fest, davon waren sechs Wochen Sommerferien, ich finde, man darf auch nicht zu viel erwarten, nicht wahr, Herr Messing. Danke Herr Messing, das war eine schöne Lesung.

17:59

Oh großes, weitsichtiges Amerika, hast einen der harmlosesten Söhne Allahs, den ehemaligen Barden Cat Stevens, der Mitte der 70er zum Islam übertrat und seitdem als Yussuf Islam unterwegs ist, die Einreise verweigert. Hast scharf aufgepasst, hast gleich gedacht, aha, vielleicht will er mit seiner Gitarre sonstwas rammen, gut gemacht, Uncle Sam, wirst von Tag zu Tag besser, ich finde dich einfach riesig. Spitze! Ich kotze dich voll.

 

Sa 25.09.04   19:04

Heißa hoppsassa, Werktätige aller Länder, die ihr klaglos hinnehmt, was das Kapital euch vor die Füße wirft, statt diesen Verbrechern zu zeigen, wer die Macht hat. Aber dafür seid ihr wohl zu satt und zu sehr damit beschäftigt, eure Eigenheime und Zweitwagen abzuzahlen.
Hat euch denn nie jemand erklärt, dass Eigentum abhängig macht. Dass Verbindlichkeiten eure Bewegungsunfähigkeit bis zur Grenze der Katatonie steigert? - Nein?
Nun - hättet ihr besser aufpassen müssen. Schließlich wissen eigentlich alle, dass das letzte Hemd keine Taschen hat. Also, kein bisschen Mitleid habe ich mit euch. Und mit euch Ossis schon gar nicht.

PS: Meister M. verlor beim Frühstück auf natürliche Weise seinen vorletzten Zahn. Der letzte wird ihm Montag gezogen.

Hörbefehl: Morgen, Sonntag, den 26.09.04, gleich nach der Wahl um 14:00 Uhr in den Hot Jazz Club kommen. Dort lese ich aus "Das Vampir Programm."

 

So 26.09.04   12:06

Man könnte dem Schreiben für die
schwelenden Zeichen des Großen
entsagen, stattdessen ihr
idealer Leser sein, nachdenklich,
begierig, die Liebe zu Meisterwerken
mehr schätzen als den Versuch,
sie nachzuahmen, gar zu überflügeln,
und der größte Leser zu sein auf der Welt. (3)

17:01

Hot Jazz Club

Zahlende Zuschauer: sechs. Davon Kinder: zwei. Verkaufte Bücher: vier.

 

 

Mo 27.09.04   9:45

Die, die noch wüssten, wie es war als ich den ersten Zahn bekam, sind tot. Wurde gejubelt? Wer weiß. Wahrscheinlich sagte man Dinge wie: Guck, das Hermännchen wird groß. Oder: Das ist aber schnell gegangen. Seitdem sind über fünfzig Jahre vergangen.
Nun ist mein letzter Zahn futsch. Fest steht, dass niemand jubelt. Niemand ist stolz, am allerwenigsten ich. Mein linker Augenzahn war's, der vor einer Viertelstunde dran glauben musste, es riss ein wenig, ich hatte diese beglückende Gefühl, als er dann endlich draußen war und jetzt die Sensation eines gefühlten riesigen Loches im Oberkiefer.
Grüß dich also, liebes Greisenalter.
Wenn alles liefe wie vorgesehen, müsste unsereins längst tot sein, aber da wir in den letzten Jahrhunderten ordentlich zugelegt haben, täglich einen neuen Kniff ausbaldowern, um genetischen Konstrukten Schnippchen zu schlagen, könnte es auch bei mir noch was dauern, womit nicht gesagt ist, dass mein Schicksal nicht wie das Schicksal aller in Gottes Hand läge, also spare ich mir jede Vorausschau, freue mich, dass es nur ein Zahn war und schlage vor, mit mir anzustoßen.
Prost!

 

Di 28.09.04 13:19

Der Zahnlos-Schock war stärker als erwartet. Lag duhn bis eben, jetzt langsam erwachen die Geister. Oder wars nur die Aufregung über eine den Himmel kreuzende Idee, die ich in allen Facetten zwischen Träumen und Wachen ausgearbeitet, beim Aufstehen aber gänzlich vergessen hatte?

 

Mi 29.09.04   10:15

"Es hat schon Fälle gegeben", erzählte mein Zahnarzt, "das glauben Sie gar nicht, da sind Leute nicht mehr aus dem Haus gegangen." Aus dem Haus bin ich gestern auch nicht gegangen, sogar die Jazz-Session im Hot Jazz Club habe ich geschwänzt, was schon etwas heißen will, aber heute scheint die Krise vorüber. Aus dem Haus werde ich wegen des Regens zwar vorerst auch nicht gehen, aber als ich so im Behandlungsstuhl lag und das leuchtende Blau der Silikon-Paste betrachtete, mit der die Urform meiner Prothese gerade bestrichen wurde, begann ich vom Meer zu träumen, das zwar in Form der Nordsee selten blau, sondern eher bleiern da liegt, aber dennoch als Ort für meine Sehnsüchte taugt. Und so ließ ich Silikon Silikon sein, vollführte die vom Zahnarzt empfohlenen heftigen Kieferbewegungen, konzentrierte mich darauf, dass möglichst nichts dieser übel schmeckenden Paste den Weg in meine Speiseröhre fand und bereitete mich vor. Sah schon den langen Deich und am Ende den Fährhafen. Hörte schon das Rufen der Wattvögel und spürte den Wind auf der Haut. In etwas mehr als zwei Wochen werden wir wieder auf unsere Insel fahren, uns in unserer kleinen Wohnung im uralten Haus am Dorfrand einnisten, werden Fahrräder mieten und Fritten essen, werden am einsamen Strand Wanderungen unternehmen, werden so tun, als gehörten wir dorthin, seien Teil dieses Dorfes, in das wir nun schon seit über zwanzig Jahren fahren, und so Gott will auch noch zwanzig weitere Jahre. Am Bornrif will ich verstreut werden, will im Wind noch für Momente überm von Wellen geriffelten Sand schweben und dann auf alle Zeit fort sein. Bis dahin werde ich alles dafür tun, dass ich zumindest einmal im Jahr dort sein kann.

15:22

Sollten Kollegen im Netz sein (was ich bezweifle), die ihre Nasen hier hereinstecken, um abzustauben, sich das Maul zu zerreißen oder sich besser zu fühlen, sei ihnen ein Buch ans Herz gelegt, aus dem ich in diesem Monat schon einmal zitiert habe: "Bartleby & Co. von Enrique Vila-Matas.
Es geht darin um die Versuche verschiedener bedeutender und weniger bedeutender Kollegen, das Schreiben aufzugeben. Die meisten haben zu wenig Mum für so einen Schritt. Siehe: Mensing. Diejenigen (siehe Mensing), die immer noch schreiben, sollten sich jedoch hüten.
Sehr schnell nämlich finden sie all das, was sie bisher übers Schreiben/Nichtschreiben gedacht und geschrieben haben (oft in dem Bewusstsein, sie seien unter Umständen die ersten, die es so und nicht anders formuliert hätten) in diesem Buch wieder.
Es reicht für mehrere Suizide.
Deshalb also dies als Warnung für labile Charaktere.
Die anderen (siehe Mensing), die Unbelehrbaren (siehe Mensing) und die Naiven (siehe: Mensing) sollen es lesen und sich freuen, dass sie nicht die Einzigen sind, die sich mit derart luxuriösen Problemen herumschlagen, sollen es weglegen und dann versuchen, mit einer grandiosen Lügengeschichte den Weltmarkt zu erobern, sich Lizenzen und Rechte sichern, sollen das Erstunken- und Erlogene in eine unauffällige Tüte stopfen und schleunigst Reißaus nehmen, es sei denn, sie wären treue Staatsbürger und hätten ein Interesse daran, dem bankrotten Gemeinwesen Geld zukommen zu lassen, um (sagen wir) endlich Programme in die Wege zu leiten, mit denen man jungen Neonazis den Weg in die Demokratie weist.
Natürlich wäre all das schöne Geld auch für Anderes geeignet, aber was ein rechter Schriftsteller ist, der sollte doch Wege finden, es schleunigst auszugeben. Mensing (den Sie ja nun bereits kennengelernt haben und bei dem Sie regelmäßig abkupfern) - Mensing etwa würde sich, käme es zu besagtem Welterfolg, sofort und auf der Stelle einen grünen Jaguar zulegen, den er möglichst nicht pflegte und mit ordinären Stickern beklebte, um ihn bis ans Ende seiner Tage zu fahren. Amen.

 

Do 30.09.04   12:42

Besinnlicher Traum zum Herbst

Ich hätte wohl den Arsch rechtzeitig zugekniffen,
hätt' vorher grad noch La Paloma aus dem letzten Loch gepfiffen,
ich hätt' auch Zeit gehabt, die Flügel anzuschnallen,
um beim rasanten Himmelfahrn' nicht auf den Bauch zu knallen.

Ich hätte nach der Ankunft gleich ein Bier gezischt,
die Engel (junge) hätten mir zu Essen aufgetischt,
danach hätt's eine Vögelei gegeben,
und später eine Runde "es sei dir vergeben."

Ich hätt' gefragt, ob's hier wie bei den Moslems wäre, (Anmerkung: 77 Jungfrauen mindestens)
oder ob auch hier oben etwa diese bleiern schwere
düstere Not auf allem laste wie dereinst auf Erden,
und hätte prophylaktisch schon mit viel Beschwerden

die himmlisch hehren Heerscharen gegen mich aufgebracht,
die hätten mich empört zurück gebracht,
und so wär's dann gekommen dass ich froh erwachte,
und meinen Arsch zu neuen Taten brachte.


 

 

 

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1. Jan Koneffke "Paul Schatz im Uhrenkasten" Roman, Büchergilde Gutenberg, Frankfurt 2000 //
2. Enrique Vila-Matas "Bartleby & Co. Roman, Nagel & Kimche, Zürich 2001 // 3. Derek Walcott //

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